Stationen

Dienstag, 31. Oktober 2017

100 Jahre Bobrowski

"Im Sommer, abends, fliegt das Käuzchen die Straße entlang. Dann stehn wir auf und gehn ans Fenster. [...] Über der Laterne, in dem Ahornbaum vor dem Haus bleibt es eine Weile sitzen, und ruft nicht mehr, aber wir können es sehn. [...] Dann fliegt das Käuzchen weiter und schreit auch wieder im Flug. Und wir kommen uns vor, als seien wir jetzt aufgewacht. [...] Wir sind aufgewacht, im Dunkeln."
Johannes Bobrowskis Kurzgeschichte "Das Käuzchen" entstand im Spätsommer 1963. Die Tinte war noch nicht getrocknet, da las er den Text bereits auf der Jahrestagung der Gruppe 47 in Saulgau – und wurde gefeiert, wie bereits ein Jahr zuvor, wo er den Preis der Gruppe erhielt.
Der 46-Jährige durchlebt gerade seine produktivsten Jahre. 1961 debütiert er mit dem Gedichtband "Sarmatische Zeit", bereits 1962 erscheint ein zweiter Band mit Gedichten: "Schattenland Ströme" - und im Juli 1963 beendet er den Roman "Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater".
An Felix Berner von der Deutschen Verlags-Anstalt schreibt Bobrowski am 6. August 1963:
"Ich hab also in drei Wochen diesen elenden Roman fertiggeschrieben, als ein Notdach über dem Kopf, und ihn dem Union Verlag mit allen Rechten aufs Haupt geschlagen. [...] Ich bin müde. Stoff, Schreibweise, alles liegt hinter mir, ich will auch den letzten Rest davon vergessen. Sonst krieg ich den Kopf nicht frei: Für die Erzählungen, die gut werden sollen."

Verlage aus der ganzen Welt verlangen nach dem begabten Lyriker 

Mit dem Roman begibt sich der bislang als Lyriker geschätzte Bobrowski einen Schritt weiter in eine literarische Öffentlichkeit, der er sich eigentlich "nicht gewachsen" und in der er sich deplatziert fühlt.
"Levins Mühle" ist noch nicht erschienen, da kämpfen bereits mehrere westdeutsche Verlage um die Rechte – die Deutsche Verlags-Anstalt, der Rowohlt Verlag, S. Fischer, Wagenbach. Auch aus dem Ausland kommen zahlreiche Anfragen.
Der Autor gerät in einen Sog von Begehrlichkeiten und Verpflichtungen – das erhoffte "Notdach über dem Kopf" droht einzustürzen. Sein stets offenes Haus am Berliner Stadtrand gleicht einem Taubenschlag.

Michael Hamburger, dem befreundeten Lyriker und Übersetzer, gesteht er, dass ihm der "Beruf eine kaum mehr erträgliche Last" sei und Elisabeth Borchers im Luchterhand Verlag teilt er am 9. Januar 1964 mit:
"Wir haben die letzte Zeit in lauter Angst vor Besuchern verbracht, es kamen plötzlich so viele, und ich hab schon panische Furcht vor neuen Gesichtern. An die vierhundert Briefe liegen unbeantwortet, unbedankt. Bücherberge ungelesen."
Bobrowskis "Käuzchen"-Geschichte wird in diesem Kontext zur Allegorie. Aus einer verschleierten Bildlichkeit heraus - zwischen Vogelschrei, Ermüdung und Erwachen -, wird flüsternd gefragt: "Sag doch, wie leben wir hier? Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit?"

