Die großen Entwicklungen lassen sich am eindringlichsten am konkreten Beispiel aufzeigen. So auch in der Arte-Reportage „Weil Du Jude bist“, die in der vergangenen Woche ausgestrahlt wurde. Es geht um den Fall eines 14jährigen Schülers aus Berlin, der im April dieses Jahres Schlagzeilen machte.
Nachdem er sich im Unterricht beiläufig als Jude zu erkennen gegeben
hatte, wurde er von Mitschülern gemobbt und körperlich drangsaliert.
Er trug Blutergüsse davon, die Luft wurde ihm abgedrückt, er erlebte
eine Scheinerschießung mit einer täuschend echt aussehenden
Pistolenattrappe. Die Gemeinschaftsschule im eigentlich beschaulichen
Berlin-Friedenau, die er besuchte, hat einen Migrantenanteil von 75
Prozent. Seine Drangsalierer kamen durchweg aus muslimischen Familien.
Der 14jährige wird in der Reportage Oscar genannt, Oscar Michalski,
er tritt aber nicht persönlich auf. Vor der Kamera äußern sich seine
Eltern und die zwei älteren Geschwister. Die Michalskis haben
deutsch-britisch-jüdische Wurzeln, es ist eine sympathische Familie, die
sich umeinander kümmert und sorgt. Immer wieder hatten die Eltern sich
an die Schule gewandt und um Abhilfe gebeten. Die Antworten enthielten
nur Beschwichtigungen und Ausflüchte oder blieben ganz aus.
Der Auftritt des Schulleiters vor der Kamera gerät zur Peinlichkeit.
Er kann nicht erklären, warum er auf die verzweifelten Mails der Mutter
nicht reagiert, warum er dem Jungen nicht geholfen hat, warum er die
Täter nicht vor versammelter Mannschaft zusammengestaucht oder von der
Schule verwiesen hat.
Die Reportage faßt nicht nach, doch der Zuschauer
kann die Gründe erschließen, wenn er Verbindungslinien zu einer anderen
Szene und zu der laufenden Berichterstattung über das Berliner
Schulwesen zieht.
Nichts wäre jedenfalls ungerechter, als dem Direktor und seinen
Kollegen Hartherzigkeit oder gar heimlichen Antisemitismus zu
unterstellen. Die Mutter berichtet gegen Ende der Reportage, daß eine
Lehrerin ihr mit Tränen in den Augen erklärt hätte, daß die Schule ihren
Sohn nicht schützen könne und er auf eine andere Einrichtung wechseln
müsse. Die Lehrerschaft hat genau gewußt, welches Martyrium der Junge
erleidet und hatte Mitleid. Als Motiv ihrer Passivität kommt daher nur
Angst in Frage.
Die ist verständlich, denn im letzten Schuljahr wurden an Berliner
Schulen 636 Übergriffe auf Lehrer verzeichnet. Nur besonders
spektakuläre Fälle dringen an die Öffentlichkeit, viele werden
vertuscht. Es ist vorgekommen, daß Schüler, die sich falsch behandelt
fühlten, männliche Familienmitglieder und Freunde herbeitelefonierten,
die in den Klassenraum eindrangen und den Lehrer verprügelten. Die Täter
stammten aus dem arabisch-muslimischen Kulturkreis.
In dieser Gefahr standen auch die Lehrkräfte, die die Augen vor
Oscars Leiden verschlossen. Im Zweifelsfall ist eine
Dienstaufsichtsbeschwerde und sogar eine schlechte Presse immer noch
leichter hinzunehmen als ein gebrochener Kiefer oder ein zertrümmertes
Nasenbein.
Inzwischen geht Oscar in eine Privatschule. Die Friedenauer Schule
nennt sich in orwellscher Sprachverkehrung „Schule gegen Rassismus.
Schule mit Courage“. Hehre Losungen, die in der Stunde der Bewährung das
genaue Gegenteil bedeuten.
Vor mehr als 25 Jahren schrieben Daniel Cohn-Bendit und Thomas
Schmid: „Die multikulturelle Gesellschaft ist hart, schnell, grausam und
wenig solidarisch, sie ist von beträchtlichen sozialen
Ungleichgewichten geprägt und kennt Wanderungsgewinner ebenso wie
Modernisierungsverlierer; sie hat die Tendenz, in eine Vielfalt von
Gruppen und Gemeinschaften auseinanderzustreben und ihren Zusammenhalt
sowie die Verbindlichkeit ihrer Werte einzubüßen. In der
multikulturellen Gesellschaft geht es daher um die Gratwanderung
zwischen verbindenden und trennenden Kräften – und eben deswegen ist es
so wichtig, daß sie sich Spielregeln gibt.“
Die Spielregeln der multikulturellen beziehungsweise multitribalen,
nach Herkünften sortierten Gesellschaft werden gerade implementiert.
Aber nicht durch eine vernunftbegabte Oberinstanz, die Cohn-Bendit und
Schmid voraussetzen und die dem „zwanglosen Zwang des besseren
Arguments“ (Jürgen Habermas) Geltung verschafft, sondern durch die
normative Kraft der physischen Überlegenheit.
