Stationen

Dienstag, 31. Mai 2022

Nationale Interessen


 
Weltwoche: Herr von Dohnanyi, Ihr neues Buch, «Nationale Interessen», ist eine geradezu visionäre Analyse des Debakels in der Ukraine, geschrieben noch vor dem Krieg. Wie waren die Reaktionen? Glückwünsche? Zeter und Mordio, weil Sie das deutsche Tabuwort national verwenden?
Klaus von Dohnanyi: Weder das eine noch das andere. Ich bekomme viel Zustimmung, aber keine Reaktionen aus der Regierung oder von den Parteien in Berlin. Der Bundestag debattiert über Waffen und Rüstung, aber nicht über die Hintergründe des Ukraine-Krieges und damit auch nicht über die wahren Gefahren für die Sicherheit Deutschlands und Europas. Die Bundesregierung fordert Russland auf, den Krieg zu beenden – aber das ist doch kein realistischer Ansatz für eine diplomatische Lösung. Die politische Debatte, um die es mir doch ausdrücklich ging und geht, ist bisher ausgeblieben.
Weltwoche: Sie haben die deutsche Politik auf dem falschen Fuß erwischt: «Nationale Interessen», darüber möchte man offenbar nicht reden, auch die deutschen Medien haben Berührungsängste.
Von Dohnanyi: «Nationale» Interessen waren in unserem politischen Wortschatz lange ein Tabu. Dabei stolpern wir doch täglich über gegensätzliche Interessen aller Nationen, in der Welt und auch in Europa. Den nationalen Interessen nachzuspüren, ist auch notwendig, um den kriegerischen Angriff Putins auf die Ukraine zu erklären. Ich hatte den Krieg vorhergesagt, weil kluge und politisch erfahrene Fachleute der USA schon seit sehr langer Zeit warnten: Wenn wir im Westen die Aufnahme der Ukraine in die Nato weiter so vorantreiben, dann wird es zum Krieg kommen. Der heutige Chef der US-Geheimdienste, William Burns, zuvor Botschafter der USA in Moskau, und der sehr einflussreiche ehemalige Sicherheitsberater Brzezinski gehörten zu den entschiedensten Warnern – übrigens 2015 auch in der deutschen Presse; also keine Verschwörungstheorie.
 
 

 
Weltwoche: Zbigniew Brzezinski, der mit seinem Buch «The Grand Chessboard» eine Art Drehbuch des geopolitischen Schachspiels geschrieben hat, das wir heute zu unserem eigenen Entsetzen erleben.
Von Dohnanyi: Er, der gebürtige Pole, hatte noch 1997 in seinem Buch die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato strategisch gefordert, aber dann seit 2014 dringend davor gewarnt: wegen der Gefahr eines «heißen» Krieges an den Ostgrenzen Europas. So kam es dann leider, er war eben ein profunder «Russland-Versteher».
Weltwoche: Wenn man die Ukraine aus der russischen Sphäre herausknackt, so Brzezinski noch 1997, werde Russland als Weltmacht entmachtet, nach Osten gedrückt, ins Gehege mit China, mit den zentralasiatischen Republiken. Das will Wladimir Putin, ein Leningrader, ein Russe des Westens, unter allen Umständen verhindern.
Von Dohnanyi: Schon früh hat der heutige CIA-Chef William Burns ausdrücklich geschrieben, die Aufnahme der Ukraine in die Nato überschreite eine «hellrote Linie russischer Interessen» («The Back Channel», 2019). Und er, Burns, habe «keinen» Russen getroffen, der diese Auffassung nicht teile. Warum wundert man sich dann heute in Berlin, dass Putin offenbar für seine Politik noch immer eine breite Unterstützung in Russland hat? Deutsche Politiker sollten mehr amerikanische Fachbücher lesen.
Weltwoche: Putin will sich nicht aus Europa heraushebeln lassen. Er nannte die Möglichkeit von Nato-Kurzstreckenraketen auf ukrainischem Boden, unmittelbar vor seiner Haustür, eine «existenzielle Bedrohung». Die De-facto-Integration der Ukraine war im Gang, stark befördert seit dem Putsch von 2014 durch pro-westliche ukrainische Regierungen.
