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Mittwoch, 4. Mai 2022

Selenskyj

Als der damals 41-jährige Wolodimir Selenski im April 2019 das Präsidentenamt in der Ukraine errang, nahm die westliche Öffentlichkeit nur vorübergehend Notiz. Die Tatsache, dass ein Komiker die Wahl gewann, sorgte für Stirnrunzeln und Belustigung, aber das Land verschwand bald aus den Schlagzeilen. In westlichen Hauptstädten hätte man lieber mit dem bisherigen Präsidenten Petro Poroschenko weitergearbeitet. Dieser galt als verlässliche Grösse. So gern der Westen über Demokratieförderung in Reformländern spricht - wenn der Volkswille dann einen unerfahrenen Populisten an die Macht bringt, wird leer geschluckt.

So blieb es um den vom Ausland skeptisch beurteilten Selenski monatelang ruhig, bis er überraschend wieder im Rampenlicht stand - diesmal als tragische Figur. Die Ukraine-Affäre des damaligen amerikanischen Präsidenten Donald Trump warf ein Schlaglicht darauf, in welche Klemme Selenski gleich zu Beginn seiner Amtszeit geraten war.
Trump erpresste ihn, indem er ein Gipfeltreffen hinauszögerte und Amerikas Militärhilfe an die Ukraine blockierte. Damit wollte er Kiew dazu bewegen, Ermittlungen zum Schaden seines demokratischen Rivalen Joe Biden einzuleiten. Obwohl die Aufdeckung des Skandals die Pläne Trumps durchkreuzte und ihm ein Impeachment-Verfahren einbrachte, war für Selenski der Schaden angerichtet: Die Ukraine war fortan für beide Parteien in Washington ein Thema, das man am besten mied.
Heute stellt sich die Lage völlig verändert dar. Ausländische Spitzenpolitiker reissen sich geradezu darum, mit Selenski vor die Kameras zu treten - aus Solidarität mit der Ukraine, wie sie sagen, aber wohl ebenso in der Absicht, etwas vom magischen Glanz dieses Staatsführers abzubekommen. Die westliche Welt hat in diesem Kriegspräsidenten einen neuen Helden gefunden. Der kleingewachsene Mann im olivgrünen Tenue und mit dem Stoppelbart, der täglich üppiger spriesst, gibt dem Widerstandsgeist der Ukraine ein konkretes Gesicht. Längst wird Selenski mit einem der Grossen der Geschichte verglichen, dem Briten Winston Churchill.
Diese Bewunderung ist nicht unverdient. Denn bei allen Fehlern, die man Selenski im Laufe seiner Amtszeit vorwerfen konnte, hat er seine Rolle als Oberhaupt eines existenziell bedrohten Staates nahezu perfekt gespielt. Wenn er sich an die Bevölkerung richtet, trifft er den richtigen Ton. Er kann die Trauer in Worte fassen, ohne in Verzweiflung zu fallen; er versteht es, Zuversicht über den kommenden Sieg zu verbreiten, ohne in leeres Pathos abzugleiten. Sein sonorer Bass drückt grimmige Entschlossenheit aus.

Es ist eine Grundhaltung, die sich mit der Stimmung in der breiten Bevölkerung deckt. 91 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer heissen Selenskis Amtsführung gut, wenn man einer kurz nach Kriegsausbruch durchgeführten Meinungsumfrage glauben will - das sind fast dreimal so viele wie im vergangenen Dezember.
Selenskis Erfolg an der Informationsfront erstaunt nicht, wenn man seinen beruflichen Hintergrund bedenkt. Er war nicht nur Schauspieler, sondern leitete jahrelang auch eine Produktionsfirma, das Studio Kwartal 95. Freunde und Kollegen aus diesem Umfeld besetzen heute Schlüsselposition in seiner Regierung. Der Leiter des Präsidialamts Andri Jermak war einst selber Filmproduzent. Der Chefberater Serhi Schefir kommt ebenso aus dem Klüngel um Kwartal 95 wie der mächtige Geheimdienstchef Iwan Bakanow. Die Präsidialverwaltung ist durchsetzt mit ehemaligen Werbern und Drehbuchautoren. Wenn sie eines können, so ist es dies: die effektvolle Inszenierung eines Kriegspräsidenten.
Jüngst zeigte sich dies beim orthodoxen Osterfest am 24. April, als sich Selenski von der Sophienkathedrale aus, einem Gebäude voller geschichtlicher Symbolik, an die Bevölkerung wandte. Wie in einem Kinofilm zeigten die Kameras den Präsidenten in Zeitlupe, wie er durch die lichtdurchfluteten Kirchenschiffe schritt. Er stellte sich damit in eine historische Linie mit dem Kiewer Grossfürsten Jaroslaw dem Weisen, der die Kathedrale vor tausend Jahren errichtet hatte, nachdem er selber einen gefürchteten Feind aus dem Osten zurückgeschlagen hatte, das Reitervolk der Petschenegen.
Vor der Ikonenwand hielt Selenski eine emotionale Rede, eine Mischung aus Appell und christlichem Gebet. Der Kontrast von Licht und Schatten im Gotteshaus fand seine Entsprechung in Selenskis Worten: Dieser erinnerte an den österlichen Sieg über den Tod und pries die ukrainischen Verteidiger als Kämpfer des Lichtes gegen die Kräfte des Bösen.
Seit Anfang März hat Selenski in dreissig Ansprachen an ausländische Parlamente und internationale Organisationen um Unterstützung für sein Land geworben. Dies dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, Waffen und Geld zusammenzutrommeln sowie die Sanktionsfront gegen Russland zu stärken.