Der Historiker Rolf Peter Sieferle schrieb: „In der Demokratie hat
jeder Bürger eine Stimme, wie schwach und inkompetent er auch sein mag,
und vor dem Gesetz sind alle gleich. In der Tribalgesellschaft ist dies
anders. Hier kommt es darauf an, starke, handlungsfähige, kampfbereite
Verbündete zu gewinnen, und da zählt ein junger Krieger mehr als eine
alte Frau.“ Und mehr als ein mittelalter Lehrer!
Doch die Macher der Reportage wollen gar nicht wissen, wieviel
Allgemeines im konkreten Fall steckt. Sie bohren flach und verzichten
darauf, den SPD-Kommunalpolitiker Orkan Özdemir zu dekonstruieren, den
Oscars Mutter um Hilfe gebeten hatte. Özdemir stellt sich in seinem Internetauftritt als „Leiter der Politikberatung in einer
Kompetenzagentur mit dem Schwerpunkt der interkulturellen Öffnung in den
Feldern Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik“ vor.
Außerdem ist er in der Bezirksverordnetenversammlung
stellvertretender Vorsitzender in den Ausschüssen „Schule und Frauen,
Queer, Inklusion“ sowie Sprecher der SPD-Fraktion für die Politikfelder
Integration, Flucht, Queer und Sport. Vor der Kamera stellt er sich als
Schwadroneur heraus, der den postmigrantischen Politikjargon perfekt
beherrscht. Oscars Mutter, die sich im Stich gelassen fühlt, setzt er
seine „andere Wahrnehmung“ entgegen. Es sei doch „ganz viel passiert“ an
der Schule, es habe „Workshops“ gegeben, und die
Antidiskriminierungsbeauftragte habe nach dem Rechten gesehen.
Niemand spricht das Offenkundige aus: Die vermehrte Judenfeindschaft
ist ein Migrationsimport. Während der Sprecher im dräuenden Ton aus dem
Off die Frage stellt:, „Wie ehrlich ist Deutschland mit sich selbst?“,
fährt die Kamera langsam über das Stelenfeld des Holocaust-Denkmals, was
wohl bedeuten soll, daß die Deutschen noch immer nicht den inneren
Hitler besiegt hätten.
In der Person des Vaters, Wenzel Michalski, offenbart sich die ganze
Schizophrenie der Situation. Michalski leitet die deutsche Sektion von
Human Rights Watch, einer amerikanischen Nichtregierungsorganisation
(NGO), die sich weltweit um Menschenrechtsverletzungen und
Diskriminierungen kümmert. Im Internet-Auftritt der Organisation und vor
der Kamera warnt Michalski vor den „fremdenfeindlichen Populisten“ der
AfD im Bundestag, die den Familiennachzug von Flüchtlingen ablehnten.
Es gebe „keinen Widerspruch zwischen dem Respekt für universelle
Menschenrechte und einer sicheren und von Wohlstand geprägten Zukunft“.
Man möchte ihn fragen, wieviel importierter Libanon in Berlins Schulen
es noch sein darf? Die Söhne baden aus, was die Väter anrichten.
Michalski nennt die AfD-Abgeordneten „offen judenfeindlich“. Der
Thüringer AfD-Chef Björn Höcke sei „mit rechtsextremistischer Sprache
über das Holocaust-Mahnmal in Berlin“ aufgefallen. Gemeint ist offenbar
die Formulierung „Denkmal der Schande“.
Michalski und die anderen Ankläger übersehen, daß es sich um einen genitivus explicativus
handelt, einen erläuternden Genitiv, der sich auf ein anderes Objekt
bezieht und es näher beschreibt. Das Objekt der Schande ist ganz klar
der Holocaust und nicht das Denkmal. Höcke hat lediglich kritisiert, daß
diese Schande zum zentralen Element des nationalen Selbstverständnisses
erhoben wird.
Denn die Holocaust-Fixierung beschädigt am Ende alle Beteiligten und
offenbart aktuell im importierten Antisemitismus ihre fatale Dialektik.
Die Neurotisierung und Infantilisierung der Gesellschaft, die mit ihr
einhergeht, hat nämlich auch jene irrationale Einwanderungspolitik
ermöglicht, die Judenfeinden die Tore nach Deutschland geöffnet hat.
Diese wissen um die Neurosen und die moralische Erpreßbarkeit der
Deutschen. Einem Lehrer, der einen arabischen Schüler zurechtweist, weil
er einen jüdischen Mitschüler drangsaliert, könnte es leicht passieren,
daß er der mangelnden Kultursensibilität beschuldigt und als
Ausländerfeind und „Nazi“ bezeichnet wird.
Die Konstellation, die sich in der Reportage offenbart, ist so
verrückt wie tragisch. Die größte Tragik besteht darin, daß das Maß der
Verrücktheit keinem der Beteiligten auch nur ansatzweise bewußt ist. Thorsten Hinz
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