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Mittwoch, 26. Januar 2022

Ratzinger-Gate - Ground Zero der Bischöfe

Wie ausgerechnet die „Aufarbeitung“ des sexuellen Missbrauchs das letzte Vertrauen der Gläubigen aufbraucht – und in der ältesten Institution des Abendlands selbstzerstörerische Dynamiken entfacht.

 

"Du sollst nicht lügen! Das gilt auch für den Papst!" titelte die BILD-Zeitung in allen Zeitungskiosken der Republik. Damit stahl Europas größte Zeitung der ARD die Show. Die hatte nämlich in Zusammenarbeit mit dem innerkirchlichen Establishment am Vorabend eine „Outing“-Kampagne homosexueller kirchlicher Mitarbeiter – Priester und Ordensleute inklusive – vorantreiben wollen. Auf der eigenen Webseite steht über den Film zum Projekt: „Ein ARD-weites multimediales Projekt mit dem Potential, die Katholische Kirche in Deutschland in eine weitere Glaubenskrise zu stürzen“. Doch das schöne Projekt, dass die einzigartige Symbiose zwischen Staat und Kirche in Deutschland auf bezeichnende Weise zeigt, geriet in den Hintergrund. Grund: der Skandal um die dem emeritierten Papst zugeschriebene Falschaussage zu einem Missbrauchsgutachten.

Dass das Gutachten in einer heute kaum bekannten Klarheit die Problematik homosexueller Seilschaften im Klerus hervorhebt, ist angesichts solcher Aktionen aus innerkirchlichen und öffentlich-rechtlichen Kreisen pikant. Auszüge? Es entstehe der Eindruck „eng geknüpfter Netzwerke“ unter homosexuellen Priestern und Seelsorgern. Eine „wünschenswerte Kultur der Aufrichtigkeit“ sei „massiv verhindert“, praktizierte Homosexualität entgegen eindeutigem Postulat „hingenommen“ worden. Die Homo-Netzwerke und ihre innere Mechanik müssten als „wesentliche Mitursache“ der „Vertuschungstendenzen“ im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche einbezogen werden. Muster, die aus dem Missbrauchsskandal in den USA bekannt sind. Mit diesen homosexuellen Seilschaften im Klerus, die zur Münchener Vertuschungswirtschaft führten, hatte der Erzbischof Joseph Ratzinger herzlich wenig zu tun – andere dafür umso mehr.

Dennoch hat die BILD-Zeitung mit dem Blick auf das Glaubwürdigkeitsproblem der katholischen Kirche den Finger in die Wunde gelegt. Was also wird dem deutschen Papst vorgeworfen? Joseph Ratzinger wurde 1977 Erzbischof von München und Freising – seinem Heimatbistum. Sehr zum Missfallen nicht weniger. Dort erbte er gemäß Gutachten von seinem Vorgänger Kardinal Julius Döpfner ein miserabel geführtes Bistum. Ganz den „Geistern“ des von ihm entscheidend mitgeprägten II. Vatikanischen Konzils und der Würzburger Reform-Synode der westdeutschen Bistümer folgend, hatte Döpfner das Priesterseminar de facto abgeschafft. Aus allerhand Gründen gewährte er heimatlos gewordenen Priestern aus ebenso allerhand Bistümern in seinem Erzbistum eine neue Heimat. Strafverfahren gegen klerikale Übeltäter gab es keine – das alte in Geltung befindliche Kirchenrecht von 1917 galt als obsolet („vorkonziliar“), der neue Kodex sollte erst 1983, als Ratzinger längst in Rom war, in Kraft treten.

Der stille und versierte, aber konservative Theologieprofessor Ratzinger, bar jeden administrativen Geschicks, erbte also ein desolat geführtes und wohl gleichermaßen durchtriebenes wie eigensinnig besetztes Ordinariat – die bischöfliche Verwaltung.

