Nachdem ich nun aber auf der Messe wiederum gefragt wurde, welche Bücher
der Kulturmensch meiner Meinung nach gelesen haben müsse, will ich den
Mußetag des Herrn zum Anlass nehmen, heute jene zwölf Romane
aufzuzählen, die ich über alles liebe, denen meine glühende Bewunderung
gilt und deren Autoren ich so rasend beneide, dass ich sie umbringen
würde, wenn ich mir auf diese Weise ihr Genie aneignen könnte, und sie
nicht, mit einer Ausnahme, längst schon tot wären. Mich interessiert und
begeistert in den Künsten das Wie immer mehr als das Was, weshalb es
sich hier um Bücher handelt, in denen jeder Satz dem Autor und nur ihm
gehört. Es befindet sich übrigens lediglich ein Nobelpreisträger
darunter; der "Stockholmer Elferrat" (Eckard Henscheid) leistet seit
hundert Jahren ganze Arbeit.
Also:
Marcel Proust: "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
Gut, dazu muss man eigentlich nicht viel sagen. Es ist der
Roman der Gesellschaft. Bei Proust lernt man mehr über das Leben, als
wenn man es selber lebt. Hätte ich dieses Buch eher gelesen, so mit
zwanzig, ich hätte wahrscheinlich ein anderes Leben geführt. Stilistisch
vollkommen und vollkommen einzigartig; ein Satzbaumeister sui generis.
Jeder große Autor zwingt dem Leser sein Tempo auf, doch bei Proust
lernt der Leser atmen. Sieben Bände lang. Die letzten anderthalb Seiten
sind vielleicht das Schönste, was je ein Mensch geschrieben hat. (Meine
Lieblingsfigur ist übrigens der Baron de Charlus, sozusagen der Mount
Everest des Dünkels.)
Thomas Mann: "Joseph und seine Brüder"
Manns
"Ring des Nibelungen", wie jener vom Anfang her erzählt, freilich in
diesem Fall mit der immer wieder thematisierten Unmöglichkeit, den
Anfang zu finden. Wenn die Quellen schweigen, muss der Dichter die
Geschichte nachzeichnen. Die Perspektive des allwisssenden Erzählers ist
hier auf den Höhepunkt getrieben; genial, wenngleich durch keinerlei
Quelle gedeckt, ist Manns Erfindung bzw. Entdeckung der nach hinten
(also zeitlich) offenen Identität der Personen, die auf diese Weise die
Erlebnisse der Vorfahren in verträumter Unschärfe als eigene adaptieren.
Ich habe den "Joseph" viermal gelesen und plage mich seit einigen
Jahren mit der Frage, ob Mann große Kunst oder bloß großes Kunstgewerbe
ist, doch er schreibt einfach zu schön und lässt eine untergegangene
Welt ungemein bunt und plastisch, ja riech- und schmeckbar
wiedererstehen. Man muss sich einlassen auf den Abstieg in den "Brunnen
der Vergangenheit", und wenn die "Höllenfahrt" am Anfang manchen
abschreckt, so genügt es im Grunde, das Buch "Genesis" noch einmal zu
lesen und die historischen Anspielungen einfach hinzunehmen.
Wassili Grossmann: "Leben und Schicksal"
Das
"Krieg und Frieden" des 20. Jahrhunderts, geschrieben von einem, der
dabei war; ein Epos aus den Knochenmühlen und Glutöfen, gewaltig,
ergreifend, erschütternd, wahrhaftig und unbestechlich. Grossmanns
Roman, der erst lange nach seinem Tod veröffentlicht werden konnte,
spielt in Stalingrad, in den Folterkellern der Lubjanka, im Gulag, in
deutschen Vernichtungslagern und im sowjetischen Hinterland. Es ist ein
Epos über das russische Volk, in das die kommunistischen und
nationalsozialistischen Bestien gleichzeitig ihre mörderischen Fänge
geschlagen haben; man liest es mit zugeschnürter Kehle.