Von Dohnanyi: Ich würde die Maidan-Revolution 2014 keinen «Putsch» nennen. Aber es ist natürlich unbestritten, dass die USA, wie so oft, auch bei diesem «regime change» ihre Finger im Spiel hatten. Putin versteht sich offenkundig als russischer Europäer, spricht perfekt Deutsch. Was nach Putin folgt, weiß man nicht. Meine Überzeugung bleibt, auf Putin wird kein «Obama» folgen, sondern eher ein Typ Trump. Vielleicht auch ein Militär, aber sicher ein «Russland first»-Politiker. Wie der Westen nach 1990 die Chancen mit Gorbatschow und seinen Nachfolgern leichtfertig verspielt hat, beschreibt mein Buch im Detail.
Weltwoche: Mit «Westen» meinen Sie US-Präsident George Herbert Walker Bush, den Nachfolger von Ronald Reagan?
Von Dohnanyi: Im Februar 1990 versprach sein Außenminister James Baker dem sowjetischen Staatsoberhaupt Gorbatschow, wenn das ganze wiedervereinigte Deutschland in der Nato sein könne, werde es darüber hinaus keine Osterweiterung der Nato geben. Baker hielt das zwar schriftlich fest, aber eine schriftliche Vereinbarung gab es nicht. Es gibt nun einen nach meiner Überzeugung ziemlich sinnlosen Streit darüber, wie verbindlich diese Zusage Bakers war: Fest steht, dass von den ersten Tagen nach dem Mauerfall an Moskau niemals einen Zweifel daran bestehen ließ, dass für die russische Seite die Osterweiterung der Nato eine Sicherheitsfrage darstelle. Und für eine Ukraine in der Nato galt und gilt das in besonderer Weise.
Weltwoche: Wohl auch, weil Russland immer wieder aus dem Westen angegriffen wurde. Die Russen wollen eine Pufferzone, wie übrigens alle Großmächte. Auch die Amerikaner nehmen für sich Pufferzonen in Anspruch, mit oft kriegerischen Mitteln, erklären Putin aber zu einem Kapitalverbrecher, wenn der das Gleiche tut. Mir scheint das, bei aller Bewunderung für Amerika, eine große Heuchelei.
Von Dohnanyi: Ich halte nichts von einem billigen Antiamerikanismus. Aber Sie haben natürlich recht, die USA genießen einen ungewöhnlichen geopolitischen Vorteil: Sie sind auf beiden Seiten von weiten, großen Ozeanen geschützt. Diesen Schutz haben Russland und China nicht. Putin hat den Krieg vom Zaun gebrochen, und einen Krieg bewusst auszulösen, ist immer ein völkerrechtliches Verbrechen. Aber Russlands – nicht nur Putins – Reaktion geht eben auch darauf zurück, dass die USA trotz der schriftlichen Vorschläge Russlands vom 17. Dezember 2021 nicht bereit waren, über das Ukraine-Problem auch nur zu verhandeln. Das Thema wurde von der Tagesordnung einfach gestrichen. Ich glaube, der Krieg hätte vermieden werden können, wenn die USA damals angeboten hätten, was Selenskyj heute bereit ist zuzugestehen: eine neutralisierte und international gesicherte Ukraine. Steht übrigens auch schon so in meinem Buch.
Weltwoche: Ist der Krieg in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg?
Von Dohnanyi: Ja, Russland gegen die Vereinigten Staaten, zu Lasten der ukrainischen Bevölkerung.
Weltwoche: Warum haben die Amerikaner nicht verhandelt?
Von Dohnanyi: Einerseits geht es darum, dass in den USA eben ein geopolitisches Interesse besteht, Georgien und die Ukraine in die amerikanische Einflusszone Nato zu integrieren. Aber am wichtigsten sind wohl heute innenpolitische Gründe: Biden steht mitten in einem entscheidenden Wahlkampf, schon wieder. Der weit respektierte ehemalige US-Botschafter in Moskau und spätere Professor am Princeton Institute for Advanced Studies, Jack Matlock, veröffentlichte dieser Tage eine beißende Kritik: Der Ukraine-Krieg sei eine «Scharade» US-amerikanischer Innenpolitik. So wurde ja auch schon unter Clinton die Nato-Erweiterung nachweislich motiviert: Clinton glaubte, nur so die nächsten Wahlen gewinnen zu können. Und zu Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin hat er das sogar noch ausdrücklich gesagt. Steht alles in meinem Buch. Es gibt nun eine Art physikalisches Gesetz der Politik: Je öfter eine Regierung zur Wahl steht, desto größer wird der Einfluss der Innenpolitik auf ihre Außenpolitik. Und damit wächst immer auch ihre Unberechenbarkeit. In den USA wird bundesweit alle zwei Jahre gewählt, und dennoch vertraut Europa heute seine Sicherheit den innenpolitischen Zufällen der USA an. Bedenkenlos, im wahrsten Sinne dieses Wortes. Der ehemalige US-Verteidigungsminister unter Trump, Mark Esper, veröffentlichte kürzlich ein erschütterndes Buch über Trumps gefährliche sicherheitspolitische Eskapaden. Wir wissen in Europa fast nichts über die Gefahren, die US-amerikanische innenpolitische Unberechenbarkeit für Europas Sicherheit bedeuten könnte.
