So unterschiedlich Scharon
einerseits und Mao sowie Giap andererseits, sie haben eines gemeinsam:
Gewalt war für sie Mittel der Politik. Das Primat der Politik bestimmte
die Anwendung von Gewalt. Ihre Politik mag dem einen gefallen, dem
anderen nicht. Das hängt von subjektiven Wertvorstellungen ab. Ihr
jeweiliges Instrumentarium aber ist von Wertvorstellungen unabhängig und
kann sowohl vom einen wie vom anderen eingesetzt werden.
Welthistorisch
betrachtet waren bis zur Ära Scharon Guerillakrieger mit herkömmlichen
militärischen Mitteln praktisch unbesiegbar. David kämpft gegen Goliath –
und gewinnt wie weiland David im Alten Testament. Um den fremden
Besatzer zu schwächen, zu verunsichern, zu entnerven und so schließlich
zum Rückzug zu bewegen, überfielen einheimische, zivil, also ohne
Uniform oder Kriegerabzeichen gekleidete Kleinkrieger das feindliche
Militär aus dem Hinterhalt. Halt, Unterschlupf und Schutz bot ihnen die
eigene Zivilbevölkerung. Dort, so Mao, bewege sich der Guerilla wie der
Fisch im Wasser.
Die
zivile Quelle wurde von den fremden Soldaten früher oder später erkannt.
Doch ins gegnerische Zivil schießt kein Militär so unbeschwert, wenn
überhaupt, wie auf gegnerische Soldaten, die als solche eindeutig
erkennbar sind. Das ist eine militärpsychologische Grundtatsache.
Die
Grundüberlegung der Guerilla ist dabei ebenso einfach wie doppelbödig
und letztlich zynisch. Das eigene Zivil ist freiwilliger Partner und
eher unfreiwillig Geisel.
Die eigenen Zivilisten, die sich den Guerillas
entziehen oder verweigern, werden als "Kollaborateure" des Feindes
denunziert und liquidiert.
Dieses
Szenario bedeutet für jedes herkömmliche Militär: Wenn sie siegen
wollen, müssten sie sowohl die gegnerischen, zivil getarnten, Krieger
als auch die Zivilisten des Gegners bekämpfen, notfalls vernichten.
Letzteres ist in der ohnehin schon grausamen Weltgeschichte der Kriege
gottlob eher die Ausnahme. Man denke an den gnadenlosen
Vernichtungskrieg der Regierung von Sri Lanka gegen die Tamilen im
eigenen Staat oder an Julius Caesars gallischen Krieg. An dessen Ende
war, so der zynische Caesar voller Genugtuung, Gallien "befriedet",
sprich: durch verbrannte Dörfer, Städte, Erde vernichtet. Bis zu Scharon
galt also im Anti-Guerilla-Krieg: Rückzug oder physische Vernichtung
des Gegners.
Wegen der
räumlichen Nähe der feindlichen Zivilbevölkerung haben die
palästinensischen Kleinkrieger die klassische Guerillastrategie um eine
Variante erweitert: den Terror. Während die Guerilla auf das feindliche
Militär zielt, richtet sich Terror gegen das Zivil des Feindes. Aus und
ins eigene Zivil bewegten sich sowohl die palästinensischen Guerillas
als auch Terroristen. Ob sie wollten oder nicht, palästinensische
Zivilisten mussten "ihre" Guerillakämpfer und Terroristen decken. Wie in
jedem Guerillakrieg gab es solche, die freiwillig mitmachten, andere
unfreiwillig, weil unter Mordandrohung er- und gepresst.
Genau
hier setzte Anfang der 50er- Jahre die Anti-Guerilla- und
Anti-Terror-Strategie Scharons an. Und kein Zweifel, es war vor allem
er, der sie gedanklich entwickelte und dann auch anwandte. Zunächst,
sein eigenes Leben immer wieder riskierend, als aktiver, an der Seite
seiner Kameraden kämpfender Soldat, später als Minister und schließlich
als Ministerpräsident. Als Militär und Politiker verlangte er von ihnen
nicht mehr als von sich selbst – aber auch nicht weniger. Weil fordernd,
hochriskant und anstrengend, führt diese Haltung selten zu Beliebtheit,
aber zu Respekt, Furcht und Hass.
Der
israelischen Spionage gelang es seit jener Zeit immer besser,
diejenigen Palästinenser ausfindig zu machen, die sich ihren Kriegern
und Terroristen entziehen wollten und deren Pläne, Aufenthalt und andere
wichtige Informationen den Israelis aus Selbstschutz oder Eigennutz
oder anderen Motiven preiszugeben bereit waren. Man kann auch sagen: zu
verraten, doch das wäre schon die Bewertung und nicht die Beschreibung
der scharonschen Strategie.
