Stationen

Montag, 16. Oktober 2017

40 Jahre Deutschland im Herbst


Noch ein Wort zu den Vorfällen auf der Frankfurter Buchmesse. Spiegel online, hier als pars pro toto zitiert, berichtet: "Der Börsenverein hatte zur 'Auseinandersetzung' mit den rechten Verlagen auf der Buchmesse aufgerufen. Aktueller Stand: Provokation auf beiden Seiten, gewalttätige Angriffe von rechts, hilflose Veranstalter."

Die Tendenz ist klar: Die Rechten sind schuld. Allein durch ihre Anwesenheit provozieren sie, und wenn sich die Linken dann provozieren lassen, gibt es "gewalttätige Angriffe von rechts". Was nicht stimmt, denn es gab nur einen Angriff, näherhin: einen Schlag ins Gesicht. Aber hören wir weiter:

"Um die Stände (der Rechten – M.K.) waren gezielt bunte oder politische Gegengewichte positioniert worden – gegenüber dem Stand der Jungen Freiheit zeigten junge Hipster ihr Comicnetzwerk und Indieverlage queere Magazine; schräg gegenüber von Antaios verteilte die Amadeu-Antonio-Stiftung ihr Informationsmaterial gegen rechts. Was das half, auch schon vor der Eskalation am Samstag?

'Der Dialog mit denen, die zu Antaios kommen, ist schwierig', sagte der Sprecher der Amadeu-Antonio-Stiftung gegen Ende des ersten Publikumstags. 'Am ehesten geht das, wenn man mit Zahlen argumentieren will, aber viele wollen sowieso nur ihren Frust abladen, da ist das Weltbild so geschlossen, da kommt man nicht mehr ran.'

Gleichzeitig gab etwa Manuscriptum an, dass über Nacht ihre Bücher gestohlen worden seien. Am Freitag hatte es zudem bereits einen gewalttätigen Zwischenfall gegeben: Ein Zuschauer hatte bei einer Veranstaltung der Jungen Freiheit dem Verleger des Musikverlags Trikont einen Faustschlag verpasst, nachdem dieser nach eigenen Angaben vom Rand aus gerufen hatte, der Vortragende solle 'die Fresse halten'. Der mutmaßliche Schläger wurde festgenommen."

Um das klarzustellen: So sehr es einen auch in den Fingern jucken mag, aber auf die Glocke hauen geht unter Zivilisierten nur, wenn beide Seiten zuvor ihr Einverständnis signalisiert haben. Und man haut keine alten Mann, so unerfreulich sein Anblick, so dummdreist sein Krakeelen auch sein mag. Punkt.

Um aber auch das klarzustellen: Manuscriptum gab keineswegs nur an, dass die Bücher gestohlen worden seien, sondern das ist dokumentiert, ich habe es gesehen, und warum erwähnt Spiegel online nicht, dass der Hauptsünder Antaois sogar zweimal von nächtlichen Buchzerstörern und -dieben heimgesucht wurde? Warum berichtet das Wahrheits- und Qualitätsmedium nicht, dass Antaios-Co-Chefin Ellen Kositza unmittelbar vor der Messe einen offenen Brief an die Amadeu-Stiftung geschrieben hat, in dem sie zum Gespräch einlud, und dass sie diese Offerte am Stiftungsstand vor laufender Kamera erneuert hat? Sie lassen die Lücke mit Mutwilligkeit, es sind Lücken, die Lumpen lassen.

Ein Schmankerl am Rande: Nico Wehnemann, der Vorsitzende der Satirepartei "Die Partei", hatte "am Samstagabend gegenüber Spiegel online gesagt, es habe sich bei dem Mann, der ihn zu Boden geworfen habe, um einen Security-Mitarbeiter des Antaios-Verlag gehandelt. Er hatte zudem ein Foto von der Szene getwittert: 'Ein Nazi auf mir drauf. Privater Sicherheitsdienst streckt mich nieder.' Diese Angaben sind offenbar falsch. Laut Angaben der Polizei Frankfurt handelte es sich bei dem Mann um einen Security-Mitarbeiter der Messe Frankfurt."
Keine weiteren Fragen.

Aber noch drei Anmerkungen. Erstens: Der geplante Auftritt von Martin Sellner, wichtigster Kopf der Identitären Bewegung, konnte nicht stattfinden; linke Protestler pfiffen und lärmten so lange, bis die Messe schließt. Am Ende wird die Bühne von der Polizei geräumt. – Von wem geht hier die Aggression aus?

Einschub: Leser *** schreibt als Augenzeuge: "Zeitgleich mit Martin Sellner marschierten Polizei und Antifa ein. Die Messeleitung sah keinen Anlass die Veranstaltung durch Ausübung ihres Hausrechtes zu schützen. (...) Kubitschek machte einen taktischen Rückzug, nach ca. 15 Minuten zog die Antifa ab und Lichtmesz, Sellner und Kubitschek kehrten zurück. Die Messeleitung ließ daraufhin das Mikrofon abschalten. Das hinderte aber die wortgewaltigen Sprecher der IB nicht daran Ihre Reden zu halten. Das versuchte zwar die Messeleitung unter Hinzuziehung eines Polizeioffiziers zu unterbinden. Die skandierten Rufe der verbliebenen Zuschauer „Heuchler, Heuchler“ versuchte der Messemensch mit einem Polizeimagaphon zu übertönen. Er drückte aber den verkehrten Knopf und das Martinshorn erschall.
Die Polizei verblieb daraufhin im Hintergrund und die Veranstaltung wurde wie geplant zu Ende geführt.
Die Abschlussfeier am Antaiosstand fand in harmonischem Nebeneinander mit der Band der Gutmenschen statt. Es gab mangels Antifa keine Pöbeleien, im Gegenteil. Die freundlichen Gespräche gingen dann sogar im Bus bis zum Parkhaus weiter."

Zweitens: Wer immer um die Stände der Rechten "bunte Gegengewichte" arrangierte, hat genau das intendiert. Im Übrigen empfiehlt es sich in solchen Fällen, auch um dem Ruch der Voreingenommenheit zu entgehen, die Vorgänge einmal unter marktwirtschaftlichem Aspekt zu betrachten. Die rechten Verlage sind kleine florierende Unternehmen, die jeden Cent selber verdienen und trotz der Angriffe, trotz Buchhandelsboykotten, Bestsellerlistenfälschungen und Medienhetze ihr Geschäft machen. Die ihnen gegenüber platzierten Buntheitsgaranten werden mit staatlichen Geldern alimentiert resp. "eingefettet", wie Antaios-Verleger Götz Kubitschek zu formulieren beliebte; sie könnten aus eigenen Kräften gar nicht existieren. Es lebe die Marktwirtschaft! Und man versteht anhand dieses Beispiels, warum Sozialisten die Marktwirtschaft so sehr hassen.