Weltwoche: Weiß der Durchschnittsamerikaner, ohne ihm zu nahe treten zu wollen, was die Ukraine ist und wo sie liegt? Er schaut auf die Benzinpreise. Vielen Amerikanern geht’s schlecht, die wollen nicht, dass Präsident Biden Milliarden verheizt in einem Krieg, der weit weg ist und kaum im unmittelbaren Interesse des Landes liegt.
Von Dohnanyi: Darum geht’s im Augenblick nicht. Es geht darum, dass Biden und seine Demokraten die fünf oder sechs umstrittenen Senatsplätze gewinnen wollen. Biden will deswegen gegenüber den Republikanern nicht schwach wirken und folgt damit innenpolitischen Zwängen.
Weltwoche: Warum lässt sich die EU so leicht von amerikanischen Interessen vereinnahmen? Beim zweiten Irakkrieg gaben Deutschland und Frankreich Gegensteuer.
Von Dohnanyi: Es gibt dafür viele Gründe, aber das sehr unterschiedliche Interessenverständnis innerhalb Europas spielt eine erhebliche Rolle. Was zum Beispiel Balten und Polen angesichts ihrer Erfahrungen an der westlichen Russland-Politik gegenwärtig für richtig halten, das stimmt aus meiner Sicht mit den längerfristigen sicherheitspolitischen Interessen Europas und Deutschlands nicht überein. Sich so blindlings US-amerikanischer Politik für Europa anzuvertrauen, widerspricht doch dem gesunden Menschenverstand: Ein Land, das von hier durch einen fast 6000 Kilometer breiten Ozean getrennt ist, muss doch einen Krieg auf unserem europäischen Boden ganz anders empfinden als ein Bürger von Kiew oder Berlin. Mariupol ist bei uns Tagesnachricht, in der Zeitung Chicago Tribune nur eine gelegentliche Fußnote. Dafür braucht man doch kein wissenschaftliches Studium.
Weltwoche: Was bedeutet das von Ihnen geschilderte Interessenungleichgewicht für diesen Krieg? Professor John J. Mearsheimer kommt zum Schluss, dass die Russen auf kurz oder lang gewinnen werden, weil sie auf keinen Fall verlieren dürfen. Wenn sie aber verlieren würden, wäre es noch viel schlimmer: Versucht man, eine Atommacht über die Klippe zu stoßen, ist eine katastrophale Eskalation zu befürchten. Was halten Sie davon?
Von Dohnanyi: Wie der Ukraine-Krieg ausgeht, ist schwer vorauszusagen. Erleben wir aber nur eine Art Vorspiel für einen größeren Krieg? Ich lese deswegen gegenwärtig erneut mit viel Interesse die Protokolle der Beratungen in Jalta 1945 am Ende des Zweiten Weltkrieges zwischen den Siegermächten USA, Russland, Großbritannien. Der amerikanische Präsident Roosevelt hat damals, im März 1945, vor dem Kongress in Washington bilanziert, die Jalta-Vereinbarungen hätten das «sicherste Europa der Geschichte» geschaffen: So denkt auch heute noch Putin. Und nun? Nach Auflösung der Sowjetunion und der Jalta-Strukturen? Welche Sicherheitsstrukturen braucht Europa jetzt? Nur eine US-geführte, russlandfeindliche Nato? Ist das überzeugend und vernünftig?
Weltwoche: Wie lautet Ihre Antwort?
