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Sonntag, 16. Januar 2022

Endlich mal wieder ein interessantes Gespräch

 

Putins Erpressung stellt den Westen vor ein Dilemma
Die Absicht, auf Kosten der Ukraine einen Krieg zu verhindern, lässt sich mit ihrem Recht auf nationale Selbstbestimmung nicht vereinbaren.
Falls Vladimir Putin es wagen sollte, die Ukraine zu überfallen, wird das niemanden überraschen. Die russische Truppenkonzentration begann vor aller Augen schon im Frühjahr 2021, sie legte im Sommer eine Pause ein, setzte sich im November fort und brachte bisher mehr als 100.000 Soldaten an die nördliche, östliche und südliche Grenze zur Ukraine. Man sollte meinen, dass der Westen – gemeint sind die USA, denn außen- und sicherheitspolitisch spielt die EU keine Rolle – lange genug die Gelegenheit gehabt hätte, sich darauf vorzubereiten. Aber danach sieht es nicht aus. Die Zeiten, in denen die USA noch den Weltpolizisten spielen konnten, sind unwiederbringlich vorbei. Die rasant aufsteigende chinesische Supermacht absorbiert längst ihre Kräfte, sodaß andere Krisenregionen, und dazu gehört auch Osteuropa, in den Hintergrund rücken. Putin hat den Zeitpunkt gut gewählt. Biden muss er nicht fürchten. Macron und das Gespann Scholz-Baerbock muss er nicht einmal ernst nehmen.
Was Russland betrifft, gibt es in Amerika zwei Denkschulen. Die neo-konservative Schule geht davon aus, dass Putin mit allen Mitteln die russische Hegemonie über Osteuropa wiederherstellen will. Daher plädiert sie für Abschreckung und Drohung, für die Solidarität mit den osteuropäischen Nato-Partnern und für die Bewaffnung der Ukraine. Jedes Land in der ehemals sowjetischen Hemisphäre, auch jede frühere Sowjetrepublik, habe das Recht, frei zu entscheiden, welchem Bündnis es sich anschließen wolle.
Die neo-realistische Schule hingegen spricht Russland das Recht auf eine breite Pufferzone zu, was sie einerseits mit der Physik der Macht begründet, andererseits mit der russischen Geschichte. Der Nato-Erweiterung, die schon George F. Kennan einen „verhängnisvollen Fehler“ nannte, geben die Neo-Realisten die Hauptschuld am neuen kalten Krieg. Das Gefühl der Sicherheit, das die kommunistischen Länder Ost- und Mitteleuropas dem sowjetischen Regime vermitteln konnten, sei der Angst vor einer Einkreisung gewichen. Die Neo-Realisten sind gegen die Bewaffnung der Ukraine und gegen Sicherheitsgarantien. Die ehemaligen Sowjetrepubliken hätten nicht das Recht, sich westlichen Bündnissen anzuschließen. Putins Anmaßung, auch Finnland und Schweden den Nato-Beitritt verbieten zu wollen, geht allerdings auch ihnen zu weit.
Beide Seiten haben starke Argumente. Wie weit darf man einem Aggressor entgegenkommen, um einen Krieg zu verhindern, der Europa ins Chaos stürzen würde und dem Hunderttausende zum Opfer fallen würden? Eine einfache Antwort gibt es nicht.
Die Neo-Konservativen verweisen darauf, dass Putin nicht einen Angriff fürchten muss, sondern die Attraktivität der friedlichen und prosperierenden Nachbarländer Russlands, denn sie trägt dazu bei, die eigene Bevölkerung gegen sein Regime aufzubringen.
Die Neo-Realisten wenden ein, dass es nicht nur um faktische Bedrohungen geht, sondern auch um Ängste, die in der historischen Erfahrung der Russen wurzeln. Es sei sehr einfach, ein Volk für einen Krieg zu gewinnen, sagte Hermann Göring in seiner Nürnberger Gefängniszelle dem Gerichtspsychologen Gustave M. Gilbert. Es genüge, ihm zu „sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land."
Einer Studie der Rand Corporation von 2016 zufolge wäre die Nato nicht einmal in der Lage, die baltischen Staaten vor einer russischen Invasion zu schützen, obwohl Nato-Truppen auf ihrem Territorium stationiert sind. Vielleicht wäre es 2008, als die Zukunft der Osterweiterung auf dem Nato-Gipfel in Bukarest beraten wurde, noch möglich gewesen, Georgien und die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen. Diese Chance wurde vertan. Unter den neuen Bedingungen kann davon keine Rede mehr sein.   Karl-Peter Schwarz in "Die Presse" am 19. 1. 2022

Hierzu auch Weißgerber

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