Selenskis Wirkung ist nicht nur das Resultat professioneller Schauspielkunst. Seine Glaubwürdigkeit beruht auch darauf, dass er Kiew während des Krieges nie verlassen hat, obwohl ihm die USA dies nach der Invasion nahegelegt hatten. Er soll dies mit dem Ausspruch «Ich brauche Munition, nicht eine Fahrgelegenheit» abgelehnt haben.
Allerdings bestand auch zu keiner Zeit eine Dringlichkeit, die Hauptstadt fluchtartig zu verlassen. Die Russen konnten Kiew nie vollständig umzingeln, und in den Luftraum darüber wagten sich ihre Kampfflugzeuge nicht. Das Risiko seitens russischer Raketenangriffe ist ebenfalls begrenzt, da Selenskis Amtssitz, ein zur Sowjetzeit errichtetes früheres militärisches Hauptquartier, robust gebaut ist und über einen atomsicheren Bunker verfügt.
Eine überstürzte Verlegung der Regierung nach Westen wäre auch politisch ein schwerer Fehler gewesen. Nüchtern betrachtet, war es wohl weniger der Präsident, der den nationalen Widerstandsgeist anstachelte, als umgekehrt: Der in der Bevölkerung verwurzelte Verteidigungswille und die Abwehrerfolge der ukrainischen Streitkräfte ermöglichten es Selenski, die Rolle des unbeugsamen Staatsführers zu spielen.
Selenskis Leistung bleibt auch ohne künstliche Heroisierung bedeutsam. Dem Präsidenten ist es gelungen, diverse Schlüsselpositionen rechtzeitig mit fähigen Leuten zu besetzen. Sowohl der Oberkommandierende, Waleri Saluschni, als auch Verteidigungsminister Olexi Resnikow und der Chefdiplomat Dmitro Kuleba überzeugen bis jetzt auf ihren Posten. Keiner der drei gehört zum ursprünglichen personellen Netzwerk desPräsidenten.

Zu Beginn seiner Amtszeit hatte Selenskis Personalpolitik jedoch starke Kritik hervorgerufen. Nicht nur die Vergabe wichtiger Posten an Weggefährten aus seiner Schauspielerzeit sorgte für Unmut. Alarmierend war auch, dass er offensichtlich die Wünsche mancher Wirtschaftsmagnaten zu berücksichtigen hatte. So konnte der berüchtigte Oligarch Ihor Kolomoiski 2019 seinen persönlichen Anwalt als Chef der Präsidialverwaltung durchsetzen. Zuvor hatte Kolomoiski mit seinem Fernsehkanal 1+1 Selenskis Schauspielerkarriere entscheidend gefördert und dann dessen Präsidentschaftskampagne finanziert.
Das Kalkül des 2017 ins Ausland geflüchteten Kolomoiski ging insofern auf, als er nach Selenskis Wahlsieg triumphal in die Ukraine zurückkehren konnte. Er musste fortan nicht mehr befürchten, wegen der Abzweigung von mehreren Milliarden Dollar in einem gigantischen Bankenskandal belangt zu werden.
Auch der Oligarch Rinat Achmetow, der reichste Mann des Landes, liess seine Beziehungen spielen. Anders ist nicht erklärbar, weshalb Selenski mit Denis Schmihal jemanden zum Ministerpräsidenten ernannte, der ein halbes Jahr vorher noch ein landesweit unbekannter Manager eines Kohlekraftwerks im Firmenimperium Achmetows gewesen war. Hinzu kamen weitere umstrittene Personalentscheidungen des Präsidenten. Die von ihm eingesetzte Generalstaatsanwältin Irina Wenediktowa hat wiederholt im Interesse Selenskis Ermittlungen blockiert oder angestrengt.
Anders als Selenski in seinem populistischen Wahlkampf versprochen hatte, räumte er mit dem politischen Klientelsystem der Ukraine nicht auf. Er begann sich darin vielmehr einzurichten. Dass ein neuer Präsident die tief verwurzelten Traditionen von Korruption, oligarchischem Einfluss und Klüngelwirtschaft einfach überwinden könnte, war ohnehin keine realistische Erwartung.
Noch in einem weiteren Punkt war Selenski mit naiven Vorstellungen in sein Amt gestartet: Er hatte gelobt, den Krieg im ostukrainischen Donbass zu beenden. Das war nach Einschätzung des Politologen Wolodimir Fesenko nicht bloss ein Wahlkampfslogan; Selenski habe tatsächlich gemeint, er brauche sich nur mit dem Kremlchef Putin an einen Tisch zu setzen und ihn zu einer Lösung zu überreden.