Drittens: Immer mehr Menschen lassen sich diese Art der Berichterstattung nicht mehr gefallen. Nun fordert die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer eine Gebührenerhöhung für die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten (hier), zu denen – dem Geiste nach, aber vielleicht auch eines Tages buchstäblich – Spiegel online gehört. Heißt: Wenn ihr die Staatsmedien schon nicht mehr kauft und nicht mehr schaut, sollt ihr sie wenigstens mit euren Steuern finanzieren.  MK am 14. 10. 2017


Mein VW-Käfer, ob seiner subtropischen Farbe Klementine genannt, landet am 18. Oktober 1977 im Graben einer verlassenen Straße hoch nach Adamit an Israels Grenze zum Libanon. Das Steuer entgleitet mir jäh, als ein deutscher Nachrichtensender das Ende der Führer der Roten-Armee-Fraktion (RAF) verkündet, die auch Krieg gegen die Juden Israels geführt hat. Für den Suhrkamp-Verlag bereite ich Das Kibbutz-Modell vor, eine Untersuchung der Gemeinschafts-Ökonomie, die sich nach innen kommunistisch organisiert, aber nach außen als geldverdienende Firma agiert.
Sie ist Teil der damals weit verbreiteten Suche nach einer Existenz, der die diktatorischen kommunistischen Regimes verwirft und bis zu den liebenswerten, aber unstabilen Hippy-Aussteigern reicht. Adamit ist meine dritte Genossenschaft, wo ich in der hocheffektiven Apfelpflanzung arbeite und sozusagen live die Machbarkeit eines dritten Weges erprobe. Könnte man auf soziale Gebilde zurückschauen wie auf Liebschaften, so bliebe die intensivste Erinnerung an die 1910 mit Degania Aleph begonnene Kibbutz-Bewegung.
Sehend, dass ich im Rückwärtsgang schon wieder flott werde, schalte ich als erstes das Radio aus. Bald verstummt auch das Knistern des abgewürgten Motors. Ich denke an Jan-Carl Raspe (1944-1977). Er ist einer der Selbstmörder im Gefängnis Stuttgart-Stammheim. Ich kenne ihn seit 1967, als er sich der „Kommune 2“ anschliesst, in der sich auch meine Schwester Dagmar an antiautoritärer Erziehung versucht. Jan und ich sind Halbwaisen und haben in politischem Überschwang auf Soziologie umgesattelt, er von Chemie, ich von Jura.
Die Trauer kommt unvermittelt. Die Bedrückung speist sich aus der unterschwelligen Sorge, an seinem Ableben Mitschuld zu tragen. Dabei liegt der letzte Kontakt mehr als sieben Jahre zurück. Ich erinnere mich an die Umstände von damals: Bei der Befreiung von Andreas Baader (1943-1977) aus dem Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen in Berlin am 14. Mai 1970 wird der Angestellte Georg Linke durch Pistolenschüsse schwer verletzt. Daraufhin fliehen alle an der Tat Beteiligten und suchen Verstecke. Dieser Marsch in den Untergrund wird zur Geburtsstunde der „Roten Armee-Fraktion“ (RAF), die sich allerdings erst ab dem 5. Juni auch so nennt.

Meinhof soll eigentlich die ahnungslos Hereingelegte spielen

Aufgrund der Schießerei flieht auch Ulrike Meinhof (1938-1976). Sie ist Mitorganisatorin der Operation und soll eigentlich die ahnungslos Hereingelegte spielen, nach dem Motto: sie habe für eine „Organisation randständiger Jugendlicher“ mit Baader forschen wollen, der dann seinen dafür bewilligten Freigang aber böswillig mißbraucht haben. Zu ihr gibt es damals nur kurz Kontakt. Sie interessiert sich für seelische Folgen von Kollektiverziehung, als sie am Drehbuch für den Film „Bambule“ arbeitet, der 1970 im Südwestfunk ausgestrahlt wird. Sie ist die Intellektuelle unter den Militanten, gehört für ihre Genossen aber von Beginn an zu den bürgerlichen Jammerlappen und wird sich in Stammheim 1976 als erste erhängen, noch vor dem deutschen Herbst.
Als Meinhof flieht, findet sie Zuflucht in der Berliner Wohnung von Marianne Herzog (*1939), die – nach der Trennung von Schriftsteller Peter Schneider (*1949) – mit Raspe zusammenlebt und wie er aus der DDR stammt. Die berühmte KONKRET-Kolumnistin taucht nicht nur ab, sondern nutzt die Zeit zugleich für das Gewinnen weiterer Kampfgenossen, die dadurch ebenfalls verschwinden müssen. Womöglich findet sie mit Raspe über seine Diplomarbeit zur Sozialisation proletarischer Kinder eine gemeinsame Basis.
In jedem Fall sucht er Kontakt zu einer studentischen Wohngemeinschaft in der Reichsstraße 106. Er geht davon aus, dass die meisten Leute aus der linksalternativen Szene zwar nicht selbst zur Waffe greifen werden, für die militanten Genossen aber zum Wasser werden, in dem sie schwimmen können. In der Reichsstraße wohnt mit Klaus Gilgenmann (1943-2012) der letzte Vorsitzende des Berliner Sozialistischen Studentenbundes (SDS). Raspe ist sein Stellvertreter. Sein Kurier Dorothea Ridder (*1942) bittet für ihn um Unterkunft für nur wenige Nächte.
Auch ich lebe unter der 106er-Adresse und bin Raspes Stellvertreter im Sprecheramt der Soziologiestudenten an der Freien Universität Berlin. Wir sind nicht nur Gesinnungsgenossen, sondern Freunde. Er weiß, dass wir ihn mögen und zählt auf uns. Bommie Baumann (1947-2016), aus dem Arbeitermilieu und Revoluzzer bei der im Untergrund tätigen „Bewegung 2. Juni“, wird ihn 1973 für einen Freilassungs-Deal mit der – alles wissenden – DDR-Staatssicherheit mit den Worten beschreiben: Raspe „passte nicht in den Haufen; sehr still, lieb, bescheiden und solidarisch, pflichtbewusst, nicht gewalttätig“. Wir hätten es ähnlich formuliert, weil wir ihn nicht als Bewunderer revolutionärer Gewalt erlebt haben. Wir hätten indes hinzugefügt, wie sehr er sexuell noch suchte und womöglich deshalb einem Stoß Richtung männlicher Härte nicht widerstehen konnte.