Auf
diese Weise konnten nun Scharon, seine und spätere Elitesoldaten
Israels mit gewagten Kommandoaktionen gezielt Terror- oder
Guerillaaktionen vergelten oder verhindern. Anders als Caesars alles
vernichtender Krieg war und ist dies ein begrenzter und gezielter Kampf
gegen die Feuerquelle. Scharon entzog – Maos Definition folgend – den
Fischen das Wasser.
Das
liest sich so glatt und scheinbar elegant. Tatsächlich ist von
schlimmen, grausamen, unmenschlichen Dingen die Rede. Oft wurden bei den
israelischen Präventiv- oder Reaktivaktionen unschuldige, unbeteiligte
Zivilisten getötet. Mal mehr, mal weniger, immer zu viele, weil jeder
Einzelne zu viel ist. Krieg ist Krieg, sein Gesetz grausam, entsetzlich,
unmenschlich. Es gilt, ihn zu verhindern. Doch wenn ausgebrochen – und
Israels Überleben haben Palästinenser und arabische Staaten seit jeher
bekriegt – muss er gefochten und gewonnen werden, um zu überleben. Es
ist ein Gebot der Menschlichkeit, die Verluste des Feindes zu
minimieren. Töten darf nie Selbstzweck sein. Daran hielt sich die
Scharon-Strategie weitgehend. Sie wurde im Krieg entwickelt, um Krieg zu
beenden. Es war zu spät, ihn zu verhindern.
Jenes
Instrumentarium haben Israels Militär, Politik und Nahost-Wissenschaft
so sehr verfeinert, dass immer weniger Kollateralschäden zu beklagen
waren. Die "gezielten Tötungen" gehören zu den neueren Methoden im alten
Vorgehen. Die Drohnentechnik, in Verbindung von Aufklärung und
Tötungsfertigkeiten, macht es möglich. Die USA
wenden sie in Afghanistan, Pakistan, Somalia und im Jemen an. Alle
werden nachziehen, denn die Scharon-Strategie ist nun allgemein – und
deshalb historisch.
Ganz
auszuschließen waren und sind auch dabei unbeabsichtigte Schäden nie.
Das politische, sprich: strategische Ziel der militärischen Aktionen war
für Scharon und seit Scharon für Israel
eindeutig: Die mehrheitlich friedlich gesinnten palästinensischen
Zivilisten sollen ermutigt werden, sich dem durch die Scharon-Strategie
sinnlos gewordenen Guerilla- und Terrorkrieg zu verweigern.
Das sei für die
palästinensischen Zivilisten zwar nicht unriskant, doch letztlich
weniger selbstmörderisch als die Fortsetzung der Gewalt. Nach Beendigung
der Gewalt könne, müsse und werde eine politische, politisch-friedliche
Lösung gefunden.
War
der Krieger Scharon also ein Mann des Friedens? Ja und nein, gerade weil
er in der Anwendung seiner Strategie unglaubliche Konsequenz bewiesen
hat. Was heißt "Konsequenz"? Scharon war knallhart und nicht selten
brutal. Blut klebte an seinen Händen, und sein Beiname "Bulldozer" kommt
nicht von ungefähr. Man denke an den Verteidigungsminister, September
1982, im Libanonkrieg gegen die PLO. Seine Truppen standen Gewehr bei
Fuß, als Christenmilizen Hunderte von Palästinensern in den Lagern Sabra
und Schatila massakrierten.
Im
aufgezwungenen Krieg war sein Krieg seine Politik – das, was er für
seinen Weg zum Frieden hielt. Das sei nun kurz skizziert.
Scharons rein
militärische Leistungen mögen andere würdigen: Die Kommandoaktionen seit
1953, sein Einsatz in den Kriegen von 1956 (Sinaifeldzug), 1967
(Sechstagekrieg), 1973 (Jom-Kippur-Krieg).
Gerade im Oktober 1973 zeigte
sich der politische Kopf und Charakter dieses scheinbar Nur-Haudegens:
Er widersetzte sich den Vorgaben seines Oberbefehlshabers und erzielte
damit, aus der Defensive, den militärischen Durchbruch gegen die Armee
Ägyptens, die er einkesselte. Er stand rund 100 Kilometer vor Kairo. Und
damit war eine politische Lösung möglich. US-Außenminister Henry
Kissinger begann sie, Israels Premier Begin vollendete sie 1977 bis 1982
– unter maßgeblicher Beteiligung Scharons.
Die erstmalige Räumung
israelischer Siedlungen auf dem Sinai zugunsten des Friedens mit Ägypten hat Minister Scharon im April 1982 federführend für seinen Ministerpräsidenten durchgesetzt, nein, durchgeboxt.
Schon
zuvor, Anfang der 70er, als Kommandeur der Südarmee, hatte er die
menschenunwürdigen palästinensischen Flüchtlingslager im Gazastreifen
sanieren wollen. Dafür wurde ihm von der PLO – und den UN! –
Unmenschlichkeit unterstellt. Es blieb also bei den unmenschlichen
Bedingungen, die immer unmenschlicher wurden und so die Palästinenser
weiter radikalisierten. Das genau hatte die damalige PLO gewollt. Die
islamistische Hamas erntete die Früchte – gegen die PLO und Israel.