Es gilt, sich zu verorten

Wieder einmal gilt es, sich zu verorten – in der Sprache, die "abgehetzt / mit dem müden Mund / auf dem endlosen Weg / zum Hause des Nachbarn" ist - wie es im Gedicht "Sprache" aus dem Band "Wetterzeichen" heißt.
Zwischen den Zeilen des "Käuzchen"-Textes lässt sich eine literarische Topografie entdecken, die der Autor-Erzähler in einem geschickten pars pro toto-Verfahren anhand vertrauter Naturmotive entwickelt: dem "Ahornbaum vor dem Haus", den Grillen "vor den Fenstern", den Traumhäusern und dem "eingefahrenen Sandweg" - "ohne Gräben".
Es ist eine Landkarte, auf der sich die Kindheits- und Kriegserinnerungen des Autors durchkreuzen, und die sich vom Memelgebiet, über Polen, Frankreich und Russland bis in den südöstlich von Berlin gelegenen Stadtteil Friedrichshagen erstreckt, wo Bobrowski seit 1949 wohnt. Der Käuzchenschrei ruft diese Topografie als eine "Lebenswunde" erneut ins Gedächtnis – und kann als ein ins poetische Bild gesetzter Hilferuf des Dichters verstanden werden.
Denn durch Bobrowskis Biografie, die mit 48 Jahren knapp bemessen ist, geht der historische Riss. Zwölf Jahre vergingen davon als deutscher Wehrmachtssoldat im Krieg und in sowjetischer Gefangenschaft - aber er hatte überlebt. Um sich als Schriftsteller in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zu behaupten, bleibt ihm nur wenig Zeit.

Natürlich sollte man Johannes Bobrowski lesen, um in seiner Lyrik und der Prosa die existenziellen Beschwörungsformeln in ihrer zeitgeschichtlichen Dimension zu verstehen: Das lyrische Hauptwerk "Sarmatische Zeit", "Schattenland Ströme" und "Wetterzeichen"; die Romane "Levins Mühle" und "Litauische Claviere", und vor allem die Erzählungen: In diesen kostbaren Miniaturen artikuliert der Autor sein Weltverhältnis, pendelnd zwischen Erfahrung und Hoffnung, in einer an der mündlichen Rede geschulten Sprache.
In nur einem Jahrzehnt - zwischen 1955 und 1965 – entstanden, durchzieht dieses Werk die Sehnsucht nach einem Gespräch, in dem sich "Zeugenschaft" und Historie in ihrer Verkettung durchdringen. Immer wieder wird beschworen, was letztlich "nicht ausdrückbar" ist, und doch "der Ort", "wo wir leben", wie es in der "Käuzchen"-Geschichte heißt.

"Es muss getan werden, nur auf Hoffnung"

Ich bin "gegen die großen Worte gegen die überdimensionierten Ansprüche", so Bobrowski 1962 in seiner Rede vor der "Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg", ich bin "dafür, dass alles immer neu genannt wird, was man so ganz üblich als «unbewältigt» bezeichnet, aber ich denke nicht, dass es damit «bewältigt» ist. Es muss getan werden, nur auf Hoffnung". Die Rede gehört zu den wenigen Texten, in denen er sein dichterisches Selbstverständnis explizit benennt.
Wie wichtig es ihm war, verstanden zu werden, wurde bereits anhand der in Einzelausgaben erschienenen Briefwechsel mit dem Dichter und "Sinn und Form"-Redakteur Peter Huchel, dem Malerfreund Albert Ebert sowie dem Lyriker Michael Hamburger deutlich.

Zwei lesenswerte Neuausgaben zum 100. Geburtstag

Nun ist im Göttinger Wallstein-Verlag eine vierbändige Brief-Ausgabe erschienen, die eine wahre Fundgrube darstellt, was biografische Fakten und Verläufe, Gespräche mit Freunden und Schriftstellern sowie Erläuterungen zur Entstehung und Deutung der Texte betrifft. Mit mehr als 1200 Briefen aus drei Jahrzehnten ist damit Bobrowskis Briefbestand vollständig erfasst und mit dem jeweiligen Standort verzeichnet.
Diese prächtige Publikation der Briefe korrespondiert mit einer Neuausgabe der "Gesammelten Gedichte" in einem Band aus der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart, mit der in das poetische Werk des geschichtsbewussten wie sprachsensiblen Lyrikers eingeführt wird. Sämtliche von Bobrowski selbst veröffentlichte und von ihm für den Druck vorgesehene Gedichte sowie der lyrische Nachlass aus den Jahren 1935 bis 1965 ist damit "in chronologischer Abfolge" erfasst. Beim Durchblättern überrascht die Vielfalt der poetischen Varianten, zeichnen sich Veränderungen innerhalb der Dichtung ab.
So klingen im Gedicht "Kindheit" von 1954, das an zweiter Stelle den Band "Sarmatische Zeit" eröffnet, zentrale Motive seiner Lyrik an: Retrospektiv wird ein Bild jener Welt heraufbeschworen, in der es einst möglich war, friedlich aufzuwachsen: "Da hab ich / den Pirol geliebt - / das Glockenklingen, droben / aufscholls, niedersanks / durch das Laubgehäus, / wenn wir hockten am Waldrand, / auf einen Grashalm reihten / rote Beeren". Doch Bobrowski zeichnet keine Idylle, untrügliche Zeichen einer heraufziehenden Gefahr sind bereits sichtbar: In ein Lachen hinein ertönt plötzlich die "Silberrassel / der Angst" und hinter dem Zaun "wölkt(e) Bienengetön".
Es lohnt sich, diese beiden Neuerscheinungen parallel zu lesen, da sie sich in erstaunlicher Vielfalt ergänzen.