Die Treue siegt über den Verrat

Wir wissen damals von der Hausmeisterin, dass sich bereits ein Polizeibeamter in Zivil nach uns erkundigt hat. Per Telefon hört Raspe deshalb kurz darauf von Gilgenmann, dass es bisher keine Toten gebe und er sich durch Auslieferung an die Polizei aus dem Wahnwitz noch rausziehen könne. Effektiver wäre allerdings gewesen, ihn in unsere Wohnung zu lotsen und dort der Polizei auszuliefern. Damals denkt an eine solche Lösung allerdings niemand. Die Treue siegt über den Verrat. Weil gleichzeitig auch viele andere ihre bürgerliche Zukunft zwar nicht gefährden, aber doch loyal bleiben wollen, gewinnt die RAF erst das Umfeld für eine lange Blutspur mit mindestens 33 Ermordeten, über 200 Verletzten und 24 Ausfällen in den eigenen Reihen, bis sie sich 1998 auflöst.
Für Raspe geht es schneller. Er kann bei seiner Verhaftung am 1. Juni 1972 in Frankfurt am Main noch drei Schüsse abgeben, trifft aber – mit Absicht? – niemanden und wird unverletzt festgenommen. Da hat er vier gemeinschaftlich begangene Morde und wohl auch einen Fememord an der RAF-Aussteigerin Ingeborg Barz hinter sich. Sein Chef, der heftig ballernde Baader, kommt nach einem Treffer am Oberschenkel ebenfalls lebendig aus der Sache heraus. In der Haft behandelt die vermeintlich faschistische Bundesrepublik die Gefangenen in Stuttgart-Stammheim – so der Gefängnispfarrer Hans-Peter Rieder – „wie rohe Eier“. Unerhört ist in der Geschichte deutscher Strafanstalten auch das Unterbringen von Männern und Frauen im selben Trakt, in dem Jan Raspe aus Radios und hereingeschmuggelten Kleinteilen simple Gegensprechanlagen installiert.
Wo steht die Bundesrepublik bei der RAF-Geburt? Ein Vierteljahrhundert zuvor ist das Reich besiegt. Adolf Hitler (1889-1945) entzieht sich durch Suizid am 30. April 1945 der Verantwortung. Die deutschen Massenmordpotentiale sind zerschlagen. Heute weitgehend verdrängt, aber für das Verständnis des RAF-Terrors unverzichtbar wird am 7. Mai 1945 – über die Schweiz und Frankreich – das Entkommen der nicht minder genozidalen Palästinenserführung unter Mohammed Amin al-Husseini (1893-1974).
Im Rang eines SS-Gruppenführers mit Büro in Berlin organisierte er den Aufbau muslimischer Einheiten und unterstützte aktiv die Judenvernichtung. Schon 1941 verspricht ihm Hitler ihre Ausweitung auf den Nahen Osten. Das Protokoll ist erhalten: „Deutschland trete für einen kompromisslosen Kampf gegen die Juden ein. Dazu gehöre selbstverständlich auch der Kampf gegen die jüdische Heimstätte in Palästina […], die Vernichtung des im arabischen Raum unter der Protektion der britischen Macht lebenden Judentums.“ 1942 spricht Husseini nach dem Ramadan aus der Moschee in Berlins Brienner Strasse vor 500 Würdenträgern vieler Nationen und im Beisein einer muslimischen Ehrenkompanie der Wehrmacht zu den Glaubensgenossen weltweit: „Ich erkläre einen heiligen Krieg, meine Brüder im Islam! Tötet die Juden! Tötet sie alle!“

Der massivste Mord an Juden seit 1945 scheitert haarscharf

Es ist Husseinis entfernter Verwandter und Nachfolger Jassir Arafat (1929-2004), den Baaders Gruppe als Mentor erwählt. Da der PLO-Chef den Holocaust vollenden will, müssen die Linksextremen ihn als Opfer der jüdischen Opfer verklären, nur so können sie ihm bedenkenlos folgen. Schon im Oktober 1969 reisen Kader der linksradikalen Tupamaros Westberlin (TW) unter Dieter Kunzelmann (*1939), Alt-Antisemit und 1967 Mitbegründer der „Kommune 1“, für ein Waffentraining zu Arafat nach Amman.
Zurück in Berlin machen sie sich umgehend daran, den massivsten Mord an Juden seit 1945 vorzubreiten. Am 9. November, dem Gedenktag für das Pogrom von 1938 („Reichskristallnacht“), soll im Gemeindehaus in der Fasanenstraße der Kern des neuen Berliner Judentums ausgelöscht werden. Zusammen mit den Spitzen der Berliner Stadtregierung geht es um 250 Menschen. Doch die Bombe explodiert nicht. Die Täter wissen nicht, dass sie sich den Sprengkörper bei einem V-Mann des Verfassungsschutzes besorgen und präparierte Ware erhalten.
Es ist Wolfgang Kraushaar (*1948) zu verdanken, dass der Tupamaro Albert Fichter (*1944) als Bombenleger der niemals bestraften Tat 36 Jahre später publik wird (Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg: Hamburger Edition, 2005). Doch nicht allein dieser ungeheuerliche Akt von Wenigen, sondern das anschließende Schweigen von so Vielen offenbart das Deutsche an der Studentenbewegung. Gemeinsam mit ihren Genossen weltweit protestieren sie gegen den Vietnamkrieg und die bürgerliche Familie. Ihren Sonderweg finden sie gegen Juden in Israel und daheim.
Auch die erzieherische Prägung spielt mit: „Wir machten die Sachen eben deutsch, richtig, ja, so richtig und deutsch“, bekennt im Nachhinein RAF-Mitgründerin Astrid Proll (*1947), Schwester von Thorwald Proll (*1941), der 1968 mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin (1940-1977) in Frankfurter Kaufhäusern Feuer legt. Die Vorstellung, dass die RAF-Leute den Kampf in den eigenen Familien gegen ihre Nazi-Eltern begonnen hätten, ist eine gerne geglaubte Legende. Aus der Gruppe ist kein einziger Vatermord belegt. Im Ergebnis ziehen sie genauso wie die Alten gegen die Juden. Lediglich bei den Vorwänden und Rechtfertigungen gibt es Abweichungen.

Eine fast symbiotische Beziehung zwischen RAF und PLO

SDS-Mann Tilman Fichter (*1937), Bruder und Fluchthelfer des Bombenlegers in Berlins Synagoge, steht auch 2005 noch ratlos vor der Tiefendynamik der Studentenbewegung: Man habe den „heimlichen Antisemitismus in der deutschen Linken überhaupt nicht ernst genommen. Als ich 1984 erneut über Linke und Antisemitismus zu diskutieren versuchte, ist es folgenlos geblieben. Ich glaube nicht, dass es uns gelingen wird, dies zu einem zentralen Thema des Selbsterkenntnisprozesses zu machen.“
Es wird 2007, bis mit Veit Medick (*1980) ein Jüngerer die erste Chronik der antijüdischen Gewaltspur durch den deutschen Untergrund nachzeichnet. Auch Gerd Koenen (*1944), der 1973 beim Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW) antritt, später aber linke Megatötungen weltweit untersucht, konzediert 2005 „die fast symbiotische Beziehung, die sich ab 1969 zwischen den extremsten Fraktionen der PLO und den deutschen terroristischen Gruppen herstellte, [und…] zu Unrecht auf die der RAF verkürzt wird“.
Bis heute sind Deutsche und Europäer, die beim Holocaust mitmachen, Rettung verweigern oder wegsehen, einem psychischen Mechanismus unterworfen, der zwar leicht zu durchschauen, aber ungemein wirkmächtig ist. Zuerst beschreibt ihn Tomas Hobbes (1588-1679) im 11. Kapitel des Leviathan (1651): „Einem Menschen mehr Schaden zugefügt zu haben, als man wiedergutmachen kann […], veranlasst den Täter, den Geschädigten zu hassen.“
Mein Freund Zvi Rix (1909 geboren in Wien und 1981 gestorben in Rechovot) verdichtet diese Einsicht zur Sentenz: „Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen!“ Dass antinationalistische Deutsche mörderisch für einen 23. Araberstaat namens Palästina kämpfen, nicht einmal friedlich jedoch dafür, dass etwa Tibeter, Kurden und Belutschen oder – damals steht das noch aus – Esten, Letten und Usbeken wenigstens einen ersten Staat bekommen, ist allein aus diesem Hass zu erklären.