Wäre
der Scharon-Plan realisiert worden, hätte sich die Politik in Gaza
anders entwickelt. Menschlicher. Nein, nicht aus reiner Menschenliebe
oder zum ausschließlichen Wohl der Palästinenser hat Scharon diesen Plan
entwickelt. Er wollte den Guerilla- und Terrorfischen das Wasser
entziehen.
Wie ist seine
seit 1977 vehement betriebene Siedlungspolitik zu beurteilen? Etwa
auch, wieder gegen den Strom schwimmend, positiv, friedensbezogen? Ja,
auch wenn mich manche Leser dafür steinigen. Der massive Aus- und Aufbau
israelischer Siedlungen im Westjordanland begann 1977 unter der Regie
von Begin und Scharon. Gleichzeitig führte die
Begin-Scharon-Dajan-Regierung seit jenem Sommer hinter den Kulissen und
seit November auf der weltpolitischen Bühne Friedensgespräche mit
Ägyptens Präsident Anwar al-Sadat.
Im September 1978 wurde das
Camp-David-Abkommen geschlossen, im März 1979 der israelisch-ägyptische
Friedensvertrag. Beide sahen für Gaza und das Westjordanland eine
weitgehende Selbstverwaltung ("Autonomie") vor.
Deren politische Dynamik
hätte unweigerlich zur Gründung eines Palästina-Staates geführt.
Wenn
die PLO unter Arafat diesen Prozess nicht torpediert und sich sowie das
Volk der Palästinenser damit selbst geschädigt hätte. Zunächst waren
diese Siedlungen nämlich ein israelisches Druckmittel in den
Friedensverhandlungen: Wenn wir einen politischen, nicht militärischen
Weg finden, bauen wir auch keine Siedlungen. Legt die Waffen nieder, und
es gibt keine neuen. Macht ihr weiter, wird unser Appetit auf
Siedlungen größer. So oder so, aus Sicht Scharons nur vorteilhaft.
Jene
leisen Töne wurden auch international überhört, und die sich dann
entwickelnde Eigendynamik der Siedlungspolitik führte dazu, dass heute
rund eine halbe Million Israelis im Westjordanland (einschließlich
Ost-Jerusalems) leben. Auch das wäre vermeidbar gewesen, wäre Scharons
Signal verstanden worden. Dass es nicht verstanden wurde, überrascht
noch mehr, wenn man bedenkt, dass Scharon als erster etablierter
Politiker, als erste Nichtfriedenstaube Israels, vor Sadats historischem
Besuch in Jerusalem
(November 1977) seine Bereitschaft bekundet hatte, mit Arafat und der
PLO zu verhandeln.
Wörtlich: "Es kommt nicht darauf an, mit wem, sondern
worüber und wofür verhandelt wird." Überhört, abgelehnt.
Als
Ministerpräsident entwickelte er die Anti-Terror-Strategie weiter,
nachdem sich palästinensische Überfälle und Anschläge auf israelische
Zivilisten und Militärs in der zweiten Intifada (2000–2005) aus dem
Westjordanland gehäuft hatten. Er ließ zwischen Israel und dem
Westjordanland einen "Trennzaun" bauen. Faktisch ist es eine Mauer. Sie
stellt die Berliner Mauer in den Schatten. Sie trifft das Westjordanland
bis ins Mark. Das ist die eine, inhumane Seite.
Die andere, humane:
Ohne eine verheerende Militäraktion zu starten, hat sich Israel als
Terrorzielscheibe entzogen. So besiegte Scharon die zweite Intifada.
Im Grunde genommen handelte Scharon wie einst Bismarck, 1866 nach dem gewonnenen Krieg gegen Österreich.
Er schlug es militärisch und öffnete den Rückweg in die Politik. Diesen
Weg ging Scharon 2005 weiter: Gegen den massiven Widerstand seiner
Koalition, Partei und Öffentlichkeit räumte er alle Siedlungen im
Gazastreifen.
"Land für Frieden". Die internationale Gemeinschaft
forderte und fordert das von Israel seit jeher.
Statt Frieden fürs
Gaza-Land bekam Israel von der Hamas allerdings Raketen. Doch Scharon
wollte den politischen Weg fortsetzen. Dafür gründete er eine eigene
Partei. Er verließ den von ihm 1973 mitgegründeten Likud. Gemäßigte
Politiker wie Schimon Peres schlossen sich ihm an. Im Januar 2006 wurde
Scharon vom Schlag getroffen.
Seine Nachfolger hatten nicht den Willen, die Fähigkeit oder die Kraft, Scharons Weg zum Frieden zu vollenden.
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