Stationen

Sonntag, 26. November 2017

Der hinderliche Wähler

Die friesischen Bauern haben ein Sprichwort, das heißt: Spanne keine Kuh vor deinen Karren, wenn sie hinkt. Sie ist von einem bösen Geist besessen. Die Lehre gilt sinngemäß heute auch für den deutschen Bundestag. Er hat sechs Fraktionen. Und eine von ihnen scheint einen bösen Geist in sich zu tragen. Deshalb will keine der anderen sie vor ihren Karren spannen, noch weniger sich mit ihr ins Geschirr begeben. Die AfD repräsentiert über fünf Millionen Wähler. Sie stellt die drittstärkste Fraktion des Hauses. Doch die Mehrheit und die Mainstream-Medien tun gerne so, als wäre sie nicht da.
Wenn ein Abgeordneter der Rechten auf dem Flur einer oder einem der „Damen und Herren, die schon länger hier sind“ (so AfD-Frau Alice Weidel)  die Hand schüttelt, sind gleich die Fotografen da. Bahnt sich da was an?
Bei der SPD ganz sicher nicht. Sie fühlt sich durch ihren Ekel vor den sogenannten Populisten zu bizarrem Stimmverhalten motiviert. Der Fraktionsvorstand hat ex officio angekündigt, man werde gegen jeden Antrag stimmen, den sie einbringt. Gegen jeden, also auch gegen Anträge, die die Sozialdemokraten für vernünftig halten. Gegenüber den Linken mit ihrem systemfeindlichen Programm waren die Sozen immer viel geschmeidiger.

Meinungskoinzidenzen sind nicht zu vermeiden  

Die AfD ist keine Professorenpartei mehr wie zu Bernd Luckes Zeiten. Der moderate Kammerton ihrer Redner hat dem Bundestagspräsidenten bisher keinem Grund geliefert, sie zu rügen. Als die Grünen mit Joschka Fischer noch Fundamentalopposition machten, war immer Remmidemmi im Saal. Die alte Tante „Zeit“ konstatiert gleichwohl, die AfD stehe nicht im Konsens der Demokraten.
Und nun steht eine Minderheitsregierung zur Debatte. Die AfD-Spitze will sie unter Umständen tolerieren. Allerdings nur eine aus Union und FDP. Die grünen „Deutschland-Abschaffer“, wie der Vorsitzende, Jörg Meuthen, sie nennt, kommen nicht in Frage. Sie stelle nur zwei Bedingungen, erläutert Fraktionschefin Weidel: Angela Merkel müsse zurücktreten, und die Union müsse sich „sehr ändern“. Was immer das sein mag.
„Focus“ nannte die Weidel daraufhin „aberwitzig“. Weil sie sich erdreistet hatte, in einen parlamentarischen Diskurs einzugreifen. Schmuddelkinder haben gefälligst das Maul zu halten.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat anders als die Parteien keine Berührungsängste gegenüber den Rechten. Deshalb will er kommende Woche auch mit der AfD und der Linken über die Regierungskrise reden. Seine Präferenzen liegen sicher anderswo. Doch er hat bei seinem Amtsantritt gesagt, er sei der Präsident aller Deutschen. Und offenbar hat er das so gemeint. Seinem Parteifreund Sigmar Gabriel, der alles, was rechts ist, als „Pack“ klassifiziert, wird das natürlich nicht gefallen.

Nur ohne Merkel!

Der AfD dagegen käme die Rolle der Königmacherin sehr gelegen. Auch bei der Kanzlerwahl würde sie für einen Kandidaten der CDU stimmen, vorausgesetzt, Merkel träte nicht mehr an. Einem schwarzgelben Bündnis fehlen 29 Stimmen zur absoluten Mehrheit. Die kämen immer zusammen, wenn die zwei Fraktionschefs, Alice Weidel und Alexander Gauland, die Abstimmung freigäben. Sie würden dann sicher ernster genommen mit ihrer Ankündigung, 2021 in die Regierung einzusteigen.
Inhaltlich ist die AfD - abgesehen von gelegentlichen völkischen Ausfällen auf dem rechten Flügel - nur einige Trippelschritte von den Bürgerlichen entfernt. Klima, Verkehr, Steuern, Soli, Zuwanderung sowieso, dabei käme die Koalition leicht zum Konsens mit der AfD,  jedenfalls leichter als mit der SPD oder den Grünen.
Nicht ausgeschlossen, dass die AfD Gegenleistungen einfordern würde. Die wären aber preiswerter zu erfüllen als die Wolkenkuckucksforderungen der Roten und Grünen. In jeder Frage von Belang müsste sonst die Regierung mühsam den Widerstand der Totalverweigerer aus dem linken Lager mit schmerzhaften Kompromissen erkaufen.