Die momentane Erregungswelle entzündet sich an einem Fall, an dem nicht nur eine Verkettung von „Pflichtverletzungen“ hängt, sondern möglicherweise ein nur noch als kriminell zu bezeichnendes Handeln kirchlicher Bürokraten. Es geht um Priester H. Er wurde in der Diözese Essen durch einen schweren Missbrauch auffällig und dann zur Therapie nach München geschickt. Das Bistum sorgte sich um ihn – er sollte von der dortigen Diözese untergebracht werden. Nach der Abstimmung auf unteren Ebenen wurde bei der Ordinariatskonferenz am 15. Januar 1980 die Personalie „behandelt“. Der Generalvikar – der Statthalter des Bischofs – brachte ihn später in einem Seelsorgeeinsatz unter.

Doch auch dort wurde der Priester H. mehrfach auffällig. Als Ratzinger längst in Rom Präfekt der Glaubenskongregation war, erfolgte 1986 eine Verurteilung zu einer hohen Bewährungsstrafe. Konsequenzen zog das Bistum nicht, Opferfürsorge spielte ebenso wenig eine Rolle. Mit H. ließ man einen Intensivtäter einfach weitermachen, obwohl man mittlerweile in Kenntnis der Vorwürfe war.  

Der Angriff auf Benedikt XVI. kapriziert sich auf seine Anwesenheit an der besagten Ordinariatskonferenz im Januar 1980. In einer dem von der Erzdiözese in Auftrag gegebenen Aufklärungsgutachten beigefügten Einlassung verneinte er seine Teilnahme an der Sitzung. Dem gegenüber führen die Rechtsanwälte der Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl (WSW) an, dass das Protokoll ganz anderes zu berichten weiß – inklusive Redebeiträge zum damals virulenten Fall Küng. Küng hatte im Dezember 1979 seine kirchliche Lehrerlaubnis von der Deutschen Bischofskonferenz wegen seiner Kritik an der päpstlichen Unfehlbarkeit entzogen bekommen.

Inwieweit die Personalie H. überhaupt in der Konferenz thematisiert worden ist, ist nicht zu rekonstruieren – und auch nicht, in welcher Form von den „Schwierigkeiten“ mit dem Essener „Mitbruder“ berichtet wurde. Ratzinger bestreitet, irgendetwas über die Hintergründe des Essener Priesters gewusst zu haben. Heute macht man ihm daher zum Vorwurf, nicht nachgefragt zu haben. Die Gutachter können einen Beweis nicht vorbringen. Sie gehen davon aus, dass ein Mitwissen Ratzingers „wahrscheinlich“ ist.

Wie kam es zu der verhängnisvollen „Falschaussage“ Ratzingers? Seit seinem Rücktritt 2013 lebt Benedikt XVI. zurückgezogen in einem ehemaligen Kloster hinter den vatikanischen Mauern und wird unter anderem von seinem Privatsekretär, dem badischen Erzbischof Georg Gänswein, seines Zeichens Doktor des Kirchenrechts, betreut. Dieser gab nun zu Protokoll, dass es einen „Fehler bei der redaktionellen Bearbeitung“ der 82-seitigen Stellungnahme zu Fragen der Münchner Anwälte gegeben habe. Dabei soll laut den Ratzinger zugeschriebenen Einlassungen das Langzeitgedächtnis funktionieren, sodass er sich auch „an lange zurückliegende Sachverhalte“ gut erinnere.

Doch tun sich noch weitere Ungereimtheiten auf. So wurde mit Erstaunen wahrgenommen, dass sich Benedikt XVI. in der ihm zugeschriebenen Einlassung „nur auf juristische, aussagerechtliche und kirchenrechtliche Aspekte beschränkt“. So etwa die Beobachtung des Kinderschutz-Experten Hans Zollner (SJ). Ratzingers Sprachduktus ist meilenweit vom schnippischen Juristenjargon entfernt. Die Ausrede, der „Zeitgeist“ sei schuld, erscheint angesichts seiner scharfen Verurteilung des Relativismus fernliegend. Benedikt XVI. hat sich nämlich zum Thema Missbrauch in zahlreichen Wortmeldungen anders geäußert – vor allem in seinem bewegenden Hirtenbrief an die Kirche Irlands 2010. Als Präfekt der Glaubenskongregation griff er bereits 2001 durch und zentralisierte die Verfahren in seinem Haus.

