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Sonntag, 13. August 2023

Ernst Jünger in den Augen anderer Schriftsteller

 Unter den deutschen Autorinnen und Autoren der Nachkriegszeit hatte Ernst Jünger einige Feinde, aber auch viele Freunde. Zu den Anhängern, die über ihn und sein Werk ­geschrieben haben, gehörten Alfred Andersch, Rolf Hochhuth und Heiner Müller, zu den Gegnern der späte Helmuth Heißenbüttel, Fritz J. Raddatz und zuletzt Walter Jens, der als Präsident der Berliner Akademie der Künste 1993 dem Chefredakteur der hauseigenen Zeitschrift „Sinn und Form“ wegen „Kumpanei“ mit einem „dezidierten Militaristen“ Konsequenzen androhte, nachdem der Teile aus dem letzten Band der Tagebücher „Siebzig verweht“ als Vorabdruck ins Heft genommen hatte.

Man hätte erwarten können, dass zu den Gegnern Jüngers auch drei Schriftsteller gehörten, die die Geschichte der Bundesrepublik seit Ende der Fünfzigerjahre nicht nur durch ihre literarischen Werke, sondern auch durch linksorientierte politische Kommentare begleitet haben: Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser. Alle drei aber hatten sich zu Lebzeiten Jüngers nicht vernehmlich über ihn ge­äußert. Umso überraschender waren ihre Bekenntnisse, nachdem Jünger 1998 gestorben war. Alle drei hatten eine enge, auch biographisch geprägte Bindung an den seit Ende der Sechzigerjahre politisch ausgegrenzten Autor, mit der sie offenbar nicht hausieren gehen wollten.

1999 veröffentlichte der 2015 verstorbene Grass über Jünger eine Erzählung in seinem Buch „Mein Jahrhundert“, in dem er wie ein Chronist bedeutende Ereignisse der Vergangenheit in fiktionaler Form kommentiert hat. Unter der Jahreszahl „1918“ liest man hier einen Bericht über ein Gespräch zum vorausgehenden Krieg zwischen Jünger, Erich Maria Remarque und dem Verfasser „nach einem Einkaufsbummel“.

Ob Grass Remarques Würdigung von Jüngers autobiographischem Kriegsbuch „In Stahlgewittern“ kannte, die dieser 1928, im selben Jahr wie sein Antikriegsbuch „Im Westen nichts Neues“, veröffentlicht hatte, ist zweifelhaft. Doch passt sie gut zu seinem Text: „Den Ablauf der Geschehnisse“, so hatte Remarque geschrieben, „zeichnen die ‚Stahlgewitter‘ mit der ganzen Macht der Frontjahre am stärksten, ohne jedes Pathos geben sie das verbissene Heldentum des Soldaten wieder, aufgezeichnet von einem Menschen, der wie ein Seismograph alle Schwingungen der Schlacht auffängt.“

Auch bei Grass fungieren Remarque und Jünger – anders als bei ihren späteren Anhängern – nicht als Widersacher, sondern als Partner in der Rückschau auf den Ersten Weltkrieg, obwohl am Schluss der Erzählung auch die Unterschiede deutlich werden. Hier heißt es: „Ein wenig ver­legen legte ich nun die so berühmt gewordenen Bücher der Autoren auf den Tisch, bat um eine Widmung. Jünger beeilte sich, mir seinen Band mit dem Zusatz ‚Für unser tapferes Vreneli‘ zu signieren; ­Remarque signierte unter dem recht eindeutigen Bekenntnis: ‚Wie aus Soldaten Mörder wurden.‘ Nun war alles gesagt. Die Herren tranken aus.“

Der im November 2022 verstorbene Hans Magnus Enzensberger blickte dagegen auf den späteren Jünger, als er für sein Buch über Schriftstellerkollegen, die seinen Weg begleitet haben – es erschien 2018 unter dem Titel „Überlebenskünstler“ –, auch über ihn einen autobiographischen Essay schrieb. Dort heißt es: „Was mich betrifft, so habe ich seinen Weg immer nur aus den Augenwinkeln verfolgt; denn sympathisch war er mir nicht.“ Was hier nach Vorbehalt klingt, schlägt gleich darauf in Anerkennung um, wenn es nun heißt: „Es war mir lieber, Jünger aus der Ferne zu bewundern.“

In der Tat steht hier „bewundern“, nicht „beobachten“. Ob zu dieser Bewunderung Enzensbergers Vater beigetragen hat, der, wie der Sohn berichtet, zwischen 1941 und 1944 im Pariser Hotel Majestic, in dem die deutschen Besatzungsoffiziere untergebracht waren, „auf derselben Etage“ wie Jünger „Dienst tat“, verrät er nicht.

