Am vergangenen Sonntag demonstrierten Hunderttausende in Barcelona gegen die Abspaltung.
Sie betrachten sich als Spanier und Katalanen gleichermaßen. Darunter
waren ohne Zweifel viele, die die Teilnahme an dem Plebiszit verweigert
haben, das die Regionalregierung vor zehn Tagen angesetzt hatte. Ob sie
für die Mehrheit der Katalanen sprechen, ist eine andere Frage, aber aus
übergeordneter Sicht unerheblich.
Denn sie bekräftigen nur den einzig denkbaren Rechtsstandpunkt: Daß
die von den Separatisten beanspruchte Selbstbestimmung und mithin
Loslösung von Spanien nicht zugestanden werden kann, auch wenn sich die
Katalanen als „Nation“ betrachten. Ohne Zweifel ist das, was man unter
dem Begriff Spanien versteht, aus der Verbindung und tendenziellen
Verschmelzung mehrerer solcher „Nationen“ entstanden.
Ein Prozeß, der nie ohne Zwang ablief und dazu führte, daß Kastilien
und Aragon (das Katalonien umfaßte) sowie Navarra (zu dem der westliche
Teil des Baskenlandes gehört) auf den Status von Provinzen einer
gesamtspanischen Monarchie absanken. Ganz ähnlich lief dieser Vorgang
auf den Britischen Inseln ab, bei Entstehung des „Vereinigten
Königreichs“ aus England, Wales, Irland und Schottland, oder in
Frankreich, dessen Herrscher ein in sich so heterogenes Gebiet
regierten, daß bei Ausbruch der Revolution nicht einmal die Hälfte der
Bretonen, Normannen, Basken, Katalanen, Provencalen, Korsen, Savoyarden,
Flamen, Elsässer und Lothringer Französisch sprach.
Die mobilisierende Idee ist erloschen
Wenn trotzdem Spanien, Großbritannien und Frankreich als klassische
Nationalstaaten gelten, dann deshalb, weil es niemals nur die
Machtmittel der Zentrale waren, die das Ganze zusammenhielten, sondern
auch die mobilisierende Idee des größeren Vaterlandes. Ortega y Gasset
hat das Erstarken des katalanischen wie des baskischen Nationalismus
seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts damit erklärt, daß diese
mobilisierende Idee in Spanien erloschen sei.
Für beide Randgebiete, im Norden wie im Süden der Iberischen
Halbinsel, spielte auch wirtschaftlicher Egoismus eine Rolle – der
ökonomische Erfolg im Zug der Industrialisierung, dessen Ertrag man
nicht teilen wollte –, aber ausschlaggebend war die Katastrophe von
1898: der definitive Zusammenbruch des spanischen Imperiums mit dem
Verlust der letzten bedeutenden Kolonien. Die psychologischen Folgen für
die spanische Elite waren verheerend. Die Intellektuellen der
„Generation von `98“ versuchten zwar auf allen möglichen Wegen, die
Demütigung und das Empfinden zu verarbeiten, auf sich selbst
zurückgeworfen zu sein. Aber im Grunde gelang das nie.
Führung von Staat und Kirche versagte
Die Führung von Staat und Kirche versagte, die Kluft zwischen den
politischen Lagern konnte nicht überbrückt werden und das sich
ausbreitende Chaos führte in einen blutigen Bürgerkrieg, bei dem Spanien
gleichzeitig zum Schlachtfeld der totalitären Großmächte wurde. Die
Krise Spaniens haben das Baskenland und Katalonien genutzt, um,
ausgehend von der ihnen zugestandenen Teilsouveränität, eine allein an
ihren Sonderinteressen orientierte Politik zu treiben, die wesentlich
zum militärischen Zusammenbruch der Republik beigetragen hat. Das
siegreiche Franco-Regime unterdrückte in Reaktion darauf alles, was
irgendwie nach Sonderbestrebungen in diesen Teilen des Landes aussah.
Das nachfrankistische Spanien hat den Regionen dagegen wieder
großzügig Sonderrechte eingeräumt; auch in der Hoffnung, so den
Separatismus zum Erlöschen zu bringen. Aber dieses Kalkül ist nicht
aufgegangen. Die Ursache liegt in der Schwäche, die Ortega y Gasset
benannt hat: Spanien ist endgültig zu einem Apparat geworden, der mehr
oder weniger gut funktioniert, aber keinen Stolz einzuflößen vermag.
Ein „Europa der hundert Fahnen“ funktioniert nicht
Die Staatsmaschine steht für nichts als sich selbst: „Es ist alles
hohl geworden und hat einen falschen Klang. Die lebendigen Worte der
Vergangenheit werden noch wiederholt, aber sie ergreifen nicht mehr; die
anfeuernden Ideen sind Gemeinplätze geworden. Man unternimmt nichts
Neues mehr, weder in der Politik, noch in der Wissenschaft oder Moral.
Alle noch übrige Energie richtet sich darauf, jede Initiative und
erneuernde Gärung zu ersticken.“
Diese Formschwäche ist kein spezifisch spanisches Problem. Sie hat
alle europäischen Staaten erfaßt. Man darf aber Zweifel haben, daß in
der Tendenz zu deren Auflösung in Stammesgebiete eine Lösung zu sehen
ist. Ein „Europa der hundert Fahnen“ (Yann Fouéré), in dem sich eine
katalanische, eine baskische, eine bretonische, eine okzitanische, eine
kornische, eine walisische, eine schottische, eine flämische, eine
wallonische, eine bayerische, eine westfälische und eine rheinische
Republik auf gemeinsame Linien einigen müßten, wäre von vornherein zum
Scheitern verurteilt.
Die Brüderlichkeit dieser Klein-Nationen mag ein schöner Gedanke
sein, aber es ist ein romantischer Gedanke. Das heißt, es handelt sich
in Wirklichkeit nicht um jene „erneuernde Gärung“, von der Ortega y
Gasset sprach, sondern nur um eine Phantasie, der der Anhalt an der
politischen Wirklichkeit fehlt. Karlheinz Weißmann
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