Die Bischöfe waren fortan dazu verpflichtet, alles nach Rom zu melden. Das hatte zur Folge, dass Hunderte Priester – und selbst Bischöfe – ihr Amt verloren. Man vergleiche zu dieser steilen Lernkurve Ratzingers und seinem Engagement das gutachterliche Votum über seinen Nachnachfolger und angeblichem „Oberaufklärer“ seit 2010, Kardinal Reinhard Marx. Dem wird das Unterlassen von Meldungen nach Rom vorgeworfen: Es sei ungeachtet einer Vielzahl von Meldungen nur in „verhältnismäßig geringer Zahl“ festzustellen, dass sich der Kardinal überhaupt unmittelbar mit Missbrauchsfällen befasst habe. Marx blieb der Pressekonferenz zur Vorstellung des Gutachtens im Übrigen fern. Stattdessen bekam vor allem der 94-jährige Greis im Vatikan sein Fett weg.

Spekulationen schießen bereits seit geraumer Zeit ins Kraut, die auch damit zu tun haben, dass das Erzbistum München nicht die erste deutsche Diözese ist, die sich an ein Missbrauchsgutachten macht, um Fälle sexueller Gewalt und ihrer mutmaßlichen Vertuschung aufzuklären. Im Vorfeld hatte dieselbe Kanzlei auch für das Erzbistum Köln ein Gutachten erstellt, das dann aus „äußerungsrechtlichen Gründen“, auf die sich der dortige Erzbischof – Kardinal Rainer Woelki – berief, nicht veröffentlicht wurde. Ein Heer von Anwälten diverser bekannter Kanzleien waren über Monate involviert. Jedenfalls blieb das Gutachten im Tresor – und ein neues musste her.

Wie zuvor das Bistum Aachen, hat München jedoch am Auftrag an die Kanzlei WSW festgehalten. Nach Recherchen der BILD-Zeitung wehrte sich bis zuletzt eine „kirchliche Vertuscher-Lobby“ und wollte die Veröffentlichung verhindern. Es wird berichtet, dass an der Einlassung mit der verhängnisvollen Falschaussage Benedikts XVI. auch Juristen mitarbeiteten, die zuvor für das Erzbistum Köln tätig waren.

Auffällig ist, dass sich im Umfeld der Kölner Gutachten-„Wirren“ Passagen mit ähnlichen rechtlichen Argumentationsmustern wie in der Benedikt-Einlassung finden. So etwa, dass die Masturbation eines Täters und das Vorführen von Pornografie vor Mädchen lediglich Exhibitionismus sei – aber kein sexueller Missbrauch. Dergleichen abstruse Argumentationsversuche, die auch dem alten Kirchenrecht – und erst recht der davor geübten Rechtspraxis – widersprechen, würden das entschlossene Werk Benedikt XVI. bei der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs weitgehend zunichtemachen.

In Köln führten solche Darlegungen zu „Fehlern in der Kommunikation“ – und in der Folge zu einer durch Papst Franziskus verordneten „Auszeit“ für den Erzbischof Woelki. Denn die aus dem Ruder gelaufene Situation am Rhein war auch in bedeutenden Teilen darauf zurückzuführen, dass man beispielsweise die „gemeinsame Masturbation“ eines Pfarrers mit einem 16-jährigen obdachlosen Jungen mit juristischen Winkelzügen zu exkulpieren suchte. Das Entsetzen der Gläubigen und der Öffentlichkeit war beispiellos und die moralische Autorität der Bistumsleitung zerstört. Durch den Rückzug auf rein formalrechtliche Fragestellung und die Ausklammerung moralischer Kategorien verdrehten Juristen den religiösen und moralischen Anspruch, den das kirchliche Amt an sich selbst stellt.