Die Vereinnahmung ist schon gelaufen

Was passiert nun, wenn Anfang des Jahres Innenminister Thomas de Maiziere das Plenum um Zustimmung für eine Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär geduldete Flüchtlinge ersucht? Die FDP-Stimmen reichen nicht. Und Rotrotgrün wird dagegen votieren.
Die AfD wird zustimmen. Und de Maiziere wird ihre Stimmen zähneknirschend schlucken. Denn: „Wir werden einen guten Vorschlag nicht fallen lassen, nur weil die AfD ihn stützt.“ Er beteuert, man werde sich freilich nicht vereinnahmen lassen. Allein, man ist es schon.
Die Regierung wird gegebenenfalls sagen: „Wir haben es nicht gewollt, es kam eben so.“ Sie kann auch nicht verhindern, dass ihre Vorschläge von der AfD als deren eigene eingebracht werden. Es sei denn, sie widerspräche sich selbst. Und nun soll aus dem teilweisen Verzicht auf Ausgrenzung auch noch eine verdeckte  Zusammenarbeit werden? Sie ist noch nicht festgeschrieben. Doch dagegen stehen nur psychologische Barrieren.
Der Grundkonsens müsste nicht mal vertraglich paraphiert oder auch nur beim Business-Lunch im Borchardts ausgekungelt werden. Er ergäbe sich von selbst aus der parlamentarischen Praxis.

Potentaten von Gaulands Gnaden

Die Koalitionäre würden sich dabei nicht abhängig machen. Es wäre auch kein Regelbruch, wenn sie die spezielle Abscheu der AfD vor dem linken Establishmet für sich instrumentalisieren würden. Gewiss, der neue Kanzler oder die Kanzlerin würde wohl von der Opposition als Potentat von Gaulands Gnaden verunglimpft werden. Das muss er oder sie eben aussitzen.
Die Befürworter einer Neuwahl wenden ein, Deutschland habe mit dieser Art von Regierung keine Erfahrung. Aber mit Neuwahlen hat Deutschland auch keine Erfahrung. Und nach den aktuellen Umfragen würde sich das Ergebnis nur unwesentlich von dem am 24. September unterscheiden. Die Grundkonstellation bliebe dieselbe. Wozu also der ganze Aufwand?
Und die politische Hygiene? Bedenkenträger aus den Meinungsfaktoreien fragen, ob denn das gegenseitige Vertrauen nicht gefährdet würde. Vertrauen, was ist das denn? Die Grundlage der Demokratie ist das Misstrauen. In der öffentlichen Meinung bleibt es erstmal dabei: Das Anti-AfD-Tabu wird nicht gebrochen. In Talkshows, die die schwierige Regierungsbildung thematisieren, wird es totgeschwiegen.

Eine Minderheitsregierung muss nicht minderwertig sein

Wahlarithmetik und auch das Wohlergehen der Nation sprechen eindeutig für eine Minderheitsregierung. Ohne eine beherzte Rochade wird es nicht gehen. Dagegen spricht einstweilen, dass die CDU/CSU immer noch pathologisch Merkel-fixiert ist. Sie hat auch eine panische Angst vor Image-Schäden. Das gilt ebenso für die FDP, besonders für deren Frontmann Christian Lindner.
Was weiterhin für die Minderheitsregierung spricht: Sie hat international einen guten Namen. Rund 25 Prozent aller europäischen Regierungen seit 1945 hatten keine feste Mehrheit. Die Skandinavier sind damit jahrzehntelang bestens gefahren, vor allem die Schweden. Und die SPD in Sachsen-Anhalt ließ sich  acht Jahre lang von den Linken tolerieren.
Demokratie und Demokratieverständnis sind in Schweden nicht viel anders ausgeprägt als in Deutschland. Nur dass die Deutschen eine Minderheitsregierung mit minderwertig assoziieren, mit Weimar und Notstands-Dekreten. Sie meinen, eine Regierung ohne Kanzlermehrheit sei etwas Unordentliches und damit undeutsch.
Das ist ein emotionales Argument. Und das lässt sich nicht entkräften.   Erich Wiedemann


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