Stationen

Montag, 18. Februar 2019

Sie ertrinken aus Angst vor dem Feuer


 
Alle politischen Begriffe sind polemische Begriffe.» Der das sagte, war der berühmte deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt (1888–1985), zu Lebzeiten eine Koryphäe der Finsternis, international anerkannt als brillanter Jurist, aber auch ein übler Charakter, Wendehals, katholischer Antisemit und ab 1933 Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), also ein Nazi.
Und wenn wir schon einen so kontaminierten Kronzeugen beiziehen, dann nur deshalb, um eine Frage zu klären, die in den aufgepeitschten Schwarzweissdebatten der Gegenwart die Gemüter massiv zu erhitzen scheint. Gibt es eigentlich noch Nazis? Präziser: Ist es mit Blick auf die aktuellen Konfliktlinien der Politik berechtigt, den Begriff Nazi überhaupt noch zu verwenden?
Hintergrund der Frage ist der omnipräsente Gebrauch des Nazi-Vorwurfs vor allem in Deutschland. Mein Kollege Erik Ebneter hat in der letzten Ausgabe dargelegt, dass wohl noch nie so oft und so eindringlich vor Nazis gewarnt wurde wie heute. Scheinbar selbstverständlich verwenden Medienleute und Politiker dieses Wort. Wesentliche Teile des deutschen Journalismus scheinen ihre Hauptaufgabe mittlerweile nur noch darin zu sehen, ein grossräumiges Comeback der Nazis zu verhindern.
Nichts gegen Wachsamkeit, nichts gegen Frühwarnsysteme. Und sicher gibt es in Deutschland, aber nicht nur dort, immer noch Leute, Spinner, die sich nach der Hitlerzeit zurücksehnen; die Nazi-Souvenirs horten und in kranken Sehnsüchten schwelgen. Man hört auch von gewalttätigen rechtsextremen Gruppen und Einzelnen, die mit Nazi-Symbolen terrorähnliche Anschläge und Morde verüben. Das alles ist widerwärtig und schrecklich.
Jetzt aber kommt der wesentliche Unterschied: Diese Neonazis sind kein politisches Massenphänomen mehr, sondern ein Problem für den Sicherheitsapparat und die Justiz, eine polizeiliche Herausforderung. Das schmälert nicht die Verwerflichkeit ihrer Taten und Gesinnungen, aber es relativiert die politische Bedeutung.

Ihre Verbrechen sind schlimm, keine Frage, aber auch die linksextremen Ausschreitungen am G-20-Gipfel in Hamburg waren schlimm, womöglich schlimmer, aber akzeptierter, denn die Hamburger Regierung hatte die Anti-G-20-Demo «Welcome to Hell» vorgängig sogar genehmigt. Auf solches Behördenverständnis könnten deutsche Rechtsextreme zum Glück nicht zählen.
Die historischen Nationalsozialisten standen für Diktatur, Enteignung, Angriffskrieg, Juden- und Völkermord, homogene, «blutsmässig» definierte «Volksgemeinschaft». Sie standen auf Kriegsfuss mit der Demokratie und dem Rechtsstaat, der Gewaltenteilung und den Freiheitsrechten. Es gibt heute in Deutschland keine relevante politische Strömung und schon gar keine Partei im Bundestag, die auch nur im Entferntesten an diese Traditionen anschliesst.

Die früheren Nazis traten mit einem umfassenden revolutionären Anspruch auf. Sie wollten nicht nur die parlamentarische Demokratie beseitigen, sondern auch die ganze gesellschaftliche Ordnung umbauen. Carl Schmitt stand im Brennpunkt der damaligen Fundamentaldebatten über Staatsform und Verfassung. An seinem Fall zeigt sich, wie harmlos die heutigen innerdeutschen Auseinandersetzungen vergleichsweise sind und wie falsch es ist, sie mit Begriffen aus den dreissiger Jahren zu deuten.
Schmitt hat viel Unsinn geschrieben, aber der eingangs zitierte Satz hat einiges für sich. «Alle politischen Begriffe sind polemische Begriffe»: Damit wollte er sagen, dass politische Begriffe, Positionen und Parteien immer auch aus ihren Bezügen, aus ihrer konkreten Konfliktstellung, aus ihrer Zeit heraus zu verstehen sind.

Wie alles Böse fielen auch die Nationalsozialisten nicht vom Himmel. Sie waren ebensowenig ein zwingendes Produkt der deutschen Geschichte, wie gelegentlich geraunt wird. Hitlers Vormarsch fand im Ausnahmezustand einer historischen Vierfachkrise statt, die sich für Deutschland verhängnisvoll zusammengebraut hatte, nicht nur durch eigenes Verschulden: demütigender Versailler Friede, Hyperinflation, bürgerkriegsähnliche Zustände im Gefolge von Lenins weltrevolutionären Drohungen aus Moskau. Und als man das Schlimmste überwunden zu haben glaubte, schlug die weltweite Wirtschaftskrise ein.
Wer also heute mit Blick auf das relevante politische Deutschland von Nazis spricht, verharmlost nicht nur die richtigen Nationalsozialisten. Er verkennt zudem die historischen Bedingungen, die zu ihrem Aufstieg und ihrer zeitweiligen Breitenwirkung bei den deutschen Wählern und Eliten führten, wenn auch bei weitem nicht bei allen. Entscheidend ist zudem: Die Nationalsozialisten blieben mit ihrer Art und mit ihrer verbrecherischen Politik immer bezogen auf ihren siamesischen Zwilling und Todfeind, die sowjetischen Internationalsozialisten, die nicht minder mörderisch ihr ideologisches Programm ins Werk setzten. Ohne Lenin kein Hitler.
Nichts von dem, was hier geschrieben wurde, relativiert die Verbrechen der einen oder der anderen Seite. Aber es ist analytisch eben wenig hilfreich, die heutigen politischen Konflikte und Probleme mit Begriffen zu interpretieren, die ihren Sinn aus einer ganz anderen, längst vergangenen und überwundenen Zeit erhalten haben. Wer heute Nazi sagt, hat die deutsche Geschichte nicht verstanden. Oder es geht ihm darum, einer sachlichen Diskussion auszuweichen, Argumentationsfaulheit, um bequemerweise einen politisch Andersdenkenden anzuschwärzen.
«Alle politischen Begriffe sind polemische Begriffe»: Die Analyse Schmitts fällt auf die zurück, die heute selbstgerecht das Unheil der deutschen Geschichte für ihre aktuellen Zwecke ausbeuten.
Und: Wer dauernd vor Gefahren warnt, die es nicht mehr gibt, läuft Gefahr, die wirklichen, die heutigen Bedrohungen von Demokratie und Rechtsstaat in Europa zu übersehen. Gut möglich, dass ausgerechnet jene, die überall Nazis wittern, der Demokratie schaden, indem sie die demokratische Opposition nicht widerlegen, sondern kriminalisieren, ins Gefängnis stecken wollen.   Roger Köppel

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