0,086 Prozent der Erdbevölkerung ernten 87 Prozent der Verdammnis

Doch stehen sie damit nicht allein. Global liefert die Vernichtungswut gegen Israels Juden bis heute die Hauptleidenschaft der Menschheit. So spricht etwa während des Jahres 2015 die UNO-Generalversammlung von 193 Staaten 23 Verurteilungen gegen Mitglieder aus. Drei davon müssen sich 192 Nationen teilen. Die verbleibenden zwanzig treffen Israel. Seine 6,3 Millionen Juden – sogar im eigenen Parlament durch arabische Abgeordnete regelmäßig mit Auslöschung bedroht – stellen 0,086 Prozent der Erdbevölkerung, ernten aber, um den Faktor 1000 überrepräsentiert, 87 Prozent der Verdammnis. Weil nachdenklichere Zeitgenossen sich kaum verzeihen, einer so schlicht gestrickten Symptombildung, wie sie der Antizionismus bietet, aufgesessen zu sein, stellen sich bei entsprechenden Hinweisen Heilerfolge immerhin schneller ein als bei Hardcore-Antisemiten.
Das Schweigen der bewegten Studenten über den Angriff auf die Berliner Synagoge am 9. November 1969 signalisiert: Wir hätten bei Judentötungen in der Fasanenstraße nicht mitgemacht, aber ihr gebt – jetzt und in Zukunft – auch unserer Wut Ausdruck. Es wird noch verstörender, als am 13. Februar 1970 Holocaust-Überlebende in einem Münchner jüdischen Altenheim verbrannt werden und es wie durch ein Wunder bei sieben Opfern bleibt. Der Feuermord im Altenheim bleibt so ungesühnt wie der Angriff auf die Berliner Synagoge, bis es – 43 Jahre später – wiederum Wolfgang Kraushaar gelingt, die Täterschaft von Münchner Tupamaros, den Genossen der Berliner Täter, wahrscheinlich zu machen (Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?, Reinbek: Row0hlt, 2013).
Dass Andreas Baader am 2. April 1968 in Frankfurt bei seinen Brandschlägen mit dem Kaufhof auch ein ehemals jüdisches Warenhaus der Familie Tietz anzündet, mag noch ohne Absicht erfolgen. Danach jedoch läuft alles bei klarem Kopf. Es beginnt mit der Ausbildung zwischen Juni und August 1970 in einem Lager von Al Fatah. Nach dem Foltern, selbst Kastrieren – von deutschen Behörden bis 1992 geheim gehalten –  und Ermorden von neun israelischen Olympioniken im Münchener September 1972 verdreht Ulrike Meinhof das in ein Israel, das seine Sportler „verheizt wie die Nazis die Juden“. Wie Tupamaro Kunzelmann ist auch sie vom alten Schrot und Korn.

Kannte der Geheimdienst die Suizidpläne und hat nicht eingegriffen?

Grotesk wird die Parallele zwischen NS- und RAF-Führung im Untergang. Hitler hofft auf eine Einsatz-Armee von 20.000 Mann, die bis Ende April 1945 Berlin befreien soll, aber nicht mehr durchkommt, so dass die längst bereitliegende Giftampulle ihr Werk verrichtet. Die Stammheimer Häftlinge hoffen auf die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), der die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut gelingt. Sie machen Suizid, als ihre Freipressung scheitert, weil die GSG-9 die Maschine in den ersten Minuten des 18. Oktobers 1977 befreit.
RAF-sympathisierende Anwälte wie der spätere Innenminister Otto Schily (*1932) und der spätere Grünen-Führer Hans-Christian Ströbele (*1939) stellen den Selbstmord der Stammheimer als Mord hin. Auch der Antizionismus wäre nicht, was er ist, wenn man nicht – wie etwa RAF-Anwalt Karl-Heinz Weidenhammer – Israels Mossad beschuldigte (Karl-Heinz Weidenhammer, Selbstmord oder Mord: Todesermittlungsverfahren Baader Ensslin Raspe, Kiel: Neuer Malik Verlag, 1988)
RAF-Mitglieder wie Susanne Albrecht (*1951) und Monika Helbing (*1953) halten aber dagegen, dass die – für das Anschwärzen der Bundesrepublik – ausführlich diskutierte Operation Suicide Action zum Zuge gekommen sei. Die einzige Überlebende, Irmtraud Möller (*1947), verteidigt bis heute eine Hinrichtungsaktion durch den Bundesnachrichtendienst (BND) und – aufgrund von ermordeten US-Militärs – die CIA. Ihre Stichwunden in der Brust stammen von einem – in ihrer Zelle gefundenen – Messer aus der Gefängnisküche. Mal im Ernst: wären Profis, die dafür unerkannt an allen Wachbeamten hätten vorbeischleichen müssen, so unachtsam vorgegangen?
Nicht ausgeräumt ist allerdings der Verdacht, dass Geheimdienstler beim verfassungswidrigen Abhören der Gefangenen auch die Suizidpläne in Erfahrung bringen und direkt in der Verantwortung stehende Gefängnisbeamte darüber nicht informieren. Nach der Entführung des Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz (1922-1987) im Februar 1975 und den RAF-Morden an Bonner Diplomaten in Stockholm zwei Monate später will das Bundesamt für Verfassungsschutz auf diesem Wege Anschläge bereits im Planungsstadium erkennen. Kannte der Geheimdienst die Suizidpläne und hat dennoch nicht eingegriffen? Noch immer scheint nicht alles, was man wissen könnte, auch publik zu sein.