Von Dohnanyi: Roosevelt, Stalin und Churchill haben gemeinsam Russland weit nach Westen vorgeschoben. Es war die Vereinbarung von Jalta, mit der auch die Amerikaner den Russen ein Einflussgebiet bis Polen und ins Baltikum gewährten. Zu Lasten der ost- und mitteleuropäischen Länder. Wenn man aber die damaligen Beratungen zwischen den großen Mächten heute wieder liest, dann begreift man eben, welches zentrale Interesse Russland hatte, sich gegen zukünftige Angriffe aus dem Westen abzusichern. Es waren jedenfalls sehr viel eher Sicherheitsinteressen als Machtinteressen, die in Erinnerung an den deutschen Angriff von 1941 Stalin damals bewegten. Und, wie ich in meinem Buch immer wieder unterstreiche: Geschichte ist eben ein mächtiger Faktor auch gegenwärtiger Politik.*
Weltwoche: Was ist der größte Fehler des Westens, der Amerikaner?
Von Dohnanyi: Die Amerikaner haben die Interessen Russlands nach dem Fall der Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion nie wirklich berücksichtigt. Die USA glauben, sie seien die alleinige Weltmacht, sie hätten eine Art Naturrecht darauf, Ordnung in der Welt zu schaffen. Meine Kritik an den Europäern ist, dass sie die auch in dieser Beziehung zwangsläufig unterschiedlichen Interessen zwischen den USA und Europa nicht offen ansprechen. In den Debatten zur Beendigung des Ukraine-Krieges gibt es gegenwärtig scheinbar nur drei Parteien: Europa, die Ukraine, Russland. Die aber wichtigste Partei, die USA, wird nur als Waffenlieferant erwähnt. Man müsste doch längst wissen, dass der Schlüssel zur Lösung des Problems in den Händen der USA liegt.
Weltwoche: Wie lautet das Gebot der Stunde? Was würden Sie tun, wenn Sie Bundeskanzler wären, um den Frieden zurückzubringen?
Von Dohnanyi: Dem Gebot der Stunde kann erst gefolgt werden, wenn Emmanuel Macron seine Position im Parlament gesichert hat. Im Augenblick ist Frankreich so unbeweglich wie die USA. Es kann aber nur mit Deutschland und Frankreich – und nun hoffentlich auch mit Italien – etwas bewegt werden. Dann ist es unsere wichtigste Aufgabe, gemeinsam in Washington vorstellig zu werden und mit den Amerikanern darüber zu verhandeln, ob die USA eine Neutralität der Ukraine unterstützen könnten: Könnte Putin dann den Donbass wieder auf den Vertrag von Minsk zurückführen? Könnten die USA dann Neutralität statt Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine akzeptieren? Das würde eine ganz neue Situation schaffen. Die Ukraine könnte als unabhängiger, verteidigungsfähiger Staat gesichert werden, abgesichert durch die Uno, durch Russland, durch Europa und durch die USA.
Weltwoche: Und durch eine starke ukrainische Armee. Eine bewaffnete Neutralität nach Schweizer Vorbild.
Von Dohnanyi: Natürlich, auch die Ukraine muss verteidigungsfähig sein können, aber sie müsste neutral sein. Der Donbass würde Autonomie gewinnen mit bestimmten Rechten, auch sprachlichen Minderheitenrechten – wie in Québec oder im Baskenland. Das zu verhandeln, setzt aber einen Waffenstillstand voraus. Alles wurde nahezu unmöglich gemacht, weil man im Winter 2021/22 nicht bereit war, mit Russland über dessen zentrale Anliegen auch nur zu reden.
Weltwoche: Die Politik in Deutschland scheint im emotionalen Ausnahmezustand, auch die Medien sind außer Rand und Band. Man schwelgt im Rausch der Feindbilder. Deutsche Intellektuelle bezeichnen Putin bereits als neuen Hitler, man fordert entsprechend von Russland die totale Kapitulation. Ihre Familie hat bedeutende Widerstandskämpfer gegen Hitler hervorgebracht. Was halten Sie von solchen Gleichsetzungen?
Von Dohnanyi: Den Vergleich halte ich für total unangemessen und auch für einen Beweis dafür, dass diejenigen, die so argumentieren, ihre Finger lieber von der Politik lassen sollten.
Weltwoche: Wie gefährlich sind diese Dämonisierungen? Sind sie ein Hindernis auf dem Weg zum Frieden? Oder darf man diese emotionalen Ausschweifungen politisch nicht so ernst nehmen?
Von Dohnanyi: Es ist für Europa gefährlich, diesen amerikanischen Unsinn von Russland als einem «evil empire» zu übernehmen. Dieses Urteil hat für den Westen schon genug Unglück gebracht. Russland wurde immer anders regiert, das hat auch seine geografischen und damit historischen Gründe; das müssen auch wir für unsere Gegenwart akzeptieren, wenn wir Frieden wollen.