Der "Sarmatische Divan" als lyrisches Lebensprojekt

So schreibt Bobrowski am 9. Oktober 1956, fünf Jahre, bevor er als Lyriker debütiert, an Hans Ricke, dem Freund aus der Kriegsgefangenschaft:
"Ich will meine Gedichte schreiben mit meinem ganzen verworrenen Leben, mit meinen Unzulänglichkeiten, meinem Versagen, geistig und körperlich, mit meiner Krankheit, die mich oft quält, - und mit all dem – vielleicht kleinen – Glück, das ich hatte. [...] So werde ich in den Gedichten stehen, uniformiert und durchaus kenntlich. Das will ich: eine große tragische Konstellation in der Geschichte auf meine Schultern nehmen."
Peter Huchel gegenüber bezeichnet er dieses lyrische Lebensprojekt als "Sarmatischen Divan". Denn "Sarmatien" - dem "Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Ostsee", zwischen "Weichsel und der Linie Don-Mittlere Wolga" – fühlt sich Bobrowski als einem kulturellen Raum verpflichtet.
Huchel, der lange zu den wenigen Befürwortern des Dichters zählte, hatte bereits 1955 Gedichte in der Zeitschrift "Sinn und Form" veröffentlicht und seine poetische Begabung betont.
Huchels Gedicht "Havelnacht" hatte Bobrowski in der Gefangenschaft die Augen geöffnet, das war 1947:
"Da habe ich es her, Menschen in der Landschaft zu sehen, so sehr, dass ich bis heute eine unbelebte Landschaft nicht mag. Dass mich also das Elementare der Landschaft gar nicht reizt, sondern die Landschaft erst im Zusammenhang und als Wirkungsfeld des Menschen."

Bobrowskis Briefe in einer prächtigen Ausgabe

In dem aufschlussreichen Nachwort zur Briefausgabe verweist der Herausgeber Jochen Meyer, der bis 2006 die Handschriftenabteilung im Deutschen Literaturarchiv Marbach leitete und 1990 mit dem literarischen Nachlass Bobrowskis "die erste große Erwerbung aus der ehemaligen DDR" tätigte, auf eine lange Vorgeschichte, die auch für die Neuausgabe der "Gesammelten Gedichte" relevant scheint.
Denn beide Publikationen wären nicht denkbar ohne die jahrzehntelange Forschungs- und Herausgeberleistung von Eberhard Haufe (1931-2013). Der Philologe betreute nach dem Tod des Dichters den Nachlass und gab 1987 eine erste vierbändige Werkausausgabe im Union Verlag heraus, die zehn Jahre später von der Deutschen Verlags-Anstalt neu präsentiert und durch zwei Kommentarbände ergänzt wurde. Sie war wegweisend für alle folgenden Publikationen.
Bobrowskis singuläre Bedeutung innerhalb der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts wie auch seine Position eines literarischen Außenseiters wurde damit früh skizziert.

"Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit?"