Eine echte Einheit von Basis und Führung schaffen die Betriebsstudenten nicht

Unter den Aktivitäten der Studentenbewegung gewinnt der antijüdische Rochus zwar die größte Langlebigkeit, aber antikapitalistische Operationen fehlen nicht. Sie lassen sich als originelle Antworten auf das stetige Verschwinden jener Fabrikarbeitermassen dechiffrieren, die das System unermüdlich als revolutionäres Subjekt aus sich hervortreibe und dadurch sein Ende herbeiführe. Diese Arbeiterklasse benötige selbstverständlich eine marxistische Avantgarde, denn man will ja in ihrem Dienst stehen und nicht gleich zu ihr gehören. Vorhanden sein aber sollte sie schon. Die Wirklichkeit geht andere Wege und drückt in Westdeutschland zwischen 1960 und 2015 den Arbeiteranteil an den Beschäftigten von 50,5 Prozent auf 21,5 Prozent (errechnet aus dieser Quelle).
Die Fraktionen des bewaffneten Kampfes – wie RAF oder Bewegung 2. Juni – zeigen gegenüber diesem Siechtum freilich mehr Kreativität als all die Grüppchen für den Aufbau kommunistischer Parteien, deren bizarrer Wettbewerb um den am tiefsten ausgedeuteten Marxismus 1979 in Monty Python’s Life of Brian treffend karikiert wird. Als Ersatz für die abseits bleibenden Arbeiter schicken die Baaders und Meinhofs Heimzöglinge oder Mitglieder von Patientenkollektiven an die Front und verschmähen auch die zugehörigen Sozialarbeiter und Krankenschwestern nicht.
Sie folgen einer Randgruppentheorie, für die Herbert Marcuse (1908-1979) mit „Der eindimensionale Mensch“ (1964) die Vorgabe liefert. Weil die Arbeiter durch Manipulation ans System gebunden würden, könne es nur noch von Außenseitern attackiert werden. Prominent wird Peter-Jürgen Boock (*1951) aus dem Landesfürsorgeheim Glücksstadt durch die Ermordung von Jürgen Ponto (1923-1977), dem Chef der Dresdner Bank. Als Strafaktion gegen den Staat für die vermeintliche Ermordung der Stammheimer steht er auch in Verantwortung bei der Erschießung von Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer (1915-1977). Den Randgruppen-Prototyp aber liefert Anführer Baader selbst, der auf dem Gymnasium scheitert und sich auf einer Privatschule für schwierige Kinder zur mittleren Reife hangelt.
Durchaus blutig im verbalen Revolutionsduktus, aber weitgehend gewaltlos operieren dagegen Studenten, die sich dem Proletariats-Schwund dadurch entgegenstemmen, dass sie die Universitäten verlassen und – ins blaue Tuch gehüllt – selbst zu Arbeitern werden. Die davon Beglückten sehen das nicht gern; denn die akademischen Arbeiter-Darsteller greifen flugs nach Gewerkschaftsposten und verstellen so den Originalen die attraktivsten Aufstiegsmöglichkeiten. Eine echte Einheit von Basis und Führung – Arbeiter und Avantgarde in einer Person – schaffen die Betriebsstudenten ohnehin nicht.
Bischöfe (von episkopos=Aufseher) sitzen auf sicheren Professorenstellen – in Bremen gehört der DKP-Professor Jörg Huffschmid (1940-2000) mit Nähe zu den Megatötern in Moskau dazu. Oder sie erben tüchtig wie der spätere Journalist Christian Semler (1938-2013). Er führt von 1970 bis 1980 die an die Megatöter in Peking glaubende KPD Kommunistische Partei Deutschlands. Solche K-Gruppen-Führer pflegen ihre eigenen Konzilien und überziehen sich wechselseitig mit Bannflüchen, weshalb die Öffentlichkeit sie weitgehend achselzuckend als eifernde Sekten verbucht.

Die Grünen werden bundesweit gezielt gekapert

Als doch noch der Groschen fällt, hilft die jahrelange Kadertätigkeit bei der Usurpierung umweltorientierter, ansonsten aber eher konservativer Parteien. In den 1980er Jahren werden Strukturen solcher Naturfreunde und Atomkraftgegner massiv unterwandert. Vor allem Die Grünen werden bundesweit gezielt gekapert und in eine schlagkräftige ökologistische Bewegung transformiert. Auf „den Dienst am Volke“ folgt die „Bewahrung der Schöpfung“. Mit vorderen Plätzen an den Fleischtöpfen der Republik und höchsten Ministerämtern wird man üppig belohnt.
Als Musterbeispiel für diese Wende fungiert wiederum Christian Semler, der als taz-Autor alsbald viel Verehrung genießt. Gleichwohl kann Michael Sontheimer (*1955) als Mitbegründer dieser links-klimatischen Gazette seinen Schrecken nicht verbergen: „In der Großen Halle des Volkes in Peking hatte Christian den Massenmörder [Führer der Roten Khmer] getroffen, unter dessen Regime rund zwei Millionen Menschen zu Tode gekommen waren. Während er von der Begegnung mit Pol Pot erzählte, immer wieder sein glucksendes Lachen.“
Gelegentlich befördert der Komfort auf den Sesseln des Apparats eine gewisse Einsichtigkeit. Zwar verschwindet das Antijüdische nicht und die Häme des RAF-Anwalts Ströbele im Jahre 1991 über die Raketen des Irak-Diktators Saddam Hussein auf Haifa und Tel Aviv sowie seine Verweigerung deutschen Schutzes wiederholt die infame Meinhof-Diktion zur Abschlachtung von Israels Olympiamannschaft. Gleichwohl verliert der Mann kurzfristig seine Pfründe als Bundeschef der Grünen. Dieter Kunzelmann gelangt zwar 1983 bis 1985 für die grüne Alternative Liste ins Berliner Abgeordnetenhaus, muss aber ertragen, dass über seinen Antisemitismus – allerdings erst zwanzig Jahre später – im Bewegungsblatt taz kritisch berichtet wird.
Während das Absterben der studentischen Kaderbewegungen minutiös rekonstruiert ist, wird selten nach dem Ausbleiben ihrer Wiederkehr gefragt. Wirkmächtig ist dabei die Auflösung der im 19. Jahrhundert geformten politischen Lager. Bis zum Sturz des europäischen Kommunismus um 1990 stehen die Linke, die Rechte und die Mitte für Beseitigung, Verteidigung und Bändigung des Eigentums. Die Mitte erringt den Sieg durch die Vollendung des Sozialstaats: Jeder Mensch wird mit Kind und Kindeskindern rundum sowie zeitlich unbegrenzt versorgt, wenn er auf den Arbeitsmärkten nicht vermittelbar ist.