Weltwoche: Haben die europäischen Politiker eigentlich erkannt, dass Europa ein ganz anderes Interesse hat als Amerika? Die Europäer sind schon jetzt die Verlierer dieses Krieges, die Amerikaner profitieren wirtschaftlich, und die Ukraine wird zerstört.
Von Dohnanyi: Herr Köppel, wir haben beide nicht vergessen, dass die ersten beiden großen Kriege, der Erste und der Zweite Weltkrieg, nur mit Hilfe der USA gewonnen werden konnten – und beide nur auf europäischem Territorium ausgetragen wurden. Das ist ganz simpel, da braucht man kein Pessimist zu sein: Wenn es zu einem dritten großen Krieg käme, würde er auch wieder in Europa stattfinden. Der Krieg wird dann nicht bei den ukrainischen Grenzen haltmachen. In meinem Buch berichte ich ja auch von einer Nato-Übung, die ich Ende der 1970er Jahre in Vertretung von Bundeskanzler Helmut Schmidt leitete: Deutschland erneut ein Trümmerfeld. Das zu verhindern, ist deutsche Verantwortung, was immer ukrainische Politiker uns auch sonst einreden wollen. Henry Kissinger vergleicht die Lage schon wieder mit dem Vorfeld des Ersten Weltkrieges, der Zeit vor 1914. Und als großer Historiker, der er ja auch ist, hat er auch Vorbilder für dauerhafte Friedensschlüsse studiert, unter anderem den Wiener Kongress von 1815.
Weltwoche: Das war das Thema seines ersten großen Buches. Was lernen wir daraus?
Von Dohnanyi: In diesem Buch erkennt man bis heute Kissingers tiefste Überzeugungen: Nur wenn man die Interessen der verschiedenen Parteien, insbesondere der Großmächte, berücksichtigt, kann man dauerhaften Frieden erreichen. Das gelingt nicht immer, dabei werden auch Fehler gemacht, aber der Grundsatz ist sicher richtig. Und dass die USA diese Erfahrung seit dem Fall der Mauer als «alleinige Weltmacht» so verhängnisvoll missachtet haben und missachten, macht es für Europa oft so schwer und so gefährlich.
Weltwoche: Kissingers «A World Restored» handelt von der Wiederherstellung einer Friedensordnung, die Napoleon aus den Angeln gehoben hatte. Heute haben wir Putin, einen Aggressor, der als Zerstörer unserer Friedensordnung verteufelt wird. Wie sehen Sie diesen Mann? Wie gefährlich ist der russische Machthaber?
Von Dohnanyi: Alles hat seine Vorgeschichte. Dem Ersten Weltkrieg ging die Auseinandersetzung zwischen dem aufsteigenden Deutschland und der Weltmacht Großbritannien voraus. Und der Zweite Weltkrieg entstand eben auch, davon bin ich überzeugt, als Folge des Versailler Vertrages: Man hatte an Deutschland Rache geübt, und das ist nie ein guter Anfang für einen dauerhaften Frieden.
Weltwoche: Siegermächte müssen um jeden Preis vermeiden, die unterlegene Großmacht im Moment der Schwäche zu demütigen.
Von Dohnanyi: Aber sicher. Zwei Leute sahen nach 1918 den nächsten Krieg voraus: John Maynard Keynes, der große Ökonom, und Robert Lansing, Außenminister der USA und Verhandler in Versailles. Lansing schrieb 1921, dass dieser Frieden nicht lange halten werde. Er werde zu einem Aufstand der Gedemütigten führen, die sich eines Tages rächen würden. Wer Russland heute als «mittlere Regionalmacht» mit den vereinten Kräften des Westens niederringen will, sollte sich später nicht über die Folgen wundern.
Weltwoche: Kissinger unterscheidet zwischen revolutionären Eroberern wie Napoleon, die ganze Weltordnungen umpflügen, und klassischen Großmächten, die ihre Interessen und ihre Sicherheit verteidigen. In welche Kategorie fällt Putin?