Gustave Flaubert: "Die Erziehung der Gefühle"
Der
erste und zugleich illusionsloseste aller modernen Entwicklungsromane,
der uns die Entwicklung als jene Regression vorführt, auf die es wohl
meistens hinausläuft: die Verwandlung hochfliegender Träume in Indolenz
und Resignation. Frédéric Moreau, c’est moi. Wir Schriftsteller
stehen sowieso alle in Flauberts Schuld. Aber wer schreibt heute noch
Sätze wie: "Mein Herz flog wie Staub hinter ihren Schritten auf"?
Albert Vigoleis Thelen: "Die Insel des zweiten Gesichts"
Auf
dieses groteskerweise fast vergessene neunhundertseitige
Sprachkunstwerk aus dem Jahre 1953 bin ich durch Botho Strauß gestoßen,
der es mir mit den Worten empfahl, es handele sich um eine "Pflanz- und
Pflegestätte der deutschen Sprache". Das Buch spielt unter Exilanten in
den 1930er Jahren auf Mallorca, firmiert unter dem Etikett
"Schelmenroman" und ist dort ganz gut aufgehoben, kann mit einem "Plot"
kaum aufwarten, ist dafür von einer Formulierungsversponnenheit und
ungezügelten Detailausschmückungslust, für die kaum ein Gegenstück
existiert. Auf jeder Seite gibt es neue Worte zu entdecken, sogar für
den, der schon recht viele zu kennen meint. Der Erzählstil ist von jener
Heiterkeit, die sich über alle Fährnisse hinwegsetzt: "Beatricens Tag
war nicht ganz ohne Glanz in die Brüche gegangen."
Giuseppe Tomasi di Lampedusa: "Der Gattopardo"
Dieses Opus wurde hier zuletzt mehrfach gepriesen. Es ist der
Sizilienroman, ein Gesellschaftsroman – was die tiefe Einsicht in
zwischenmenschlich-gesellschaftliche Konstellationen angeht, bewegt sich
dieses Buch durchaus auf einer Ebene mit Prousts "Recherche" –, ein
Epochenwechsel- und Endzeitroman. Lampedusa erzählt vom grandiosen
Stoizismus des Fürsten Salina, der mit einer Mischung aus Grandezza,
Melancholie und Untröstlichkeit unter der glühenden Sonne Siziliens dem
Untergang seiner Klasse zuschaut.
Richard Yates: "Zeiten des Aufruhrs" ("Revolutionary Road")
Ein
illusions- und gnadenloser Falkenblick auf das Vorstadt-Individuum in
seiner satten und entsetzlichen Daseinsöde. Ein Buch, in dem jedes Wort
sitzt, in dem man kein Komma ändern könnte.
Leo Perutz: "Nachts unter der steinernen Brücke. Ein Roman aus dem alten Prag"
Je
spannender die Handlung, desto unaufmerksamer gemeinhin der Leser, doch
diese ist dermaßen raffiniert, mysteriös und durchtrieben, dass man gar
nicht anders kann, als denjenigen zu bewundern, der sich das ausgedacht
hat. In vierzehn Kapitel entrollt sich eine Geschichte, aber bis zum
letzten Kapitel weiß der Leser nicht, dass und wie die Teile
zusammenhängen, es könnten auch Geschehnisse sein, die sich unabhängig
voneinander vollziehen. Erst im vierzehnten Kapitel ist es, als liefen
unterirdische Fäden ineinander, und die Teile verbinden sich zu einem
zusammenhörigen Geflecht. Nachahmungen dieses Musters gibt es zuhauf,
etwa Kehlmanns "Ruhm" oder der Film "Babel", doch die Komplexität der
Perutz'schen Partitur bleibt unerreicht. Man hat für dieses Buch den
früher eigentlich für die Lateinamerikaner abonnierten Terminus
"Magischer Realismus" in Vorschlag gebracht (schon wieder ein
europäisches Copyright!), und in der Tat sind die Vorgänge nicht ganz
geheuer. Am Ende des ersten Kapitels läuft der Rabbi Löw zum Ufer der
Moldau, wo unter der steinernen Brücke ein Rosenstrauch und ein Rosmarin
eng ineinander verschlungen stehen, wie Liebende; er trennt die
Pflanzen, gräbt den Rosmarin aus und wirft ihn ins Wasser. In dieser
Nacht endet die Pest in der Prager Judenstadt. In dieser Nacht stirbt
die schöne Jüdin Esther Meisl, und Kaiser Rudolf II. fährt mit einem
Schrei aus dem Bett...