Sexualität wird zum Treibsatz der Achtundsechziger

In Deutschland werden so fast zehn Millionen alimentiert. Es ist die Sozialpolitik für die non-working poor die Hauptparteien CDU/CSU und SPD. Links davon will man  eine universalistische Ausweitung dieses Segens durch das Hereinholen von Abgeschlagenen aus aller Welt. Rechts stehen die meisten Nettosteuerzahler, die all das finanzieren müssen. Zu ihnen gehören mit den working poor auch die Reste der einstmals links wählenden Arbeiterschaft. Progressive Pfründen findet man jetzt beim wohl dotierten Verteilen des rechts Abgeschöpften.
Erst einmal etwas werden, weil die Sexualität quasi automatisch die Verantwortung für Kinder mit sich bringe, lautet die pädagogische Melodie meiner Kindheit.  Und das bleibt so bis ins Mannesalter, auch wenn dies im Rückblick kaum mehr für möglich gehalten wird. Noch um 1970 ist vom gesamten Feld der Erotik straffrei und ohne Sünde allein die eheliche Sexualität, die Katholiken sogar als Fortpflanzungsakt auszuüben haben.
Verhütungsmittel erwirbt man errötend von Apothekerinnen, wenn man nicht vor Automaten in öffentlichen Toiletten angegrinst werden will. Änderung bringt zuvorderst die Rebellion junger Frauen. Das Zukunftsversprechen an die Töchter, ihre Jungfräulichkeit werde Ehemann und lebenslange Versorgung bescheren, verliert seine Glaubwürdigkeit. Bei fast neunzigprozentiger Lohnabhängigkeit landen junge Männer mit einem schweren Handicap auf den Arbeitsmärkten, wenn sie für Frau und Kinder in der Pflicht stehen, während ihre Konkurrenten in einem Rhythmus aus Lernen, Erholen und Weiterlernen davonziehen.
Trotz des Ausbleibens männlicher Versorgungsangebote sollen die Mädchen weiterhin auf Lust verzichten. Doch eine Tugend, die nicht belohnt wird geht schleichend zugrunde. Deshalb wird Sexualität zum mächtigsten Treibsatz und zugleich zum saftigstem Faszinosum der Achtundsechziger. Während viele herkömmlich geprägte Frauen mit Unruhe auf das Zerbrechen der alten Muster schauen, ergreifen ihre kühnsten Schwestern die Initiative. Die künstlerische Avantgarde hat die neuen Möglichkeiten natürlich schon zwischen den Weltkriegen antizipiert. Erich Kästners (1899-1974) „Moralische Anatomie“ von 1928 erlebt vierzig Jahre später eine enthusiastische Renaissance:
Da hat mir plötzlich und mitten im Bett
Eine Studentin der Jurisprudenz erklärt:
Jungfernschaft sei, möglicherweise, ganz nett,
besäße aber kaum noch Sammlerwert.
Ich weiß natürlich, Dass sie nicht log.
Weder als sie das sagte,
noch als sie sich kenntnisreich rückwärts bog
und nach meinem Befinden fragte.
Sie hatte nur Angst vor dem Kind.
Manchmal besucht sie mich noch.
An der Stelle, wo andre moralisch sind,
da ist bei ihr ein Loch…

Der Schritt in die Freizügigkeit erfolgt mehrheitlich schüchtern

Die Restauration der Adenauerzeit (1949-1963) kann die längst fällige „Befreiung der Frauen“ also lediglich verzögern. Gleichwohl erfolgt der Schritt in die Freizügigkeit mehrheitlich schüchtern und bei einer beträchtlichen Minderheit sogar verklemmt. Jenseits von Verlöbnis und Heirat soll es jetzt Sexualität geben. Die aber sucht immer noch nach einer respektablen Verkleidung, das Animalische will weiterhin Reputierlichkeit. Helge Sander (*1937), die mit Marianne Herzog den „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ aufbaut, foppt ihre SDS-Genossen: „Warum sprecht ihr denn hier vom Klassenkampf und zuhause von Orgasmusschwierigkeiten?“ Selbst die Pornographie – wie der heiß geliebte Comic Fritz the Cat (1965) von Robert Crumb (*1943) – legitimiert sich politisch.
Den anständigsten Vorwand liefert am Ende die Friedensliebe. Ihre Parole make love, not war wird nicht mehr übertroffen. Krieg verhindert sie zwar nicht, aber ein dramatisches Ergebnis befördert sie schon. Umgehend fallen die Geburtenzahlen, und die Pille hilft dabei. Deutschland sinkt 1972 als erstes Land der Welt unter eine Tochter pro Frauenleben. Obwohl sich darin kein exklusiv teutonischer Zug offenbart, liegt die Bundesrepublik beim Tempo seiner Umsetzung global an der Spitze. Doch auch in der Schweiz oder Österreich sowie weiteren 111 Nationen wird inzwischen die Nettoreproduktion nicht mehr erreicht. Make sex, not babies, lautet seither das unausgesprochene Programm.
Dorothea Ridder, die für ihre Kurierdienste von 1970 in Untersuchungshaft muss, findet 1967 als Aktmodell und Nachtclub-Animierdame zur endlich auch politisch gebotenen Moralüberwindung in der Kommune Eins. 2008 schaut sie zurück: „Das Komische, da war nichts von freier Sexualität. Die Männer, die da mitgemacht haben, zwar sind die sympathisch, aber: Bei mir kam da nichts hoch. Ich erinnere mich, das muss [Fritz] Teufel [1943-2010] gewesen sein, mit dem ich mal versucht habe. Damit ich nicht immer nur mit [Kommunarde] Hameister, und wir haben dann im Bett gelegen und nur gekichert, er wollte auch nicht.“ Dass die politische Hitze erotisch nicht viel abwirft, bestätigt im Rückblick meine Schwester mit der Bobachtung, dass die Genossen vor und nach 1968 lausige Liebhaber gewesen seien.

