Ich zitierte vor fünf Tagen eine Tagesschau-Journalistin,
die in der Hauptsendung vom 10. November anlässlich der Einweihung einer
an den Ersten Weltkrieg erinnernden Gedenkstätte am elsässischen
Hartmannsweilerkopf verkündet hatte: "In Frankreich ist der Krieg bis
heute sehr gegenwärtig. In Familien, in der gesamten Gesellschaft.
Deutlich mehr als in Deutschland, das den Nachbarn überfallen und diesen
Krieg angezettelt hatte."
Sicherlich haben sich daraufhin viele
Zuschauer über die Geschichtsklitterung beschwert. Leser *** schickte
mir einen Brief, in dem die ARD-Frau auf die Kritik antwortet. Ich
erlaube mir, ihn hier vollständig zu zitieren:
"Sehr geehrter Herr Dr ***,
vielen Dank für Ihr Interesse an unserer Berichterstattung. Zu Ihrer Zuschrift nehme ich gerne wie folgt Stellung:
Das
deutsche Kaiserreich gilt – vor dem Hintergrund seiner politischen und
ökonomischer Machtinteressen, sowie bestehender Bündnisverpflichtungen –
als zentraler Akteur für das Zustandekommen des 1. Weltkriegs. Richtig,
und von keinem seriösen Historiker weltweit anders dargestellt, ist:
In
der Folge des Attentats von Sarajewo, bei dem am 28. Juni 1914 der
österreichische Thronfolger Franz-Ferdinand und seine Frau Sophie
erschossen wurden entwickelt sich die sogenannte Julikrise in der
mehrere europäische Mächte sich auf einen Krieg vorbereiten. Kaiser
Franz-Joseph bittet den Deutschen Kaiser Wilhelm II. um Unterstützung
und erhält Anfang Juli die erbetene Unterstützung als 'Blankoscheck'.
Wilhelm II. und Reichskanzler Bethmann-Hollweg sagen 'bedingungslose
Unterstützung' zu.
Auf der anderen Seite sichert sich Serbien die
Unterstützung des russischen Zaren, der sich wiederum am 20. Juli der
Allianz mit Frankreich versichert. Frankreich erklärt, Russland im
Kriegsfall gegen Deutschland zu unterstützen.
Am 28. Juli 1914
erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Es handelt sich damit
zunächst um einen Regionalkonflikt. Das deutsche Kaiserreich macht in
der folgenden Woche aus dem Regionalkonflikt einen Weltkrieg: Es erklärt
am 1. August 1914 Russland, und am 3. August 1914 Frankreich den Krieg
und marschiert am dem 4. August in das neutrale Belgien ein, um so (dem
Schlieffen-Plan folgend) die französischen Stellungen zu umgehen. Der
Einmarsch ins neutrale Belgien verursacht zudem den Kriegseintritt der
belgischen Garantiemacht Großbritannien.
Damit ist der 1.
Weltkrieg als solcher begonnen und 'angezettelt'. Kein ernstzunehmender
Historiker bezweifelt oder bestreitet diese Folge. Was – zu Recht –
diskutiert wird ist die Frage einer deutschen 'Alleinschuld', also:
Inwieweit kam den anderen beteiligten großen Staaten der Krieg nicht
ganz unrecht, oder sogar zupass, um eigene ökonomische Interessen
weltweit durchsetzen zu können (Stichworte: ökonomische Vormachtstellung
in Europa, Neuverteilung von Kolonien).
Mit freundlichen Grüßen
Sabine Rau
Télévision Allemande ARD
Studio Paris WDR"
Die
fragliche Formulierung lautet: "Deutschland, das den Nachbarn
überfallen und diesen Krieg angezettelt hat". Auf "überfallen" geht die
Holde gar nicht erst ein – wie sie ja auch die russische
Generalmobilmachung vom 30. Juli weglässt –, weil sie weiß, dass der
Terminus nicht zu halten ist. "Überfallen" bedeutet: einen arglosen,
unvorbereiteten Nachbarn attackieren, sonst sagt man: "angreifen". Da
Frankreich im selben Maße kriegsbereit war wie das Kaiserreich und dem
Angriff eine Kriegserklärung vorausging, ist der Begriff "überfallen",
wie ich hier bereits schrieb und gern wiederhole: deutschfeindliche
Hetze as ad nauseam usual. Nicht einmal Belgien wurde
"überfallen", denn das Reich stellte diesem Nachbarn das sogar halbwegs
freundliche Ultimatum, wenn man den deutschen Truppen den Durchmarsch
gestatte, werde Deutschland für sämtliche eventuell entstehenden Schäden
aufkommen.
Kommen wir zu "angezettelt". Das Etymologische
Lexikon schreibt dazu: "Ursprünglich Ausdruck der Webersprache: die
Zettel (Längsfäden) eines Gewebes vorbereiten, dann übertragen für
anstiften, in der Regel im negativen Sinn". Anzetteln heißt: etwas in
böser Absicht vorbereiten oder herbeiführen. Man kann zum Beispiel eine
Verschwörung anzetteln. Wer einen Krieg anzettelt, ist sein Verursacher.
Wer anzettelt, ist schuldig. Es ist immer einer (im Sinne von: eine
Partei, eine Seite), der anzettelt. Ich habe noch nie von einer
kollektiven Anzettelung von was auch immer gelesen. Der
Dummenfangversuch, Serbien und Österreich für den Regionalkonflikt,
Deutschland aber für den Weltkrieg verantwortlich zu machen, wird vor
diesem Hintergrund erst recht deutlich.
Fassen wir zusammen: Wer
einen Krieg "anzettelt" und seinen Nachbarn "überfällt", ist der
alleinschuldige Schurke. Exakt das hat die Tagesschau am 10.
November verkündet, und ich habe keinen Zweifel, dass es genau so
intendiert war. Aus der Sache kann sich die Mamsell mit einem
Kurzreferat aus der historischen Klippschule nicht winden...
PS:
"Folge ich der Dame Rau", notiert Leser ***, "könnte der
deutsch-polnische Konflikt, die Krise von 1939, dann nicht auch als ein
regionaler interpretiert werden", der erst durch die Kriegserklärungen
Frankreichs und Englands zum Weltkrieg eskalierte? Und unterlägen die
Bündnisse zwischen den Staaten von 1939 – "übrigens auch Blankoschecks,
wie z.B. der von England an Polen – anderen Kriterien als der von 1914
an Österreich? Von den Drangsalen, die die deutsche Bevölkerung unter
polnischer Herrschaft zu ertragen hatte, ganz zu schweigen."
Für
meine Begriffe begann der Zweite Weltkrieg ohnehin mit dem japanischen
Angriff auf China im Juli 1937. Bekanntlich endete er auch erst mit der
Kapitulation Japans am 2. September 1945. MK am 16. 11. 2017
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