Am Beginn der Brief-Ausgabe steht eine Nachricht des Zwanzigjährigen an die Mutter. Geschrieben im Mai 1937 markiert sie eine Zäsur im Lebenslauf des 1917 im ostpreußischen Tilsit Geborenen: Der Sohn befindet sich im Reichsarbeitsdienst-Lager Bismarckhügel, nahe dem Kurischen Haff. Die Einberufung erreichte den Gymnasiasten noch bevor er das Königsberger Kant-Gymnasium mit dem Reifezeugnis beenden konnte.
"Du kannst Dir nicht vorstellen, was für ein Ton hier herrscht, wie viel Hinterhältigkeit, Egoismus, Gemeinheit man hier begegnet. Mit so wenig Menschen kann ich sprechen, so möchte ich, manchmal wenigstens, als Ersatz mit dem liebsten Menschen auf der Welt reden, wenigstens seine Worte lesen und durchdenken. Also schreib, liebe Mamma! Ich denke so oft an Dich."
Die wenigen frühen Briefe berühren. In ihnen kommt die Verbundenheit mit dem Elternhaus sowie mit der ostpreußischen Landschaft, aber auch den glücklichen Erinnerungen an die Jugendzeit in Königsberg zur Sprache, die später in seinem Werk zentrale Themen bilden. In dieser Region wurzelt Bobrowskis humanistische Bildung, seine Nähe zur Musik, aber auch zur Bekennenden Kirche sowie seine Verehrung für Klopstock, der ihm das "größte Ereignis in der deutschen Literatur" ist - und für den Philosophen Johann Georg Hamann, dem er ein Buch widmen wollte. Geblieben sind Bleistiftspuren, die er bei seiner Hamann-Lektüre hinterlassen hat.
Mit Bobrowskis Einberufung zum zweijährigen Militärpflichtdienst, der fast nahtlos in das Kriegsgeschehen übergeht, findet diese Epoche ein jähes Ende, aber der geistige Reichtum jener Jahre bleibt.

Der Grundkonflikt und seine Folgen

In der Gesamtheit des veröffentlichten Briefkonvoluts tritt nicht nur die Katastrophe des 20. Jahrhunderts deutlich hervor, sondern auch, so Jochen Meyer, der "Grundkonflikt, die Spaltung der Welt in feindliche Blöcke mit allen Begleiterscheinungen und Folgen". Bobrowski wollte auch zwischen den Fronten des Kalten Krieges ein "deutscher" Schriftsteller sein.
Dem Freund Peter Jokostra, der das Land längst verlassen hat, schreibt er im Oktober 1959:
"Hanser in München möchte eine ostdeutsche Lyrikanthologie machen, denk Dir bloß. Ich habe abgeraten. [...] ich selber werde mich nicht auf ostdeutsch firmieren lassen, sowenig wie auf »heimlich westdeutsch«. Entweder ich mach deutsche Gedichte oder ich lern Polnisch."


Viel ist in diesen Briefen über das Phänomen Bobrowski zu erfahren, der auch als Briefschreiber über ein erstaunliches stilistisches Repertoire verfügt, über Sprachwitz, schwarzen Humor, und schräge Perspektiven einnimmt, wenn es um sinnentleerte kulturpolitische Prozesse geht. Bei Verhandlungen in eigener Sache tritt er charmant, aber konsequent auf. Und dass er wirklich ein "Genie der Freundschaft" war, wie es Hans Werner Richter in seiner Grabrede formuliert, auch das wird deutlich. Denn Bobrowski verkehrte mit der literarischen Elite nicht nur schriftlich – u.a. mit Hans Werner Richter, Hans Magnus Enzensberger, Paul Celan, Günter Grass, Uwe Johnson, Nelly Sachs, Christa Reinig -, viele prominente Intellektuelle waren Gast in seinem Haus. Auch deshalb gehört er für Jochen Meyer – wie Grass, Johnson, Celan - zur "literarischen Epochenzäsur".
Anhand der akribisch erstellten Kommentarteile wird dies besonders deutlich, in denen auch die "Gegenbriefe aus dem Nachlass" ausführlich zitiert werden. Umfangreicher als die Briefe selbst stellen sie ein reiches Kompendium dar, bei dessen Lektüre neue Fragen entstehen. Die politischen Bewegungen zwischen 1937 und 1965 sind darin verzeichnet wie der komplizierte deutsch-deutsche Literaturtransfer und die kulturpolitischen Entwicklungen in der DDR der 1950er und 1960er Jahre. Da dies in den Briefen nicht immer klar zur Sprache kommt, mitunter verklausuliert werden muss, erfüllen diese Kommentare auch eine interpretatorische Aufgabe. Basierend auf Eberhard Haufes Arbeiten leistet Jochen Meyer damit einen profunden Beitrag zur Zeitgeschichte.
So hat der "Grundkonflikt" jener Jahre nicht nur räumliche Konsequenzen, da der Union Verlag, wo Bobrowski seit 1959 als Lektor arbeitet, nach dem 13. August 1961 in der Sperrzone liegt und nur noch mit Sondergenehmigung zu passieren ist.
"Die so heiklen wie differenzierten [...] Druckgenehmigungsverfahren, will sagen die Praktiken einer gesetzlich kodifizierten Zensur [...] – all das und vieles mehr gehört zum Hintergrund der hier vorgelegten Briefe aus den Jahren 1950-1965".