Vielleicht aber erinnerte sich Enzensberger beim Schreiben des Beitrags auch an seine Anfänge als Herausgeber der Zeitschrift „Kursbuch“, in deren Ankündigung folgendes Bekenntnis zu lesen war: „Unser literarisches Bewußtsein ist begrenzt, es ignoriert weite Zonen der zivilisatorischen Realität. Wo die literarische Vermittlung versagt, wird das Kursbuch den unvermittelten Niederschlag der Realien zu fassen suchen.“

Hatte der Verfasser zuvor vielleicht in Jüngers „Arbeiter“ von 1932 gelesen? Dort heißt es im 42. Abschnitt: „Der viel beachtete Niedergang der Literatur bedeutet nichts anderes, als daß eine veraltete literarische Fragestellung ihren Rang verloren hat. Ohne Zweifel besitzt heute ein Kursbuch größere Bedeutung als die letzte Ausfaserung des einmaligen Erlebnisses durch den bürgerlichen Roman.“ Selbst die Anfangszeile in dem berühmten Gedicht „Ins ­Lesebuch für die Oberstufe“, das Enzensberger 1958 in seinen ersten Lyrikband, „Verteidigung der Wölfe“, aufnahm, liest sich vor diesem Hintergrund wie die Übernahme einer Idee Jüngers: „lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne: / sie sind genauer.“

Wie Enzensberger und Grass konnte sich auch Martin Walser zu einer Würdigung von Jüngers Werk erst nach dessen Tod durchringen. Anfang November 2010 hielt er bei der Eröffnung einer Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach eine Rede, die er in der „Süddeutschen Zeitung“ unter dem Titel „Einer wie kein anderer“ veröffentlichte und in den sieben Jahre später erschienenen Essayband „Ewig aktuell“ übernahm. Walser berichtet hier, dass er nach der Anfrage des Archivdirektors begonnen habe, noch einmal Jüngers Texte zu lesen. Dieser Lektüre ging jedoch eine Begegnung voraus, über die der Verfasser in seiner Rede berichtet hat.

Schon ihr Untertitel liefert eine Andeutung: „Über mein verhindertes Gespräch mit Ernst Jünger, dem Meister­lichen“. Walser bezieht sich hier auf ein Essen im Freundeskreis im Jahr 1964, bei dem er „gegenüber“ von Jünger gesessen habe. Doch wollte er diesen, obwohl er „Das Abenteuerliche Herz“ und „Auf den Marmorklippen“ kannte, nicht ansprechen, da er befürchtet habe, dass er für ihn, wie es weiter heißt, „wahrscheinlich einer dieser Gruppe-47-Kerle“ gewesen sei.

Ob die Geschichte in dieser Form zutrifft, ist fraglich, denn in einer Tagebucheintragung, die in einem 2010 bei Rowohlt erschienenen Band mit Aufzeichnungen der Jahre 1974 bis 1978 zu finden ist, hat Walser den Vorgang ganz anders erzählt. Danach habe, so heißt es unter dem Datum vom 19. Juni 1977 aus Anlass der Verleihung des Bodensee-Literaturpreises an Erwin Jaeckle bei einem „Mittagessen auch Ernst Jünger zwischen uns“ ge­sessen. Dann folgt die Wieder­gabe eines inneren Monologs: „Ich kann ihn nicht ansprechen. Nicht, dass ich das nicht möchte. Im Andenken an das wunderbare ‚Abenteuerliche Herz‘. Aber immer noch der Leutnant. Und er interessiert mich nicht wirklich, das muss ich zugeben.“

Vorstellbar ist, dass Walser erwartet oder erhofft hatte, von Jünger angesprochen zu werden. Denn mit Romanen wie „Ehen in Philippsburg“ und „Halbzeit“ war er selbst seit Ende der Fünfzigerjahre bekannt geworden, Ende der Siebziger war er berühmt und hatte vermutlich mehr Leser als Jünger. Dass die Ansprache nicht erfolgte, dürfte ihn enttäuscht haben.
 