Natürlich war es geil, eine Bank auszurauben

Das führt zurück zu Jan Raspe, der „aus einer äußerst schwierigen persönlichen Situation heraus in den Umkreis der Desperado-Gruppe“ gerät, wie es verdruckst in einer 1977er Geschichte über den SDS heißt. Seine Orientierung schwankt, und von der Barbarella-Erscheinung einer Marianne Herzog mag er sich eine leichtere Festlegung auf das vorgeschriebene Geschlecht erhofft haben. Für Homosexualität findet die Bewegung in der Tat sehr lange keine Sprache. Der gemeinsame Freund Øyvind Foss, ein norwegischer Theologe, publiziert 1981 ein Buch über seine Affäre mit Raspe: Jeg elsket en terrorist (Ich liebte einen Terroristen). Zurück in der Heimat aber muss Foss sich selbst noch in den 1990er Jahren vor einer universitären Berufungskommission Fragen nach seiner „Normalität“ gefallen lassen. Er quittiert das mit dem Eingeständnis, zwar lesbisch zu sein, aber nur mit Männern zu schlafen.
Wie die Sexualität weiterhin nach anständigen Rechtfertigungen sucht, so will auch die nicht minder ewige Aggression nicht bloß als schnöder Mord und brutale Quälerei vors Publikum treten. Der Schauspieler Moritz Bleibtreu (*1971), der sich 2008 für den Film Der Baader Meinhof Komplex in die Rolle des Bandenführers einliest – Baaders Lispeln muss er weglassen –, spürt das und fast es unübertroffen konzis zusammen: „Er fand dieses Leben geil. Und natürlich war das geil, eine Bank auszurauben, ganz locker mit 120 000 Mark nach Hause zu kommen, und drei Mädels stehen da und himmeln dich an, weil du’s ja für Vietnam getan hast. Da war er dann plötzlich ein moderner Robin Hood – nimm’s den Reichen und gib’s den Armen, lebe ein regelfreies Leben, schreibe deine eigenen Gesetze. Ich glaube, etwas Cooleres als einen heiliggesprochenen Gangster gibt es wohl kaum auf der Welt“ (Katja Eichinger, Der Baader Meinhof Komplex: Das Buch zum Film, Hamburg: Hoffmann und Campe, 2008, 80 ff.)
Wenn wir heute bei islamisch verbrämten Mordtaten genau hinschauen, ob sich da nicht lediglich eine seelische Krankheit theologisch maskiert, offenbart ein solcher Blick auch bei den proletarisch drapierten Verbrechern der Vergangenheit so manchen psychopathischen Killer. Da reichen die Parallelen hin bis zur sorgfältigen Vorbereitung der Stammheimer Operation Suicide Action.
Vor allem die ausbleibenden Kinder der skandalisierten, am Ende aber nur arbeitsmarktoptimierten Frauen sind es, die eine Neuauflage von 1967  verhindern. Wenn das vermeintliche Herz des Kapitalismus heute einmal weidwund geschlagen werden soll, müssen mühsam magere Hundertschaften aus vielen Ländern Europa zusammengekratzt werden, damit hier und da – etwa bei den G-8 in Genua 2001 oder den G-20 in Hamburg 2017 – Zerstörungen gelingen, über die man sich in der vergreisenden Nachbarschaft aufregen kann.
Während die Achtundsechziger immerhin ein Jahrzehnt lang Europas Geheimdienste in Atem halten, bleibt für die Vermummten der schwarzen Blöcke nur Theaterdonner. Das gilt allerdings nicht für die ohne Not hereingeholten Heerscharen zorniger junger Männer aus dem antijüdisch geladenen Islambogen. Seit die in der Alten Welt zum Töten schreiten, wirken die 1970er Jahre zunehmend beschaulich.  Gunnar Heinsohn
Eine gekürzte Fassung dieses Textes hat die „Neue Zürcher Zeitung“ am 16. September 2017 publiziert.


Nach den Vorkommnissen auf der Frankfurter Buchmesse 2017 – ich berichtete – gibt es nun eine Petition an die Adresse des Börsenvereins, mit dem Ziel, dass sich selbiger künftig für eine respektvolle Auseinandersetzung und gelebte Meinungsvielfalt einsetzen möge, statt durch dubiose Kampfaufrufe und eigenhändige Demonstrationen zumindest zu dulden, dass selbsternannte Vorkämpfer des Guten, Richtigen und Schönen die Initiative ergreifen und mit Gewalt dort vollendete Tatsachen schaffen, wo sie mental nicht mehr hingelangen. Maos Motto „bestrafe Einen, erziehe Hundert“ kann eben keine brauchbare Maxime für die zivilisierte Auseinandersetzung in einer freiheitlichen Demokratie sein.
Da ich zu den Erstzeichnern gehöre, muss auch ich mich fragen lassen, warum ich denn ausgerechnet „diese rechten Verlage“ verteidige, was ja impliziert, dass so mancher denkt, Volkes zorniger Wille hätte diese Verlage womöglich zu Recht getroffen und man solle sich da besser nicht einmischen. Manche meinen auch, die Petition schieße „über das Ziel hinaus“, denn so schlimm sei das ganze ja nun auch wieder nicht gewesen. Schließlich sei niemand verletzt worden, die Verlage seien bei der Buchmesse immerhin dabei gewesen. Die Meinungsfreiheit sei somit gar nicht in Gefahr.
Schlimmer noch: diese Verlage inszenieten sich nur als Opfer und wollten in Wirklichkeit gar keine inhaltlich kontroverse Debatte führen. Sie wollten vielmehr, dass jeder Besucher die kruden Meinungen ihrer Autoren teile, statt diese zu diskutieren und dann kraft eigener Erkenntnis in Bausch und Bogen ablehnen zu können, und darauf gebe es nun mal kein Anrecht.
Ich halte es jedoch erstens für zynisch, jemandem die Debatte zu verweigern und ihm dabei frech zu unterstellen, er wolle diese Debatte ja gar nicht. Und zweitens wäre es selbst in dem Fall, dass jemand die Debatte verweigert, unstatthaft, als nächste Stufe der Eskalation zur Verwüstung eines Messestandes und zur Vernichtung von Büchern zu schreiten. Wie man stattdessen verfahren könnte, wenn man die Meinung des anderen überhaupt nicht mehr ertragen (vulgo tolerieren) mag, habe ich bereits ausführlich geschildert.

Abneigung ist unerheblich für die Meinungsfreiheit

Doch warum diese Charta? Und gäbe es sie auch, wenn des Nachts der Stand der Amadeu-Antonio-Stiftung verwüstet worden wäre, statt der des Antaios-Verlags? Denn ein immer wieder geäußerter Vorwurf der Gegner einer unterschiedslosen Meinungsfreiheit ist es, dass die Gegner es selbst nicht so genau damit nähmen, wenn es die andere Seite betreffen würde. Das sollten sie jedenfalls und ich würde eine solche Petition auch unterzeichnen, wenn ich davon Kenntnis erhielte.
Als der Innenminister zum Beispiel im August bei der linksextremen Plattform indymedia den Stecker zog, fand ich dies ebenso bedenklich, obwohl ich der Ausrichtung und den Inhalten dieser Seite sehr ablehnend gegenüberstehe. Doch meine Abneigung ist unerheblich für die Tatsache, dass das Recht auf Meinungsfreiheit auch für ganz weit linke Medien gelten muss. Man hätte stattdessen rechtzeitig diejenigen zur Verantwortung ziehen müssen, die indymedia dazu benutzten, Straftaten vorzubereiten oder dazu anstifteten, und hätte sich mit dem anonymen Geschäftsprinzip der Seite befassen sollen. Etwas, das man den betroffenen Verlagen auf der Buchmesse nicht vorwerfen kann. Dort gab es Verleger und Autoren, die in der Realität zu ihren Meinungen Rede und Antwort standen.
Selbstverständich hat kein Verlag das Recht, verfassungsfeindliche Inhalte zu publizieren, zur Gewalt aufzurufen oder antisemitische Hetzschriften zu verbreiten. Jedoch scheint es leider gerade so, als wolle man die fehlenden Angriffspunkte einer juristischen Haftbarmachung durch möglichst viel Getöse und blinden Aktionismus überspielen. Und genau gegen solch blindwütiges Getöse seitens des Börsenvereins richtet sich die Petition.
Mir scheint, dass sich die Meinungsfreiheit Deutschland derzeit in einer kritischen Phase befindet. Es findet eine Trennung der vormals allgemein geschützten Meinung in eine geduldete und eine erwünschte statt. Nur letztere darf sich eines privilegierten Schutzes der Institutionen und Medien erfreuen.