Doch die Realität schlug zu, noch bevor Selenski in die Bankowa, den Präsidentensitz an der gleichnamigen Strasse in Kiew, eingezogen war. Drei Tage nach der Wahl dekretierte Putin, Einwohnern des Donbass in einem vereinfachten Verfahren russische Pässe auszustellen. Es war ein weiterer Schritt zur Untergrabung der ukrainischen Staatlichkeit und damit eine Ohrfeige für den frisch gewählten Selenski. Seine Bitten um ein Zweiertreffen fanden im Kreml nie Gehör. Putin hatte an einem Dialog unter Gleichen offensichtlich kein Interesse. Kiew konnte in der Folge zwar kleinere Fortschritte im Donbass-Konflikt aushandeln, darunter einen Gefangenenaustausch und einen zeitweiligen Waffenstillstand. Aber die Umsetzung des Minsker «Friedensabkommens» blieb blockiert.
Nicht vom Fleck kam die Ukraine auch wirtschaftlich. Unter Selenski nahm der Reformeifer spürbar ab, wichtige Modernisierungsschritte kamen mehrmals nur unter dem Druck der internationalen Geldgeber zustande. Die Corona-Pandemie traf die ukrainische Wirtschaft hart und führte zu einem Einbruch. Die damit verbundenen Frustrationen und der verbreitete Eindruck, Selenski unternehme zu wenig gegen die verbreitete Korruption, nagten an der Popularität des Präsidenten.
Eine kurz vor dem Krieg durchgeführte Umfrage des angesehenen Instituts KMIS zeigte erstmals einen signifikanten Vorsprung für die Partei des Oppositionsführers Poroschenko gegenüber Selenskis Gruppierung Diener des Volkes. Selenskis Macht war zwar nicht unmittelbar bedroht, da die Parlamentswahlen erst 2023 anstehen, die Präsidentschaftswahl sogar erst 2024. Doch der Trend war eindeutig und zugleich ein vertrautes Phänomen. Seit Ende der neunziger Jahre hat es kein ukrainischer Präsident geschafft, eine zweite Amtszeit zu erringen.
Selenski reagierte auf seinen Popularitätsverlust, wie es Politiker in Staaten mit schwach entwickelter Rechtsstaatlichkeit oft tun - mit Druck auf kritische Medien und teilweise mit geradezu autoritären Methoden. Der von ihm geleitete Sicherheits- und Verteidigungsrat hat von der Verfassung her eigentlich eine rein koordinative Funktion. Doch im Februar 2021 verfügte das Gremium einschneidende Sanktionen gegen den prorussischen Politiker und Oligarchen Wiktor Medwedtschuk, einen Freund Putins. Drei Fernsehkanäle aus Medwedtschuks Netzwerk wurden geschlossen, der Politiker selber wurde später unter Hausarrest gestellt.
Inhaltlich gab es für die Schliessung gute Gründe, da die Sender russische Propaganda verbreiteten und damit den ukrainischen Staat untergruben. Aber die brachiale Methode ohne Gerichtsverfahren spottete jeder Rechtsstaatlichkeit. Selenskis nächster Schlag war ein sogenanntes Anti-Oligarchen-Gesetz. Vordergründig stellte es eine überfällige Massnahme zur Begrenzung der Macht der Wirtschaftsmagnaten dar. Wer eine monopolistische Stellung in einer Wirtschaftsbranche innehat, soll künftig weder an der Politik teilnehmen noch Parteien finanzieren dürfen.

