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Dienstag, 21. November 2017

Bitterböse

Ich zitierte vor fünf Tagen eine Tagesschau-Journalistin, die in der Hauptsendung vom 10. November anlässlich der Einweihung einer an den Ersten Weltkrieg erinnernden Gedenkstätte am elsässischen Hartmannsweilerkopf verkündet hatte: "In Frankreich ist der Krieg bis heute sehr gegenwärtig. In Familien, in der gesamten Gesellschaft. Deutlich mehr als in Deutschland, das den Nachbarn überfallen und diesen Krieg angezettelt hatte."

Sicherlich haben sich daraufhin viele Zuschauer über die Geschichtsklitterung beschwert. Leser *** schickte mir einen Brief, in dem die ARD-Frau auf die Kritik antwortet. Ich erlaube mir, ihn hier vollständig zu zitieren:

"Sehr geehrter Herr Dr ***,

vielen Dank für Ihr Interesse an unserer Berichterstattung. Zu Ihrer Zuschrift nehme ich gerne wie folgt Stellung:

Das deutsche Kaiserreich gilt – vor dem Hintergrund seiner politischen und ökonomischer Machtinteressen, sowie bestehender Bündnisverpflichtungen – als zentraler Akteur für das Zustandekommen des 1. Weltkriegs. Richtig, und von keinem seriösen Historiker weltweit anders dargestellt, ist:

In der Folge des Attentats von Sarajewo, bei dem am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger Franz-Ferdinand und seine Frau Sophie erschossen wurden entwickelt sich die sogenannte Julikrise in der mehrere europäische Mächte sich auf einen Krieg vorbereiten. Kaiser Franz-Joseph bittet den Deutschen Kaiser Wilhelm II. um Unterstützung und erhält Anfang Juli die erbetene Unterstützung als 'Blankoscheck'. Wilhelm II. und Reichskanzler Bethmann-Hollweg sagen 'bedingungslose Unterstützung' zu.

Auf der anderen Seite sichert sich Serbien die Unterstützung des russischen Zaren, der sich wiederum am 20. Juli der Allianz mit Frankreich versichert. Frankreich erklärt, Russland im Kriegsfall gegen Deutschland zu unterstützen.

Am 28. Juli 1914 erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Es handelt sich damit zunächst um einen Regionalkonflikt. Das deutsche Kaiserreich macht in der folgenden Woche aus dem Regionalkonflikt einen Weltkrieg: Es erklärt am 1. August 1914 Russland, und am 3. August 1914 Frankreich den Krieg und marschiert am dem 4. August in das neutrale Belgien ein, um so (dem Schlieffen-Plan folgend) die französischen Stellungen zu umgehen. Der Einmarsch ins neutrale Belgien verursacht zudem den Kriegseintritt der belgischen Garantiemacht Großbritannien.

Damit ist der 1. Weltkrieg als solcher begonnen und 'angezettelt'. Kein ernstzunehmender Historiker bezweifelt oder bestreitet diese Folge. Was – zu Recht – diskutiert wird ist die Frage einer deutschen 'Alleinschuld', also: Inwieweit kam den anderen beteiligten großen Staaten der Krieg nicht ganz unrecht, oder sogar zupass, um eigene ökonomische Interessen weltweit durchsetzen zu können (Stichworte: ökonomische Vormachtstellung in Europa, Neuverteilung von Kolonien).

Mit freundlichen Grüßen

Sabine Rau
Télévision Allemande ARD
Studio Paris WDR"


Die fragliche Formulierung lautet: "Deutschland, das den Nachbarn überfallen und diesen Krieg angezettelt hat". Auf "überfallen" geht die Holde gar nicht erst ein – wie sie ja auch die russische Generalmobilmachung vom 30. Juli weglässt –, weil sie weiß, dass der Terminus nicht zu halten ist. "Überfallen" bedeutet: einen arglosen, unvorbereiteten Nachbarn attackieren, sonst sagt man: "angreifen". Da Frankreich im selben Maße kriegsbereit war wie das Kaiserreich und dem Angriff eine Kriegserklärung vorausging, ist der Begriff "überfallen", wie ich hier bereits schrieb und gern wiederhole: deutschfeindliche Hetze as ad nauseam usual. Nicht einmal Belgien wurde "überfallen", denn das Reich stellte diesem Nachbarn das sogar halbwegs freundliche Ultimatum, wenn man den deutschen Truppen den Durchmarsch gestatte, werde Deutschland für sämtliche eventuell entstehenden Schäden aufkommen.

Kommen wir zu "angezettelt". Das Etymologische Lexikon schreibt dazu: "Ursprünglich Ausdruck der Webersprache: die Zettel (Längsfäden) eines Gewebes vorbereiten, dann übertragen für anstiften, in der Regel im negativen Sinn". Anzetteln heißt: etwas in böser Absicht vorbereiten oder herbeiführen. Man kann zum Beispiel eine Verschwörung anzetteln. Wer einen Krieg anzettelt, ist sein Verursacher. Wer anzettelt, ist schuldig. Es ist immer einer (im Sinne von: eine Partei, eine Seite), der anzettelt. Ich habe noch nie von einer kollektiven Anzettelung von was auch immer gelesen. Der Dummenfangversuch, Serbien und Österreich für den Regionalkonflikt, Deutschland aber für den Weltkrieg verantwortlich zu machen, wird vor diesem Hintergrund erst recht deutlich.

Fassen wir zusammen: Wer einen Krieg "anzettelt" und seinen Nachbarn "überfällt", ist der alleinschuldige Schurke. Exakt das hat die Tagesschau am 10. November verkündet, und ich habe keinen Zweifel, dass es genau so intendiert war. Aus der Sache kann sich die Mamsell mit einem Kurzreferat aus der historischen Klippschule nicht winden...


PS: "Folge ich der Dame Rau", notiert Leser ***, "könnte der deutsch-polnische Konflikt, die Krise von 1939, dann nicht auch als ein regionaler interpretiert werden", der erst durch die Kriegserklärungen Frankreichs und Englands zum Weltkrieg eskalierte? Und unterlägen die Bündnisse zwischen den Staaten von 1939 – "übrigens auch Blankoschecks, wie z.B. der von England an Polen – anderen Kriterien als der von 1914 an Österreich? Von den Drangsalen, die die deutsche Bevölkerung unter polnischer Herrschaft zu ertragen hatte, ganz zu schweigen."

Für meine Begriffe begann der Zweite Weltkrieg ohnehin mit dem japanischen Angriff auf China im Juli 1937. Bekanntlich endete er auch erst mit der Kapitulation Japans am 2. September 1945.  MK am 16. 11. 2017

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