Zur Gattung Anekdote. Im Grunde handelt es sich bei diesem Genre um die
Sage im Zeitalter der schreibfähigen Augenzeugen. Der überlieferte Kern
stimmt immer – man würde eine Überlieferung, die nicht mit dem
Charakter der Person korrespondiert, schwerlich glauben –, aber eine
gute Anekdote lebt mindestens ebenso sehr von der fiktiven, stets das
Typische vergrößernden literarischen Ausschmückung. Da sie etwas
Typisches zum Ausdruck bringen, stimmen Anekdoten immer; jede gehört in
die Kategorie Das-hätte-so-geschehen-sein-können.
Während
Anekdoten dem Historiker oder Biographen Winke geben, denen er vertrauen
darf, führen ihn Mutmaßungen der Zeitzeugen über das, was hinter den
verschlossenen Türen der prominenten historischen Gestalt geschah,
verlässlich oft auf die falsche Fährte. Joachim Fest hat zum Wert
solcher vertraulichen Spekulationen ein amüsantes Beispiel erzählt, das
selber schon wieder eine Anekdote ist.
In einer Unterhaltung mit
Hitlers Vertrautem und späterem Auslandspressesprecher Ernst ("Putzi")
Hanfstaengl habe er, so Fest, das Gespräch auf das Sexualleben des
Führers gelenkt, ein Thema, zu dem keine Quellen existieren und bei dem
niemals jemand über die Mutmaßung hinausgekommen ist. "Wissen Sie,
Hitler war ein Egomane, er war der geborene Onanist, der konnte nicht
einmal das bisschen Zuwendung aufbringen, das für den Geschlechtsakt
nötig ist", habe Hanfstaengl erklärt. Eva Braun sei zeitlebens unberührt
geblieben. Darauf Fest: "Woher wissen Sie das?" Hanfstaengl versetzte:
"Wenn Sie 12, 13 Jahre lang fast täglich mit jemandem zusammen sind,
müssen sie nicht die Lampe gehalten haben, um das zu wissen, das weiß
ich eben."
Dieselbe Frage, erzählte Fest weiter, habe er Albert
Speer gestellt. Der Rüstungsminister gehörte wie Hanfstaengl zu den
engsten Vertrauten Hitlers (mehr als das; "Sie sind Hitlers unglückliche
Liebe", soll dessen Bürochef Karl Maria Hettlage zu Speer gesagt
haben). Speer habe geantwortet: "Das ist doch ganz einfach, der war ein
Mann und musste irgendwie seinen Hormonhaushalt regulieren, der hat
natürlich ständig mit ihr geschlafen." Wiederum erkundigte sich Fest:
"Woher wissen Sie das?", und neuerlich bekam er zur Antwort: "Wenn man
12, 13 Jahre lang fast täglich mit jemandem zusammen ist, dann weiß man
das einfach." Klonovsky am 13. 8. 2017
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