„Gefühlte“ Trennlinie zwischen erlaubt und verboten

Dabei verschwimmt die Trennlinie zwischen erlaubt und verboten heute sehr viel weiter ins „Gefühlte“ als noch vor wenigen Jahren, als sie noch entlang juristisch fassbarer Begriffe wie „Volksverhetzung“, „Aufruf zur Gewalt“ oder „Jugendschutz“ verlief und es dadurch bestimmten Gedanken und Meinungen schwer gemacht wurde, in der Realität Fuß zu fassen. Zu Recht! Man ist heute jedoch dazu übergegangen, nicht die Menschen vor Gewalt, sondern Meinungen vor anderen Meinungen zu schützen und geht sogar noch einen Schritt weiter: Die Orte werden für kontaminiert erklärt, an denen diese „nur geduldeten“ Meinungen auftauchen oder verbreitet werden.
Ein Restaurant, in dem sich die örtlichen AfD-Mitglieder treffen, kann heute ebenso zum „legitimen“ Ziel der Vergeltung werden wie der Messestand eines Verlags, der „geduldeten“ Meinungen eine Plattform bietet. Dabei ist es für die Vollstrecker der erwünschten Meinung unerheblich, ob im betroffenen Restaurant auch DRK-Seniorentreffs stattfinden oder was der betroffene Verlag sonst im Programm hat.
Dabei sollte man sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass weder die Mitgliedschaft in der AfD noch das Verlegen von Büchern ohne justiziablen Inhalt eine Straftat darstellt. Man darf beides, und weil beides aus gutem Grund von der Justiz nicht verfolgt werden kann, fühlen sich gewisse Kreise ermächtigt, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Dieser Vorgang ist keineswegs neu und hat einen Namen: Selbstjustiz – und die steht der Meinungsfreiheit in Deutschland immer häufiger im Weg.
Ein weiterer Vorwurf betrifft die betonten Parallelen zur Charta77, was als anmaßend bezeichnet wird. Und tatsächlich gibt es natürlich Unterschiede. Der wichtigste ist sicher, dass die tschechischen Erstzeichner dadurch in die Repressionsmühlen der kommunistischen Partei gerieten, was heute nicht droht.
Aber es gibt auch zahlreiche Gemeinsamkeiten. Auch diese Charta ist eine Verteidigung der Meinungsfreiheit, und wie die Charta77 fordert sie eine „Freiheit vor Furcht“, diese Meinungsfreiheit in Anspruch zu nehmen. Die Hysterie, mit der in Deutschland auf jede Meinung reagiert wird, wenn sie abseits des Mainstream geäußert wird, muss endlich aufhören. Ich glaube, wenn man das hinbekäme, würden alle anderen Probleme gar nicht mehr so groß und unlösbar erscheinen.
Ergänzung
Den Text oben schrieb ich als Antwort auf einige Nachfragen und Kommentare von Menschen, die möglicherweise nicht ganz verstanden hatten, was die Charta eigentlich bezweckt und stattdessen der Meinung sind, solcherlei Barrikadengesänge stünden nur Gruppen zu, die das Klima retten, Trump aus dem Amt jagen oder den Nahostkonflikt beenden wollen.
Kurze Zeit nach der Veröffentlichung hat es auch eine SPON-Kolumnistin nicht mehr im Sessel gehalten, sie musste einen Artikel schreiben, der mit dem Adjektiv „schrill“ nur unzulänglich beschrieben ist und der ein nahezu perfektes Beispiel für die Vorurteile darstellt, die Menschen über andere haben, deren Bücher sie nicht lesen und deren Meinungen sie nur aus den Echos kennen, die durch ihre eigenen Medien wabern.
Der Artikel ist absolut lesenswert, fängt er doch schon mit einer bildlichen Unterstellung an: Das Foto (Screenshot hier), das dem Artikel zur Illustration rechter Gewalt dienen soll, zeigt die T-Shirt-Aufschrift „Black-Bembl-Block“. Doch was angesichts der Statur, der Tattoos und des rasierten Schädels optisch sicher als Nazi durchgeht, entpuppt sich mittels einer Drei-Klick-Recherche als Emblem einer dem anderen politischen Spektrum zuzuordnende Organisation im hessischen Äbbelwoi-Släng.
Aber ich lasse lieber gleich die Autorin zu Wort kommen, die uns umgehend erklärt, wofür die Petition ihrer Meinung nach steht:
„Für das Recht der Rechten, ungestört Menschenhass zu verbreiten. Für den friedlichen Frieden, den Rechte nicht wollen, aber brauchen, um gegen Menschen zu hetzen, die nicht männlich und biodeutsch sind. Für den Schutzraum, den Rechte brauchen, um Andersdenkende auszubuhen, körperlich anzugreifen, mit Trillerpfeifen und der immer gleichen Verächtlichmachung zum Schweigen zu bringen.“
Mit Verlaub, Frau Berg, wo nehmen Sie das alles wahr? Menschenhass*? Hetze gegen Menschen? Das lesen Sie in dieser Petition? Also ich nicht, und ich hab auch nichts derartiges hineinformuliert.
Die Buh-Rufe, Angriffe, Trillerpfeifen und Verächtlichmachungen, die in Frankfurt zu sehen und zu hören waren, gingen also von den Rechten aus? Etwa, weil diese allein durch ihre Anwesenheit das Protestproletariat zum Buh-Rufen, zur Verächtlichmachungen und dem Einsatz der Trillerpfeifen zwang? Finden Sie nicht, dass Sie es da etwas übertreiben mit Ihrem Kampf? Ich finde ja, gerade Journalisten sollten sich des Verdrehens von Tatsachen enthalten.
Doch egal, Frau Bergs Beitrag spricht er für sich selbst. Nur noch ein kleiner Heine, gewissermaßen zur Verdauung nach dem SPON-Beitrag:
Da hab ich viel blasse Leichen
Beschworen mit Wortesmacht;
Die wollen nun nicht mehr weichen
Zurück in die alte Nacht.
Und noch etwas zu dem Wort Menschenhass:
Ich will ehrlich sein: Autoren, die das Wort „Menschenhass“ wie ein heiliges Schwert schwingen, kann ich nicht mehr ernst nehmen. Liebe ist natürlich immer viel cooler, und Hass ist nicht gerade das angenehmste der menschlichen Gefühle, soweit klar. Aber im ganz konkreten Einzelfall ist der Mensch, also der eine oder andere, das einzig legitime Ziel des Hasses. Katzenhasser, Hundehasser oder Hasser der Körperhygiene sind nunmal keine angenehmen Zeit- oder Fahrstuhlgenossen. Solche Leute hassen wir. Natürlich zu Recht! Und so ein kleiner Trump-Hass oder Erdogan-Hass zwischendurch…wer könnte da schon „Liebe!“ sagen…und die Nazis nicht vergessen!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt.

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