Der Hype um „Ratzinger-Gate“ wird zusätzlich dadurch angeheizt, dass die katholische Kirche in Deutschland derzeit einen umstrittenen Reformprozess veranstaltet – und die Anhänger Benedikts zu den erbittertsten Gegnern der Agenda gehören. Der sogenannte „Synodale Weg“, der von der Bischofskonferenz und dem weitgehend aus Multifunktionären aus Politik, Gesellschaft und Kirchenapparat bestehendem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) bestritten wird, möchte ausgehend von der Missbrauchskrise eine umfassende Reformagenda formulieren. Er wird von konservativen Katholiken als Revolution gebrandmarkt und sorgt weltkirchlich für Verunsicherung.

Bisherige Bemühungen der römischen Zentrale und einzelner Bischöfe, den deutschen „Synodalen Weg“ in der Spur zu halten und an die Forderungen von Papst Franziskus anzupassen, der seinerseits ein weltweites Hearing im Vorfeld zu einer Weltbischofssynode 2023 angesetzt hat, scheinen angesichts der „woken“ Agenda der Mehrheit des „Synodalen Wegs“ - Segnung homosexueller Paare, Outing-Events und ähnliche Eskapaden, die mit der trotz Austrittswellen immer noch ausreichend sprudelnden Kirchensteuer ausgerichtet werden - immer mehr zum Scheitern verurteilt.

Während der kirchensteuerfinanzierte Apparat sich noch an derartigen Events erfreuen mag, erodiert nicht zuletzt durch die Corona-Maßnahmen das Leben der Pfarrgemeinden: Der Gottesdienstbesuch ist eingebrochen, die Kirchenaustritte explodieren aufgrund des Untertauchens des Klerus in der Pandemie oder der fast verunmöglichten Kinder- und Jugendarbeit bis hin zum Ausbleiben der Katechese zu Erstkommunion und Firmung. Vom desolaten Zustand der Priesterausbildung, den wenigen Berufungen und dem Wegbrechen des Ordenslebens einmal ganz abgesehen.

Insofern urteilt die BILD-Zeitung wohl richtig, wenn sie konstatiert, dass sich die katholische Kirche in Deutschland „mit immer größeren Schritten dem totalen Zusammenbruch“ nähere. Der kirchliche Apparat sei beim Schutz der Kinder und der Verfolgung von „Missbrauchspriestern“ gescheitert. „Bischöfliche Reptilienfonds sind zu den Kriegskassen der kirchlichen Machthaber verkommen“, so das Boulevardblatt weiter. Weder Verbände noch Bischöfe hätten die Kraft für eine Rückbesinnung auf den Kern des Christentums.

Man fühlt sich erinnert an die „Freiburger Rede“ bei dem Deutschlandbesuch Papst Benedikts XVI., die er kurz vor dem Heimflug nach Rom gehalten hatte. Eine Philippika gegen das kirchliche Establishment in Deutschland, das sich nie mit dem Papst aus ihren Landen abgefunden hat. Unter dem Leitbegriff der „Entweltlichung“ forderte der Papst eine „von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche“, damit sie „sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein kann. Sie kann ihre Berufung zum Dienst der Anbetung Gottes und zum Dienst des Nächsten wieder unbefangener leben.“

Er stieß auf taube Ohren. Die weitere Abnutzung von Glauben und Institution nahm ihren Lauf – und führt jetzt dazu, dass BILD lapidar feststellen kann: „Gerungen wird nur noch um die leere Hülle der noch immer finanzkräftig und politisch gut verdrahteten Organisation.“

Clemens Damiani ist katholischer Theologe.

 

 

Hier eine Verteidigungsschrift eines atheistischen Evolutionsbiologen  

Man spürt die Absicht und ist verstimmt

Kardinal Müller hält zu ihm

Wie immer informiert die Tagespost umfassend und gewissenhaft mit vielen Artikeln zu diesem Thema

Maximilian Heim steht unerschütterlich zu ihm

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