Stationen

Mittwoch, 11. Oktober 2017

Kleinstaaterei

Am vergangenen Sonntag demonstrierten Hunderttausende in Barcelona gegen die Abspaltung. Sie betrachten sich als Spanier und Katalanen gleichermaßen. Darunter waren ohne Zweifel viele, die die Teilnahme an dem Plebiszit verweigert haben, das die Regionalregierung vor zehn Tagen angesetzt hatte. Ob sie für die Mehrheit der Katalanen sprechen, ist eine andere Frage, aber aus übergeordneter Sicht unerheblich.
Denn sie bekräftigen nur den einzig denkbaren Rechtsstandpunkt: Daß die von den Separatisten beanspruchte Selbstbestimmung und mithin Loslösung von Spanien nicht zugestanden werden kann, auch wenn sich die Katalanen als „Nation“ betrachten. Ohne Zweifel ist das, was man unter dem Begriff Spanien versteht, aus der Verbindung und tendenziellen Verschmelzung mehrerer solcher „Nationen“ entstanden.
Ein Prozeß, der nie ohne Zwang ablief und dazu führte, daß Kastilien und Aragon (das Katalonien umfaßte) sowie Navarra (zu dem der westliche Teil des Baskenlandes gehört) auf den Status von Provinzen einer gesamtspanischen Monarchie absanken. Ganz ähnlich lief dieser Vorgang auf den Britischen Inseln ab, bei Entstehung des „Vereinigten Königreichs“ aus England, Wales, Irland und Schottland, oder in Frankreich, dessen Herrscher ein in sich so heterogenes Gebiet regierten, daß bei Ausbruch der Revolution nicht einmal die Hälfte der Bretonen, Normannen, Basken, Katalanen, Provencalen, Korsen, Savoyarden, Flamen, Elsässer und Lothringer Französisch sprach.
Die mobilisierende Idee ist erloschen
Wenn trotzdem Spanien, Großbritannien und Frankreich als klassische Nationalstaaten gelten, dann deshalb, weil es niemals nur die Machtmittel der Zentrale waren, die das Ganze zusammenhielten, sondern auch die mobilisierende Idee des größeren Vaterlandes. Ortega y Gasset hat das Erstarken des katalanischen wie des baskischen Nationalismus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts damit erklärt, daß diese mobilisierende Idee in Spanien erloschen sei.
Für beide Randgebiete, im Norden wie im Süden der Iberischen Halbinsel, spielte auch wirtschaftlicher Egoismus eine Rolle – der ökonomische Erfolg im Zug der Industrialisierung, dessen Ertrag man nicht teilen wollte –, aber ausschlaggebend war die Katastrophe von 1898: der definitive Zusammenbruch des spanischen Imperiums mit dem Verlust der letzten bedeutenden Kolonien. Die psychologischen Folgen für die spanische Elite waren verheerend. Die Intellektuellen der „Generation von `98“ versuchten zwar auf allen möglichen Wegen, die Demütigung und das Empfinden zu verarbeiten, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Aber im Grunde gelang das nie.
Führung von Staat und Kirche versagte
Die Führung von Staat und Kirche versagte, die Kluft zwischen den politischen Lagern konnte nicht überbrückt werden und das sich ausbreitende Chaos führte in einen blutigen Bürgerkrieg, bei dem Spanien gleichzeitig zum Schlachtfeld der totalitären Großmächte wurde. Die Krise Spaniens haben das Baskenland und Katalonien genutzt, um, ausgehend von der ihnen zugestandenen Teilsouveränität, eine allein an ihren Sonderinteressen orientierte Politik zu treiben, die wesentlich zum militärischen Zusammenbruch der Republik beigetragen hat. Das siegreiche Franco-Regime unterdrückte in Reaktion darauf alles, was irgendwie nach Sonderbestrebungen in diesen Teilen des Landes aussah.
Das nachfrankistische Spanien hat den Regionen dagegen wieder großzügig Sonderrechte eingeräumt; auch in der Hoffnung, so den Separatismus zum Erlöschen zu bringen. Aber dieses Kalkül ist nicht aufgegangen. Die Ursache liegt in der Schwäche, die Ortega y Gasset benannt hat: Spanien ist endgültig zu einem Apparat geworden, der mehr oder weniger gut funktioniert, aber keinen Stolz einzuflößen vermag.
Ein „Europa der hundert Fahnen“ funktioniert nicht
Die Staatsmaschine steht für nichts als sich selbst: „Es ist alles hohl geworden und hat einen falschen Klang. Die lebendigen Worte der Vergangenheit werden noch wiederholt, aber sie ergreifen nicht mehr; die anfeuernden Ideen sind Gemeinplätze geworden. Man unternimmt nichts Neues mehr, weder in der Politik, noch in der Wissenschaft oder Moral. Alle noch übrige Energie richtet sich darauf, jede Initiative und erneuernde Gärung zu ersticken.“
Diese Formschwäche ist kein spezifisch spanisches Problem. Sie hat alle europäischen Staaten erfaßt. Man darf aber Zweifel haben, daß in der Tendenz zu deren Auflösung in Stammesgebiete eine Lösung zu sehen ist. Ein „Europa der hundert Fahnen“ (Yann Fouéré), in dem sich eine katalanische, eine baskische, eine bretonische, eine okzitanische, eine kornische, eine walisische, eine schottische, eine flämische, eine wallonische, eine bayerische, eine westfälische und eine rheinische Republik auf gemeinsame Linien einigen müßten, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Die Brüderlichkeit dieser Klein-Nationen mag ein schöner Gedanke sein, aber es ist ein romantischer Gedanke. Das heißt, es handelt sich in Wirklichkeit nicht um jene „erneuernde Gärung“, von der Ortega y Gasset sprach, sondern nur um eine Phantasie, der der Anhalt an der politischen Wirklichkeit fehlt.  Karlheinz Weißmann

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