Stationen

Donnerstag, 9. November 2017

Allerseits Würdelosigkeit

Die großen Entwicklungen lassen sich am eindringlichsten am konkreten Beispiel aufzeigen. So auch in der Arte-Reportage „Weil Du Jude bist“, die in der vergangenen Woche ausgestrahlt wurde. Es geht um den Fall eines 14jährigen Schülers aus Berlin, der im April dieses Jahres Schlagzeilen machte. Nachdem er sich im Unterricht beiläufig als Jude zu erkennen gegeben hatte, wurde er von Mitschülern gemobbt und körperlich drangsaliert.
Er trug Blutergüsse davon, die Luft wurde ihm abgedrückt, er erlebte eine Scheinerschießung mit einer täuschend echt aussehenden Pistolenattrappe. Die Gemeinschaftsschule im eigentlich beschaulichen Berlin-Friedenau, die er besuchte, hat einen Migrantenanteil von 75 Prozent. Seine Drangsalierer kamen durchweg aus muslimischen Familien.

Der 14jährige wird in der Reportage Oscar genannt, Oscar Michalski, er tritt aber nicht persönlich auf. Vor der Kamera äußern sich seine Eltern und die zwei älteren Geschwister. Die Michalskis haben deutsch-britisch-jüdische Wurzeln, es ist eine sympathische Familie, die sich umeinander kümmert und sorgt. Immer wieder hatten die Eltern sich an die Schule gewandt und um Abhilfe gebeten. Die Antworten enthielten nur Beschwichtigungen und Ausflüchte oder blieben ganz aus.

Der Auftritt des Schulleiters vor der Kamera gerät zur Peinlichkeit. Er kann nicht erklären, warum er auf die verzweifelten Mails der Mutter nicht reagiert, warum er dem Jungen nicht geholfen hat, warum er die Täter nicht vor versammelter Mannschaft zusammengestaucht oder von der Schule verwiesen hat.

Die Reportage faßt nicht nach, doch der Zuschauer kann die Gründe erschließen, wenn er Verbindungslinien zu einer anderen Szene und zu der laufenden Berichterstattung über das Berliner Schulwesen zieht.
Nichts wäre jedenfalls ungerechter, als dem Direktor und seinen Kollegen Hartherzigkeit oder gar heimlichen Antisemitismus zu unterstellen. Die Mutter berichtet gegen Ende der Reportage, daß eine Lehrerin ihr mit Tränen in den Augen erklärt hätte, daß die Schule ihren Sohn nicht schützen könne und er auf eine andere Einrichtung wechseln müsse. Die Lehrerschaft hat genau gewußt, welches Martyrium der Junge erleidet und hatte Mitleid. Als Motiv ihrer Passivität kommt daher nur Angst in Frage.

Die ist verständlich, denn im letzten Schuljahr wurden an Berliner Schulen 636 Übergriffe auf Lehrer verzeichnet. Nur besonders spektakuläre Fälle dringen an die Öffentlichkeit, viele werden vertuscht. Es ist vorgekommen, daß Schüler, die sich falsch behandelt fühlten, männliche Familienmitglieder und Freunde herbeitelefonierten, die in den Klassenraum eindrangen und den Lehrer verprügelten. Die Täter stammten aus dem arabisch-muslimischen Kulturkreis.

In dieser Gefahr standen auch die Lehrkräfte, die die Augen vor Oscars Leiden verschlossen. Im Zweifelsfall ist eine Dienstaufsichtsbeschwerde und sogar eine schlechte Presse immer noch leichter hinzunehmen als ein gebrochener Kiefer oder ein zertrümmertes Nasenbein.
Inzwischen geht Oscar in eine Privatschule. Die Friedenauer Schule nennt sich in orwellscher Sprachverkehrung „Schule gegen Rassismus. Schule mit Courage“. Hehre Losungen, die in der Stunde der Bewährung das genaue Gegenteil bedeuten.

Vor mehr als 25 Jahren schrieben Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid: „Die multikulturelle Gesellschaft ist hart, schnell, grausam und wenig solidarisch, sie ist von beträchtlichen sozialen Ungleichgewichten geprägt und kennt Wanderungsgewinner ebenso wie Modernisierungsverlierer; sie hat die Tendenz, in eine Vielfalt von Gruppen und Gemeinschaften auseinanderzustreben und ihren Zusammenhalt sowie die Verbindlichkeit ihrer Werte einzubüßen. In der multikulturellen Gesellschaft geht es daher um die Gratwanderung zwischen verbindenden und trennenden Kräften – und eben deswegen ist es so wichtig, daß sie sich Spielregeln gibt.“

Die Spielregeln der multikulturellen beziehungsweise multitribalen, nach Herkünften sortierten Gesellschaft werden gerade implementiert. Aber nicht durch eine vernunftbegabte Oberinstanz, die Cohn-Bendit und Schmid voraussetzen und die dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) Geltung verschafft, sondern durch die normative Kraft der physischen Überlegenheit.