Nicht auszuschließen ist aber auch, dass Walser den deutlich älteren Jünger als regionalen Konkurrenten wahrgenommen hat. Seit 1968 wohnte Walser in Nußdorf am Bodensee, einem Ortsteil von Überlingen, wo Ernst und Friedrich Georg Jünger ebenfalls zeitweise gelebt haben: Zwischen 1937 und 1939 bewohnten beide gemeinsam ein heute nicht mehr existierendes Haus in einem Weinberg, bis Ernst mit seiner Familie nach Kirchhorst übersiedelte, wohin ihm sein Bruder folgte.
 
Bereits 1942 kehrte Frie­d­rich Georg aber zurück und lebte mit seiner Frau Citta bis zu seinem Tod im Jahr 1977 in einem Haus an der See­promenade in Überlingen, während sein Bruder seit Beginn der Sechzigerjahre zeitweise in einem Haus im Überlinger Ortsteil Goldbach wohnte, das seiner Frau Liselotte gehörte. In Überlingen hat Jünger die Texte für die zweite, 1938 erschienene Fassung der Kurzessay-Sammlung „Das Abenteuer­liche Herz“ geschrieben und seine 1939 veröffentlichte Erzählung „Auf den Marmorklippen“ begonnen.
 

Zwar wurden beide Werke nicht als Regionalliteratur wahrgenommen, doch sind Ort und Umgebung hier durch die Beschreibung der Landschaft präsent. Im „Abenteuerlichen Herzen“ taucht Überlingen mehrfach in den Überschriften der Texte auf. Walser sollte 1978, ein Jahr nach der Begegnung mit Jünger, zwei Bücher ver­öffentlichen, in denen er ebenfalls seine Lebenswelt dargestellt hat: den Essayband „Heimatlob“ und die Novelle „Ein fliehendes Pferd“. Spätestens mit diesem Buch, das 2007 von Rainer Kaufmann verfilmt worden ist, war er zum literarischen Repräsentanten der Region geworden, sodass er Ernst Jünger auch in dieser Hinsicht überflügelt hatte.

Deutlich erkennbar für Besucher Überlingens ist die Walser’sche Präsenz auch noch nach seinem Tod durch eine Brunnenskulptur, die der schwäbische Bildhauer Peter Lenk im Jahr 1999 – vermutlich ohne Wissen des Autors – am zen­tral gelegenen Landungsplatz geschaffen hat. Walser sitzt hier inmitten einer grotesken Figurengruppe fast lebensgroß auf einem störrischen Pferd und wird damit zum Wiedergänger des bekanntesten epischen Stoffs der Region, der 1827 ver­öffentlichten Ballade von Gustav Schwab, „Der Reiter und der Bodensee“. Es geht darin um einen unbemerkten Ritt über den zugefrorenen und schneebedeckten See, der tödliche Folgen hat, da der Reiter von einem Herzschlag getroffen wird, als ihm „die grause Gefahr“ bewusst geworden war.

Zweifellos gibt es ebenso wie für die Ballade auch viele Möglichkeiten der Interpretation von Lenks Brunnen. Ob Walser sein Abbild aus edlem Beton in den mehr als zwanzig Jahren von der Enthüllung bis zu seinem Tod jemals an­geschaut hat? Geäußert hat er sich dazu nicht. Eine Besichtigung wäre ihm aber zu wünschen gewesen, da der Brunnen Tag für Tag von vielen Menschen mit Freude betrachtet wird, in einigen Fällen sicher auch deshalb, weil sie den Autor wiedererkennen. Von Jünger steht dagegen nur ein harmloses Bronzestandbild versteckt an einem Teich in der Nähe seines Wohnhauses im oberschwäbischen Wilflingen – weitab von Besucherströmen.