Der "elende Roman" und sein Erfolg

Ein anschauliches Beispiel liefern die im Umfeld der Entstehung des Romans "Levins Mühle" geschriebenen Briefe. Von den Qualen um diesen "elenden Roman" ist zu lesen, mit dem Bobrowski erstmals versucht, der "Geschichte aus Unglück und Verschuldung" in der Prosa gerecht zu werden. Aber auch von den "Hürden des Ministeriums", die genommen werden müssen. So bittet Bobrowski Gerhard Wolf, der seit 1957 freiberuflich als Herausgeber und Lektor arbeitet, um ein "Außengutachten".
In den Kommentaren dazu wird nicht nur das kulturpolitische Umfeld ostdeutscher Bürokratie skizziert, sondern auch der Wortlaut des offiziellen Gutachtens. Wolf bescheinigt dem Autor "ein ausgezeichneter Erzähler" zu sein, der "souverän, kräftig und mit Humor" schreibt. Zugleich bedient Wolf die ideologischen Vorgaben, wenn er urteilt, Bobrowski würde die "Deutschtumspolitik" ad absurdum führen und "vom standpunktlosen Modernismus der »Hundejahre« von Günter Grass" weit entfernt sein.

Eine niemals heilende Wunde

Indem Bobrowski das Schreiben in den Briefen zum Hauptthema macht, spricht er nicht nur über literarische Vorbilder: Hölderlin, Klopstock, Rilke, Barlach, Stifter, wobei er schwört, diese niemals "angezapft" zu haben. Ohne Chronist zu sein, verteidigt er darin auch sein Vertrauen in die Wirksamkeit des Verses, der mehr "Beschwörungsformel" sein sollte – und damit eine Autorenposition, die auf "Wirkung" zielt und nur durch "möglichste Authentizität" zu erreichen sei.
Wie kompliziert das Verhältnis von Authentizität und Fiktion ist, um das es Bobrowski geht, zeigt das Gedicht "Kaunas 1941".
Tatsache ist, das der 24jährige Wehrmachtssoldat Bobrowski am 28. Juni 1941 in der litauischen Stadt Kaunas einen Pogrom erlebt, bei dem 3800 Juden getötet werden. Erst 1957 wird aus dieser Erfahrung ein Gedicht, in dem das lyrische Ich fragt: "Wirst du über den Hügel / gehn? Die grauen Züge / - Greise und manchmal Knaben – / sterben dort. Sie gehn / über den Hang, vor den jachernden Wölfen her."
Nichts ist vergangen, das Sterben gegenwärtig, aber der Zeitzeuge hat eine Sprache für das Unsagbare gefunden, ohne es damit bewältigt zu haben: "Mein Dunkel ist schon gekommen" – lautet die letzte Zeile.
"Kaunas 1941" ist Teil der "Sarmatischen Zeit". Zur gleichen Zeit entsteht ein Gedicht über "Gertrud Kolmar", die 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde. Bobrowski weiß: Die Verbrechen vergehen niemals und ein Leben reicht nicht aus, darüber zu schreiben: "Ungestorben aber / die finstere Zeit, umher / geht meine Sprache und ist / rostig von Blut".
"Gertrud Kolmar" wie auch die Gedichte "Else Lasker-Schüler" von 1960, und "An Nelly Sachs" von 1961 – zwei Dichterinnen, die den Holocaust im Exil überlebten – gehen in den Band "Schattenland Ströme" ein.
Zeitgleich zum Pogrom von Kaunas, zu den Deportationen und Vernichtungen, hatte Bobrowski im Kriegsjahr 1941 in der russischen Landschaft am Ilmensee sein literarisches Thema gefunden, das eine klaffende Wunde bleibt. Denn der Körper hat ein Gedächtnis und ist an der Geschichte beteiligt, die "kein totes Material" ist. Hoffnung aber – davon war Bobrowski bis zu seinem Tod am 2. September 1965 überzeugt - gibt es nur in der Sprache, die im Gedicht "Immer zu benennen" fragt:
"Und wer lehrt mich, / was ich vergaß: der Steine / Schlaf, den Schlaf / der Vögel im Flug, der Bäume / Schlaf, im Dunkel / geht ihre Rede-?".

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