Der Historiker Rolf Peter Sieferle schrieb: „In der Demokratie hat jeder Bürger eine Stimme, wie schwach und inkompetent er auch sein mag, und vor dem Gesetz sind alle gleich. In der Tribalgesellschaft ist dies anders. Hier kommt es darauf an, starke, handlungsfähige, kampfbereite Verbündete zu gewinnen, und da zählt ein junger Krieger mehr als eine alte Frau.“ Und mehr als ein mittelalter Lehrer!

Doch die Macher der Reportage wollen gar nicht wissen, wieviel Allgemeines im konkreten Fall steckt. Sie bohren flach und verzichten darauf, den SPD-Kommunalpolitiker Orkan Özdemir zu dekonstruieren, den Oscars Mutter um Hilfe gebeten hatte. Özdemir stellt sich in seinem Internetauftritt als „Leiter der Politikberatung in einer Kompetenzagentur mit dem Schwerpunkt der interkulturellen Öffnung in den Feldern Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik“ vor.

Außerdem ist er in der Bezirksverordnetenversammlung stellvertretender Vorsitzender in den Ausschüssen „Schule und Frauen, Queer, Inklusion“ sowie Sprecher der SPD-Fraktion für die Politikfelder Integration, Flucht, Queer und Sport. Vor der Kamera stellt er sich als Schwadroneur heraus, der den postmigrantischen Politikjargon perfekt beherrscht. Oscars Mutter, die sich im Stich gelassen fühlt, setzt er seine „andere Wahrnehmung“ entgegen. Es sei doch „ganz viel passiert“ an der Schule, es habe „Workshops“ gegeben, und die Antidiskriminierungsbeauftragte habe nach dem Rechten gesehen.
Niemand spricht das Offenkundige aus: Die vermehrte Judenfeindschaft ist ein Migrationsimport. Während der Sprecher im dräuenden Ton aus dem Off die Frage stellt:, „Wie ehrlich ist Deutschland mit sich selbst?“, fährt die Kamera langsam über das Stelenfeld des Holocaust-Denkmals, was wohl bedeuten soll, daß die Deutschen noch immer nicht den inneren Hitler besiegt hätten.

In der Person des Vaters, Wenzel Michalski, offenbart sich die ganze Schizophrenie der Situation. Michalski leitet die deutsche Sektion von Human Rights Watch, einer amerikanischen Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich weltweit um Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen kümmert. Im Internet-Auftritt der Organisation und vor der Kamera warnt Michalski vor den „fremdenfeindlichen Populisten“ der AfD im Bundestag, die den Familiennachzug von Flüchtlingen ablehnten.

Es gebe „keinen Widerspruch zwischen dem Respekt für universelle Menschenrechte und einer sicheren und von Wohlstand geprägten Zukunft“. Man möchte ihn fragen, wieviel importierter Libanon in Berlins Schulen es noch sein darf? Die Söhne baden aus, was die Väter anrichten. Michalski nennt die AfD-Abgeordneten „offen judenfeindlich“. Der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke sei „mit rechtsextremistischer Sprache über das Holocaust-Mahnmal in Berlin“ aufgefallen. Gemeint ist offenbar die Formulierung „Denkmal der Schande“.

Michalski und die anderen Ankläger übersehen, daß es sich um einen genitivus explicativus handelt, einen erläuternden Genitiv, der sich auf ein anderes Objekt bezieht und es näher beschreibt. Das Objekt der Schande ist ganz klar der Holocaust und nicht das Denkmal. Höcke hat lediglich kritisiert, daß diese Schande zum zentralen Element des nationalen Selbstverständnisses erhoben wird.
Denn die Holocaust-Fixierung beschädigt am Ende alle Beteiligten und offenbart aktuell im importierten Antisemitismus ihre fatale Dialektik. Die Neurotisierung und Infantilisierung der Gesellschaft, die mit ihr einhergeht, hat nämlich auch jene irrationale Einwanderungspolitik ermöglicht, die Judenfeinden die Tore nach Deutschland geöffnet hat.
Diese wissen um die Neurosen und die moralische Erpreßbarkeit der Deutschen. Einem Lehrer, der einen arabischen Schüler zurechtweist, weil er einen jüdischen Mitschüler drangsaliert, könnte es leicht passieren, daß er der mangelnden Kultursensibilität beschuldigt und als Ausländerfeind und „Nazi“ bezeichnet wird.

Die Konstellation, die sich in der Reportage offenbart, ist so verrückt wie tragisch. Die größte Tragik besteht darin, daß das Maß der Verrücktheit keinem der Beteiligten auch nur ansatzweise bewußt ist.  Thorsten Hinz


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