Freitag, 6. Oktober 2017
Bollmanns kalter Bürgerkrieg
Am vergangenen Sonntag machte sich Redakteur Ralph Bollmann im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (F.A.S) Gedanken über die Lage im östlichen, im AfD-Teil der Nation. Die Überschrift lautet: „Tag der Deutschen Einheit: Migranten im eigenen Land“. Sein Befund: Integration mißlungen. „Die Westdeutschen waren aus historischer Verantwortung bereit, Geld zu zahlen. An ihrer bundesdeutschen Leitkultur hielten sie fest.“
Die „Ossis“ wollen sie sich nicht zu eigen machen. Bis auf ein paar Ausnahmen wie die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, die Ost-Cousine von Claudia Roth. Was also tun? Der ehemalige taz-Redakteur weiß es: „Daß man Leuten, die demokratische Prinzipien in Frage stellen, nicht auch noch mit mehr Geld entgegenkommt, gilt gemeinhin als Konsens.“
Sich mit den Einzelheiten seiner Argumentation zu beschäftigen, lohnt sich nicht. Nur ein paar grundsätzliche, historische und verfassungsrechtlich-normative Anmerkungen, die Bollmann ignoriert oder gar nicht kennt.
Bundesrepublik als politischer Treuhänder der „Ostzone“
In der 1949 verabschiedeten, historischen Präambel des Grundgesetzes, dem die DDR 1990 beitrat, war die Rede vom „Deutsche Volk“, das sich in den westlichen Bundesländern konstituiert hatte. Aber: „Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, die Einheit und Freiheit zu vollenden.“ Der letzte Satz enthielt das sogenannte „Wiedervereinigungsgebot“.
Die Bundesrepublik definierte sich als politischer Treuhänder auch für die Deutschen in der damaligen „Ostzone“ und späteren DDR. Über die endgültige Ausformung des Gesamtstaates würde man logischerweise erst nach seiner Herstellung entscheiden können, wenn West und Ost gleichermaßen ein Stimmrecht besitzen würden.
Die wichtigsten Theorien zu der schwierigen staatliche Existenz im geteilten Deutschland waren: Die „Staatskerntheorie“, die die Bundesrepublik mit dem Staat „Deutsches Reich“ identisch erklärte, deren territoriale Hoheitsgewalt allerdings vorübergehend beschränkt war. Zweitens die „Kernstaatstheorie“, die ebenfalls von der Fortexistenz des Deutschen Reiches ausging, die jedoch das Verfassungsgebiet der Bundesrepublik als eigene Einheit beschrieb.
Ziel und Wunsch: die staatliche Einheit
Beide Theorien wurden zusammengefaßt unter dem Begriff „Dachtheorie“. Die „Sezessionstheorie“ definierte die Bundesrepublik gleichfalls als derzeitige Erscheinungsform des Deutschen Reiches, akzeptierte aber daneben die DDR als zweiten, neuen deutschen Staat. Die „Äquivalenztheorie“ wiederum behauptete den Untergang des Reiches und die Gleichartigkeit, Gleichberechtigung und -wertigkeit der Nachfolgestaaten BRD und DDR.
Das 1973 ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten enthielt eine Kombination aus der Staatskern-, Kernstaats- und Sezessionstheorie. Es erklärte, die Bundesrepublik sei keine westdeutsche Neugründung, sondern als Staat identisch mit dem Staat „Deutsches Reich“, territorial allerdings nur „teilidentisch“.
Sie beschränke ihre Hoheitsgewalt auf den „Geltungsbereich des Grundgesetzes“, während „andere Teile“ Deutschlands eine Staatlichkeit in der DDR gefunden hätten. Gleichwohl fühle die Bundesrepublik „sich aber auch verantwortlich für das ganze Deutschland“ und wirke auf seine staatliche Einheit hin. Diese Beschreibung entsprach den Wünschen und Erwartungen der meisten DDR-Bürger.
DDR-Bürger als menschliche Konkursmasse
Jedoch setzte sich nach 1968 in der bundesdeutschen Gesellschaft mehr und mehr die „Äquivalenztheorie“ durch und zog weitreichende Konsequenzen nach sich: Die Einheit der Nation bildete keinen Bezugspunkt mehr, der Horizont des historischen Bewußtseins verkürzte sich auf das Jahr 1945, die deutsche Zweistaatlichkeit wurde als Normalzustand und die DDR als gleichberechtigtes und faktisches Ausland anerkannt.
Es verfestigte sich eine bundesrepublikanische Teilidentität, bei der es sich, gemessen am nationalgeschichtlich begründeten Anspruch der Grundgesetz-Präambel, um einen geistigen Verfassungsbruch handelte. Sie sollte 1989/90 politisch zwar nicht zum Zuge kommen, aber sich danach als folgenreich erweisen.
Hinter ihren Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes stand – im Sinne des Verfassungstextes gesprochen – der Entschluß der DDR-Bürger, die Aufforderung in der Präambel zu befolgen, die bisher von Bonn treuhänderisch wahrgenommene Vertretung ihrer Interessen in die eigene Hand zu nehmen und sie in den gesamtdeutschen Diskurs einzubringen.
Für die in den Konsequenzen der „Äquivalenztheorie“ befangenen Träger der westdeutschen Teilidentität waren die DDR-Bürger jedoch keine Gleichberechtigten, welche die ihnen 40 Jahre lang vorenthaltenen, staatsbürgerlichen Rechte wahrnahmen, sondern sie waren die menschliche Konkursmasse des zusammengebrochenen SED-Auslands, der man aus sentimentalen, sachlich unerfindlichen Gründen gestattete, unter das Staatsdach der Bundesrepublik zu schlüpfen.
Wahlverhalten als Widerspruch
Die „Vollendung der Einheit“ war für sie nur eine Floskel unter vielen und konnte leicht durch die von der „historischen Verantwortung“ ersetzt werden. Das hieß in der Praxis, daß die DDR-Bürger sich umstandslos die westliche Teilidentität beziehungsweise „Leitkultur“ (Bollmann) als normative Vorgabe aneigneten.
Hier ist anzumerken, daß die Mehrheit der DDR-Bewohner aus einem Zustand der Unerfahrenheit, der Verwirrung und Erschöpfung heraus zunächst das genau wollten. Doch dieser Zustand scheint überwunden. Angesichts der immer schlimmeren Auswüchse einer fehlkonditionierten Politik äußert der Widerspruch sich nicht mehr sentimental, im Jammerton, sondern politisch, im zivilen Widerstand und im abweichenden Wahlverhalten. Wer diese legitime Resistenz mit Geldstrafen beantworten will, verlängert den geistigen Verfassungsbruch bis in die Gegenwart und propagiert einen kalten Bürgerkrieg!
Gewiß waren die politischen, ideologischen, institutionellen usw. Ausstattungen beider deutscher Staaten nicht gleichwertig. Nur sind die Verrücktheiten des SED-Staates und die psychischen Beschädigungen, die er hinterlassen hat, seit 1989/90 hin- und hergewendet worden.
Realitätsverlust auch im Westen
Jetzt ist es an der Zeit, den Satz von Margret Boveri aus dem Jahr 1973 zu beherzigen, wonach die deutsche Teilung auf beiden Seiten eine spiegelbildliche, „geistig-politische Schizophrenie“ und einen „totalen Realitätsverlust“ verursacht hat. Also auch im Westen. Der neunminütige Applaus, den Angela Merkel auf den CDU-Parteitag im Dezember 2015, wenige Monate nach der durch sie veranlaßten Grenzöffnung erhielt, ist nur einer von unzähligen Belegen dafür. Thorsten Hinz
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