Vladimir Nabokov: "Lolita"
Der
Meister schlechthin. Besser schreiben geht nicht. Nabokov lesen und
danach selber etwas "zu Papier bringen", dafür musst du entweder völlig
stumpfsinnig, geldbedürftig oder ein Masochist sein.
"'Paß auf,
Lo. Laß uns das ein- für allemal klarstellen. Im rein praktischen Sinn
bin ich dein Vater. Ich bin voller Zärtlichkeit für dich. In Abwesenheit
deiner Mutter bin ich für dein Wohlergehen verantwortlich. Wir sind
nicht reich, und solange wir unterwegs sind, werden wir gezwungen sein
... werden wir ziemlich eng miteinander zu tun haben. Zwei Menschen, die
ein Zimmer teilen, geraten unweigerlich in eine Art von ... wie soll
ich sagen ... eine Art ...'
'Das Wort lautet Inzest', sagte Lo."
— – –
"Ich
hasse das Theater, weil es, historisch gesprochen, eine primitive und
angefaulte Kunstform ist; eine Form, die nach Steinzeit-Riten und
Gemeinschaftsunfug schmeckt, trotz gewisser individueller
Genie-Injektionen wie beispielsweise die elisabethanische Poesie, die
ein Leser in seinen vier Wänden automatisch aus dem Zeug
herausfiltert."
– – –
"Ich
konnte mich nicht überwinden, ihn anzurühren, um mich zu vergewissern,
daß er wirklich tot war. Er sah ganz so aus: Ein Viertel seines Gesichts
war weg, und zwei Fliegen konnten ihr unglaubliches Glück noch gar
nicht fassen."
Vladimir Nabokov: "Pnin"
Dasselbe da capo, unübertrefflich geschrieben, nur diesmal mit rührender Hauptfigur, was bei Nabokov eine Ausnahme ist.
Laurence Sterne: "Leben und Ansichten des Tristram Shandy, Gentleman"
Der
"freieste Schriftsteller aller Zeiten" (Nietzsche) und "schönste Geist,
der je gewirkt hat" (Goethe) machte 1759 die Leinen los und fuhr mit
vollen Segeln hinaus aufs Meer der Sprache, um dort von Tristram, seinem
Vater Walter Shandy und seinem Onkel Toby das Hohelied der Abschweifung
anstimmen zu lassen. Ein Festmahl und göttliches Geplauder. Ein starkes
Antidepressivum. Und ein schönes Exempel dafür, dass die Moderne ein
alter Hut ist, der schon mal besser passte.
Eckhard Henscheid: "Dolce Madonna Bionda"
Unter
allen Fabeltieren ist mir der Picaro am liebsten, weshalb hier die
pikaresken Romane anteilmäßig in CDU-Stärke vertreten sind. Wie Sterne
und Thelen gehört auch Henscheid ins fidele Detachement derer, die sich
der Selbstbefreiung des Schreibens aus der Klammer einer vermeintlichen
Publikumserwartung, aber sonst nie verschrieben haben. Wenn der "Joseph"
Manns Nibelungen-Tetralogie ist, dann ist die süße Blondfrau Henscheids
"Cosi fan tutte". Der 46jähriger Feuilletonist Dr. Bernd Hammer
befindet sich auf der Suche (wobei das schon fast zuviel gesagt ist; er
befindet sich einfach) nach einer Verflossenen, und zwar in Bergamo. In
diesem Roman passiert praktisch nichts, doch nie hat ein Autor so
liebevoll, penibel und hochkomisch dargelegt, dass der Mensch, wie
intelligent er auch sein mag, die meiste Zeit seines Daseins dazu
verdammt ist, Schwachsinn zu denken. Dieser Schwachsinn erblüht Satz für
Satz, und jeder dieser Sätze ist ein literarisches Unikum. MK am 15. 10. 2017
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