Detlev Schöttker arbeitet am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin.

 

Enzensberger war also nicht nur der Herausgeber des "Kursbuchs", durch das die 68-er Bewegung über Jahrzehnte aktualisiert wurde und als Narrativ und Blickwinkel zu einer Konstante wurde, die allmählich sämtliche Medien erfasste und endgültig umkrempelte, seit ungefähr 2003 ein Generationenwechsel begann, weil die letzten federführenden konservativen Journalisten pensioniert wurden. Enzensberger war 1961 schon ein ätzender Propagandist der Willkür und Unangemessenheit, ein Wegbereiter der 68-er Bewegung. Das ist insofern erstaunlich, als er damals schon sein "Museum der modernen Poesie" herausgab, das wirklich ein wichtiges Buch ist (wenn auch oft schlecht übersetzt), denn so ein Buch, das die größten zeitgenössischen Dichter in 16 Sprachen vorstellt, ist ein guter Beitrag zur Erkennung der Welt, die Voraussetzung zur Völkerverständigung ist: Heute bräuchten wir ein Europäisches Fernsehen in mehr als 16 Sprachen, in allen europäischen Sprachen (einschließlich ukrainisch und hebräisch). Das "Museum der modernen Poesie" ist auch ganz ohne Polemik und Provokation! Dass Enzensberger in diesem Interview behauptet, mit dem eingangs vorgetragenen Gedicht habe er nicht provozieren wollen, ist wiederum eine Frechheit. Und zwar keine lausbübische, sondern eine unsympathische; es ist eine zusätzliche Provokation.

Enzensberger und Wagenbach sind Beispiele dafür, wie groß der Einfluss weniger Individuen sein kann, die beharrlich daran festhalten, irrsinnige Ideen zu verbreiten und Lügner zu fördern. Ich habe lange gebraucht, um resignierend einzusehen, dass dieser Menschenschlag nie vornehmlich von einem Streben nach Wahrhaftigkeit angetrieben ist (welches ich Enzensberger nicht völlig absprechen will), sondern überwiegend von skrupelloser Wichtigtuerei. Der 32 Jahre junge Enzensberger nennt Brentano und Brecht als seine deutschen Lieblingsdichter. Dass man Brechts und Enzensbergers Gedichte lieben kann, glaube ich immer noch nicht. Brecht hat nur zwei schöne und hunderte hässliche geschrieben, Enzensberger sogar ausschließlich hässliche. Beider Erfolg ist eine kulturelle Fehlentwicklung und nur erklärbar durch die menschliche Sehnsucht nach moralischer Orientierung und weltfremder Utopie, durch Bewirtschaftung der Berührungsangst und durch Förderung moralischer Eitelkeit, die mangels besserer Sinnstiftung zum Epochenstil wurde. Wie kann man als intelligenter Mensch bloß Kuba verherrlichen! Ich interessiere mich auch für Hitler, Stalin, Breivik und Meinhof und finde es sogar notwendig, diese Menschen zu verstehen und ihre Eigenheiten als Varianten eines Allgemeinmenschlichen aufzufassen. Aber Enzensbergers Vorliebe für linke Bewegungen und vor allem das damit verbundene Trendsetting ist befremdlich, um nicht zu sagen eine Obsession. Und der Scherbenhaufen, mit dem wir es im sich abschaffenden Deutschland zu tun haben, hat viel mit dieser Obsession zu tun. Aber Enzensberger ist ein Wechselbalg. Er hat eben auch die Brentano-Seite, die ihn zur Vernunft kommen lässt; wenn auch nur in manchen Essays. Ein langweiliges Buch, das Kinder für die Mengenlehre der Zahlenreihen begeistern soll, schrieb er (der mathematische Teil ist schön, aber ich bezweifle, dass Primaner dem albernen Drumrum etwas abgewinnen können: Auch Kinder spüren die Absicht und sind verstimmt). Sein bester Beitrag ist Die Andere Bibliothek.


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