Von Dohnanyi: Putin ist weder Hitler noch Napoleon. Er wollte auch keinen Krieg. Er wollte in erster Linie sicherstellen, dass die Ukraine nicht der Nato beitritt. Sein Ziel war und ist nicht die Eroberung Deutschlands, Polens oder Osteuropas. Das ist alles Unsinn. Er hat im Dezember 2021 auch nicht Polen bedroht, sondern geschrieben, Russland wolle in Polen nur eine Bewaffnung dulden, die der Vereinbarung von 1997 entspreche. Darüber hätte man verhandeln können. Der entscheidende Punkt, an dem das Ganze gescheitert ist, war die Frage der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens, der beiden ehemaligen russischen Staatsprovinzen. Wenn Sie die Antwort der USA auf Putins Entwurf vom 17. Dezember 2021 sehen, dann steht da aber glasklar und unabänderlich: Die Nato werde in dieser Frage nicht nachgeben, das sei für sie unverhandelbar. Begründung: Jedes Land habe das Recht, sich seinen Bündnispartner auszuwählen. Das ist natürlich unbestreitbar. Aber die Mitglieder eines Bündnisses «können» einen Bewerber aufnehmen, sie «müssen» nicht. Die Nato kann frei entscheiden, wen sie aufnehmen will und kann und soll. Ihre eigene Sicherheit hat immer Vorrang vor den Interessen eines Bewerbers.
Weltwoche: Die Aufnahme neuer Mitglieder darf die Sicherheit der bisherigen Mitglieder nicht gefährden.
Von Dohnanyi: Richtig. Niemand ist verpflichtet, zu seinem eigenen Nachteil einen anderen in ein Bündnis aufzunehmen. Wir wussten doch, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ein riesiges Sicherheitsproblem mit Russland verursachen könnte. Die amerikanische Strategie, es dennoch durchzusetzen, war weder geboten noch im Interesse des Bündnisses, wie wir heute so bitter, so teuer und so schadensträchtig erfahren.
Weltwoche: Sie widerspricht auch dem Istanbuler Abkommen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) von 1999. Da steht, jedes Land sei zwar frei, seine Bündnisse zu wählen. Zwei Sätze weiter unten aber steht: Kein Mitgliedstaat der OSZE, in der übrigens Russland und die Ukraine auch dabei sind, darf seine Bündnisse so wählen, dass die Sicherheitsinteressen eines anderen OSZE-Landes gefährdet sind. Darauf bezog sich Russlands Aussenminister Lawrow.
Von Dohnanyi: Darf ich da einhaken? Die USA würden nun zu Recht antworten: «Aber die Nato ist doch keine offensive Macht.» Allerdings geht es eben auch um die Psychologie beider Seiten. Die Russen sollten die Nato tatsächlich nicht als Angreifer verstehen. Würde die Nato die Ukraine einbeziehen, wird damit doch kein Krieg gegen Russland vorbereitet. Aber darum geht es eben nicht allein. Sondern – wie in den USA auch – es geht um die innenpolitische Psychologie. Das russische Volk hat das Gefühl – wie Burns doch ausdrücklich bestätigte –, die Nato sei das Kriegsbündnis aus dem Kalten Krieg, das jetzt mit seinen Truppen an Russlands Grenzen rückt. Das ist zwar nur ein Gefühl, kann aber in der Politik eine ganz entscheidende Komponente sein.
Weltwoche: Haben die Russen subjektiv nicht recht? Die Nato ist die alte Gegenmacht aus dem Kalten Krieg, während der Warschauer Pakt sich aufgelöst hat. Im Übrigen wirkt es nicht gerade vertrauensbildend, wenn die Nato Kurzstreckenraketen an der russischen Grenze stationieren könnte.
Von Dohnanyi: Dass sich Russland von der Nato angegriffen fühlt, halte ich für falsch. Die Nato wurde als eine defensive Organisation gegründet, die nur für ihre Sicherheit sorgen will. Aber das kann eben die Gegenseite anders verstehen,** und deshalb geht es in der Außenpolitik immer darum, auch die nationalen Interessen der anderen Seite zu kennen, zu verstehen und, soweit möglich, auch zu berücksichtigen. Das, allerdings, müssten die USA in einer Welt im Umbruch nun eiligst lernen.
Weltwoche: Wie beurteilen Sie eigentlich den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj?
Von Dohnanyi: Am liebsten wäre mir, Sie hätten mir diese Frage erspart.
Weltwoche: Er hat eine wundersame Wandlung hinter sich, vom Korruptionsverdächtigen der Panama- und Pandora-Papers zum neuen Internationalhelden der Freiheit.