Doch das Gesetz bedeutet zunächst vor allem einen Machtzuwachs des Präsidenten. Dieser hat es nun in der Hand, Konkurrenten auszuschalten oder loyale Oligarchen zu verschonen. Dass sein Förderer Kolomoiski nicht gegen das Gesetz opponierte, spricht Bände. Der Oppositionsführer und Confiserie-Unternehmer Poroschenko hingegen sah sich zum Verkauf seiner Fernsehkanäle gezwungen. Wegen der vagen Formulierung des Gesetzes droht ihm dennoch der Ausschluss von politischen Ämtern.
Während Russland in den Wintermonaten systematisch seine Invasionstruppen in Stellung brachte, schien Selenski somit vor allem damit beschäftigt, seinen gefährlichsten politischen Rivalen auszuschalten. Statt der Bildung einer parteienübergreifenden Abwehrfront gegen Russland erlebte Kiew einen Monat vor Kriegsausbruch Proteste wütender Poroschenko-Anhänger.
Ohnehin spielte Selenski die Gefahr aus Russland nach Kräften herab. Ob er dies nur tat, um Panik zu vermeiden, oder ob er tatsächlich eine Invasion für unwahrscheinlich hielt, ist zwar offen. Aber seine Äusserungen deuteten eher auf Letzteres. Wiederholt machte er sich über die amerikanischen Kriegsprognosen lustig. Ins selbe Horn stiessen Mitglieder seines sicherheitspolitischen Teams. Verteidigungsminister Resnikow verkündete im Januar im Parlament, nicht die Bedrohung habe zugenommen, nur das Geschrei darum herum. «Schlafen Sie gut. Es gibt keinen Grund, die Koffer zu packen.»
Wie die nachfolgenden Ereignisse zeigten, waren die ukrainischen Streitkräfte auch so nicht schlecht auf den russischen Angriff vorbereitet. Dennoch bleibt die Frage, ob Selenski zu spät gehandelt hat. Die Einberufung von Reservisten ordnete er erst am 22. Februar an, nachdem Moskau bereits Truppenkontingente in den Donbass entsandt hatte. Die rechtzeitige Vorbereitung der Evakuation von Mariupol hätte viele Menschenleben retten können.
Gegen Kritik ist der Präsident vorerst immun; mit seinem charismatischen Auftreten seit der Invasion hat er sich enormen Rückhalt verschafft. Mit Hilfe des Kriegsrechts setzt der Staat auch eine «einheitliche Informationspolitik» durch. Alle grossen Fernsehkanäle, ob private oder öffentlichrechtliche, haben sich vor diesem Hintergrund zu einer gemeinsamen Plattform zusammengeschlossen, die den bezeichnenden Namen Einheitsnachrichten trägt. Die Medienfreiheit ist damit nicht abgeschafft, aber eingeschränkt.

Trotzdem bewegt sich Selenski politisch weiter auf einer Gratwanderung. Mit seiner Rhetorik hat er in der Bevölkerung die Erwartungen hochgeschraubt und einen kompletten Sieg über Russland in Aussicht gestellt. Irgendwann dürfte Kiew jedoch an einen Punkt gelangen, an dem Kompromisse nötig werden, um Frieden schliessen zu können. Dann geriete Selenski innenpolitisch wieder auf brüchiges Eis. Der Politologe Fesenko erinnert daran, dass die Churchill-Vergleiche für Selenski auch eine Warnung bereithalten: Der Brite stand am Ende des Krieges als Held da. Aber schon zwei Monate später verbannten ihn die Wähler auf die Oppositionsbank.
Die Ukraine ist nicht Grossbritannien. Aber sie hat gute Chancen, diesen Krieg als halbwegs funktionierende Demokratie zu überleben. Trotz Selenskis Machtzuwachs droht kein Abgleiten in einen autoritären Führerstaat. Mit einiger Wahrscheinlichkeit stärkt die Erfahrung des Krieges eher noch das politische Selbstbewusstsein der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger. Wenn sie Russlands Überfall abwehren, werden sie dies primär als Resultat ihrer eigenen Widerstandskraft sehen und nicht als Leistung eines einzelnen Politikers.   Andreas Rüesch in der NZZ

 


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