An der Spitze des Zuges an diesem 18. Oktober 1817 schritt mit dem
Burschenschwert in der Hand der Jenaer Student und spätere
Philosophieprofessor Karl Hermann Scheidler als „Burgvogt“. Über 450
Studenten aus dem Deutschen Bund waren der Einladung zum Fest auf der
Wartburg gefolgt; bei einer Gesamtzahl von etwa 8.500 Hochschülern in
diesem Herrschaftsgebiet bedeutet das, daß etwa jeder zwanzigste
deutsche Student teilnahm.
Anders als das Hambacher Fest von 1832 war das Wartburgfest keine
Massenversammlung, weder volkstümlich noch weinselig. Es war eine rein
studentische Veranstaltung mit ausgesprochen protestantischem Charakter.
So fehlten auch Studenten der katholisch geprägten Universitäten (etwa
Würzburg) genauso wie die der deutschsprachigen Hochschulen der
Habsburgermonarchie (Prag, Wien, Graz oder Innsbruck).
Dominiert von nationalem und protestantischem Geist
Paarweise, meist schwarz gekleidet, zogen die Teilnehmer vom
Marktplatz zur Wartburg. Als einzige Fahne wurde die der Jenaischen
Burschenschaft mitgeführt: goldumsäumt, rot-schwarz-rot und mit dem
goldenen Eichenlaub in der Mitte. Einer der vier Fahnenbegleiter war der
Erlanger Burschenschafter Karl Ludwig Sand, der zwei Jahre später den
russischen Staatsrat und Dramatiker August von Kotzebue umbringen und so
den Anlaß für die bereits zuvor ins Auge gefaßte Demagogenverfolgung
liefern wird.
„Das deutsche Volk hatte schöne Hoffnungen gefaßt, sie sind alle
vereitelt worden. Alles ist anders gekommen, als wir erwartet haben.
Viel Großes und Herrliches, was geschehen konnte und mußte, ist
unterblieben; mit manchem heiligen und edlen Gefühl ist Spott und Hohn
getrieben worden.“ Aus den Worten des ersten Redners, des
Theologiestudenten und ehemaligen Kriegsfreiwilligen Heinrich Hermann
Riemann, sprach die ganze Enttäuschung einer Generation, die ihr Opfer
im Kampf gegen Napoleon verbunden hatte mit der Hoffnung auf ein einiges
und freies Deutschland.
Der Marburger Historiker Klaus Malettke nannte das Wartburgfest „die
erste spontane politische Veranstaltung, in der sich frei gebildete
Gruppen unmittelbar und ohne obrigkeitliches Mandat oder Sanktion im
Namen des Volkes bildeten und für das ganze Volk zu Wort meldeten.“ In
der Tatsache, daß die 300-Jahr-Feier der Reformation und das Gedenken an
die Leipziger Schlacht von 1813 zugleich begangen wurden, als
„Erinnerung an die Befreiung des Vaterlandes von der fremden Tyrannei,
an die Befreiung der Innerlichkeit und des Geistes von
römisch-päpstlicher Tyrannei und äußerer Kirchlichkeit“, habe sich die
so „merkwürdige und zeittypische Verkoppelung von nationalem und
protestantischem Geist“ ausgedrückt, konstatierte Thomas Nipperdey.
„Eine neue Form politischer Aktion“
Der nationalliberale Historiker Heinrich von Treitschke beschrieb es
etwas despektierlich: „Armin, Luther, Scharnhorst, alle die hohen
Gestalten der Führer des Deutschtums gegen das welsche Wesen flossen in
den Vorstellungen der jungen Brauseköpfe zu einem einzigen Bilde
zusammen.“ Auch eine heute eindeutig negativ konnotierte Eskalation
gehört zur Geschichte des Wartburgfestes. Außerhalb des offiziellen
Programms, aber wohl mit Zustimmung der Mehrzahl der Anwesenden – wurden
Makulaturballen (da echte Bücher zu teuer gewesen wären) verbrannt,
darunter vor allem Schriften von Gegnern des Turnwesens und der
Burschenschaft, insbesondere des Schriftstellers August von Kotzebue,
des verhaßten preußischen Polizeiministers Karl Albert von Kamptz und
des jüdischen Schriftstellers Saul Ascher.
Zum Opfer fielen auch ein preußischer Ulanenschnürleib, ein
österreichischer Korporalstock sowie ein kurhessischer Militärzopf –
Symbole der stehenden Heere und der restaurativen Politik der Heiligen
Allianz – sowie als Sinnbild der französischen Fremdherrschaft ein
Exemplar des Code Napoléon. Für Treitschke „eine unbeschreiblich
abgeschmackte Posse, an sich nicht ärger als viele ähnliche Ausbrüche
akademischer Roheit, bedenklich nur durch den maßlosen Hochmut und die
jakobinische Unduldsamkeit, die sich in den Schimpfreden der jungen
Leute ankündigten.“
Für Nipperdey war das Wartburgfest „eine neue Form politischer
Aktion. Unabhängig von aller Obrigkeit wurde aus einer privaten
Zusammenkunft eine öffentliche Demonstration; sie erfüllte ihre Träger
mit dem Glanz des Tages und der Energie der erfahrenen Gemeinschaft, und
sie provozierte ihre Gegner: sie gewann öffentliche Wirkung und wurde
zu einer Bekundung von Macht. Das war eine neue Form von Politik.“
Wegweiser für das Grundgesetz
Anfang 1818 begann man bei der Jenaischen Burschenschaft die eher
unklaren Forderungen des Wartburgfestes zu konkretisieren. Dies fand in
den sogenannten „Grundsätzen und Beschlüssen“ seinen Niederschlag. Die
Historikerin Helma Brunck hat analysiert, wie sehr die heute kaum noch
bekannten „Grundsätze und Beschlüsse von 1817“ bereits enthielten, was
in unserem Grundgesetz fest verankert ist.
Einige Beispiele:
– „Das erste und heiligste Menschenrecht, unverlierbar und
unveräußerlich, ist die persönliche Freiheit“ findet sich im Artikel 2
des Grundgesetzes (GG) wieder: „Jeder hat das Recht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.
In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
– „Das Recht, in freier Rede und Schrift seine Meinung über
öffentliche Angelegenheiten zu äußern, ist ein unveräußerliches Recht
jedes Staatsbürger, das ihm unter allen Umständen zustehen muß.“ ähnelt
dem Grundrechtsartikel 5: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort,
Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein
zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit
und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden
gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“
– „Alle Gesetze haben die Freiheit der Person und die Sicherheit des
Eigentums zum Gegenstande“ ist im Artikel 14 (GG) festgelegt: „Das
Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken
werden durch die Gesetze bestimmt.“
Der Einzelne identifiziert sich persönlich mit der Sache der Nation
Diese „Grundsätze und Beschlüsse von 1817“ waren für den
Rechtshistoriker Ernst Rudolf Huber nichts weniger als das „erste
deutsche Parteiprogramm“, eine Zusammenstellung „der Leitgedanken des
liberalen Nationalismus in Deutschland“. Die in der Folge gegründete
Allgemeine Deutsche Burschenschaft war „in aller Widersprüchlichkeit (…)
eine der ersten Bewegungen des politischen Glaubens in Deutschland: Der
Einzelne identifiziert sich persönlich mit der Sache der Nation und
setzt sich für sie in Tat und Opfer ein. Das macht ihre spezifische und
neue Radikalität aus“ (Nipperdey). Christian Vollradt
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