Von Dohnanyi: Selenskyj ist ein hochbegabter Publizist und mutiger Führer eines Verteidigungskrieges. Einen Politiker mit solchen Fähigkeiten wünscht sich manche Partei.
Weltwoche: Ein brillanter Kommunikator, aber auch ein couragierter Präsident, dem viele vielleicht nicht zugetraut hatten, dass er Putin dermaßen Widerstand leistet.
Von Dohnanyi: Ja, er hat die neue Welt verstanden. Wenn Sie gesehen haben, wie er zum 8. Mai auf einer leeren Straße in Kiew gewandert ist, alleine, eine Rede gehalten hat im Gehen, um deutlich zu machen: Hier ist es leer und friedlich, und hier bin ich, hier spreche ich für mein Land. Diese Dramaturgie war genial. Er ist ein großer, bedeutender Darsteller, nicht nur ein Kommunikator. Er spricht vor allen Parlamenten und hat viel bewirkt für die Verteidigung der Ukraine, kein Zweifel. Aber es gibt auch Kritiker. Sie fragen: Wäre er nicht auch verpflichtet, den Weg zum Ende dieses Kriegs zu finden? Sein Land wird zerstört. Setzt er zu sehr auf Sieg und zu wenig auf den Schutz des Landes? Uns Ausländern steht aber nicht zu, das zu beurteilen.
Weltwoche: Schon in der Bibel steht: «Oder stellt euch vor, ein König muss gegen einen anderen König in den Krieg ziehen: Wird er dann nicht vorher mit seinen Beratern überlegen, ob seine Armee mit 10 000 Mann die feindlichen Truppen schlagen kann, die mit 20 000 Mann anrücken? Wenn nicht, [. . .] dann wird er Unterhändler schicken [. . .].»
Von Dohnanyi: Erstens haben die Ukrainer 2019 die Nato-Mitgliedschaft in die Verfassung übernommen. Und zweitens hat die Sprachgesetzgebung, die von der Regierung vorangetrieben wurde, nicht gerade zur Überzeugung auf russischer Seite geführt, eine autonome Ukraine im Donbass – wie 2015 vereinbart – sei möglich. Die ukrainischen Regierungen haben nachweislich die von ihnen unterschriebene Minsk-Vereinbarung ganz gezielt torpediert. Das ist ein Vorwurf, den man der Ukraine nicht ersparen kann.
Weltwoche: Bevor wir den Ausblick wagen, müssen wir über die Fehler der Russen sprechen. Was sind, abgesehen von der katastrophalen Untat eines Angriffskrieges, die großen Fehler Putins im Vorfeld dieses Desasters?
Von Dohnanyi: Ich glaube, Russland hat immer nur reagiert. Und jetzt auf eine Weise, wie man nicht reagieren darf, die zu verurteilen ist, nicht nur völkerrechtlich, sondern auch menschlich. Aber Putin war nicht immer so. Dies heute zu unterstellen, ist ein großer Fehler im Westen. Schon Putins Vorgänger Jelzin hat wörtlich gesagt, wenn er der Nato-Erweiterung zustimme, wäre das «ein Verrat an meinem Volk». Von Clausewitz stammt der Satz «Krieg ist nur die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln». Für Präsident George Herbert Walker Bush wurde dann schon 1990 «Politik zur Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln». Man ist seit 1990 nicht wirklich auf Russland zugegangen. Man hat gegen die Interessen Russlands gehandelt und so das Land unweigerlich in einen immer defensiveren Zustand getrieben. Auch Russland hat natürlich viele Fehler gemacht. Aber im Grunde blieb Russland für die USA immer noch das «evil empire». Der Westen war nicht willens, die andere Regierungsform, die Russland nun einmal hat, zu akzeptieren und den einstigen Gegner auch als Partner zu sehen.
Weltwoche: Debakel in Afghanistan, brennendes Unheil in Nordafrika, das ganze Irak-Desaster, ein fürchterlicher Stellvertreterkrieg im Jemen, und schließlich diese gefährliche Konfrontation gegen Russland: Seit einiger Zeit ertappe ich mich, zu meinem eigenen Entsetzen, immer öfter bei der Frage: Sind die von mir eigentlich bewunderten Amerikaner zu einer Gefahr für den Weltfrieden geworden?
Von Dohnanyi: Herr Köppel, Sie haben mein Buch zu sorgfältig gelesen.
Weltwoche: Wer kann die USA zur Vernunft bringen?
Von Dohnanyi: Im Ukraine-Krieg? Eine Verhandlungslösung sehe ich nur, wenn die USA von den Europäern als die wichtigste Kriegspartei verstanden werden. Da sehe ich allerdings gegenwärtig schwarz. Ich glaube nicht, dass US-Präsident Biden vor den Wahlen im November wagen wird, sich in dieser Sache zu bewegen. Mut war nie seine Sache.
Weltwoche: Deutschland und Frankreich spielen eine Schlüsselrolle, aber vielleicht könnte auch Viktor Orbán helfen?
Von Dohnanyi: Viktor Orbán ist zu umstritten, wenn auch ein sehr kluger Kopf. Möglicherweise könnten Finnland und Schweden Impulse geben, gerade wenn sie jetzt in die Nato wollen.
Weltwoche: Wie beurteilen Sie eigentlich den Nato-Beitritt der bisher neutralen Länder?
Von Dohnanyi: Das ist eine logische Folge von Putins Krieg. In diesen Ländern entstand eine Stimmung «sicher ist sicher». Schade, weil ich neutrale europäische Länder gerade in den Beziehungen zu Russland für besonders wichtig halte.
Weltwoche: Wie sehen Sie die Schweiz? Die Neutralität ist arg beschädigt.
Von Dohnanyi: Die Schweiz musste eben verstehen, dass die USA eine Soft Power erster Ordnung sind. Wenn die Schweiz bei den Sanktionen des Westens nicht mitgemacht hätte, wie viele Möglichkeiten hätten die USA gehabt, um die Schweiz auf dem amerikanischen Markt so zu schikanieren, dass man am Ende doch hätte zustimmen müssen? Wir verstehen die USA primär als militärische Macht, aber noch bedeutender ist, dass die Amerikaner wegen ihrer Wirtschafts- und Medienmacht ihre Interessen überall durchsetzen können; sie sind eben auch die überragende Soft Power auf dem Globus.
Weltwoche: Steuern wir auf einen neuen Kalten Krieg zu? Sind wir schon mittendrin?
Von Dohnanyi: Wenn der Krieg kalt bleibt, geht es ja noch. Ich befürchte aber, dass wir in einen größeren Krieg in Europa «schlafwandeln» [Christopher Clark] könnten. Die Lage ist wohl viel gefährlicher, als wir sie einschätzen. Wann nämlich welches Land im Ukraine-Krieg wo «Kriegspartei» wird, diese Grenze ist in der modernen, cybergeführten Kriegsführung nicht immer eindeutig.
Weltwoche: Suchen wir zum Schluss den Lichtblick. Woran halten Sie sich fest, um die Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz in der Welt nicht vollständig zu verlieren?
Von Dohnanyi: Der Lichtblick ist letzten Endes, dass die Menschen keinen Krieg wollen – weder in den USA noch in Deutschland und auch nicht in Russland oder China. Wir haben keine kriegerische Stimmung in der Welt, wie wir sie vor 1914 hatten, als es fast wie eine Erleichterung verstanden wurde, endlich draufschlagen zu können, endlich die Hormone loszuwerden. Man lese nur den Brief des jungen Churchill vom 1. August 1914 an seine Frau.*** Meine Hoffnung ist, die Menschen wollen heute Frieden, und in einer Demokratie sollte das doch zählen. Und wir brauchen auch keine «Helden» mehr, wie es Präsident Selenskyj noch kürzlich – und ich finde gefährlich – forderte.
 
 
 
Klaus von Dohnanyi war 1969–1981 Mitglied des Deutschen Bundestags. 1972–1974 amtete er als Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, 1981–1988 war er Hamburger Bürgermeister. Zuletzt erschien von ihm: «Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche» (Siedler Verlag).   Weltwoche

*Bei den Deutschen gibt es große Angst vor Inflation, bei den Russen vor Invasion. Beides sind Ängste, die die USA nicht empfinden.

**Hinzu kommt, dass die Nato zwar ursprünglich ein Defensivbündnis sind, die Länder aus denen sie besteht, aber sehr wohl Angriffskriege führt; und dann noch völlig blindlings und erfolglos. Diesen stümperhaften Aggressorenzirkus noch als Defensivbündnis zu bezeichnen, ist ein starkes Stück.

***Oder Ernst Jünger! Diese Lust, den Krieg vom Zaun zu brechen, gibt es heute nur bei Baerbock und ihren ebenso blinden Kumpanen.

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