In der Partie, die Leipzig gegen die Gäste später 2:1 gewinnen sollte, lief die 23. Minute, als Timo Werner einem Reflex gehorchte: Sein Kollege Marcel Sabitzer hatte mit Gewalt aufs Tor gedroschen, Werner stand in der Flugrichtung des Balles, und als hätte ihm jemand mit einem Hämmerchen auf die Sehne unter der Kniescheibe geschlagen, verlieh Werner dem Ball noch einen Dreh, der aber unnötig war, als der Ball auch so im Tor gelandet wäre. Nur Werner war orientierungslos. Das heißt, er wusste zwar, wo das Tor stand, nicht aber, dass er sich im Abseits befand. Die Folge: Der Schiedsrichter gab das Tor nicht. Und Sabitzer war außer sich.
Sabitzer stürzte auf Werner zu, gestikulierte und schimpfte vor aller Augen auf ihn ein. Wie ein Staatsanwalt in einem öffentlichen Schauprozess. Und selbst als er nach der Partie in einem auf links gedrehten Hannoveraner Trikot vor Journalisten stand, hatte er sich noch nicht beruhigt.
"Das kann ein entscheidendes Tor sein", ereiferte sich Sabitzer, "gegen so einen kompakten Gegner muss manchmal auch ein Tor reichen." Tatsächlich hatte Hannover bis dahin so gut, klug und taktisch reif und variabel agiert, dass 96-Trainer André Breitenreiter gute Gründe hatte, hernach zu lamentieren: "Wir waren hier heute echt ganz nah dran, etwas mitzunehmen ..."
Dass dies den Hannoveranern, einem mehr als nur soliden Aufsteiger-Team, trotz der fein herausgespielten Führung durch Stürmer Jonathas (54.) schließlich doch misslang, lag an zweierlei. Erstens an der fundamentalen Veränderung der Grundkoordinaten der Partie durch RB-Trainer Hasenhüttl, der die zunächst geschonten Emil Forsberg und Naby Keita für rund 30 Minuten aufs Feld beorderte. Und zweitens eben am deutschen Nationalstürmer Timo Werner, der den Ausgleich durch Yussuf Poulsen (70.) vorbereitete und den Siegtreffer selbst erzielte (84.). Und seinem Team nach drei Niederlagen (gegen den FC Bayern in Pokal und Meisterschaft, gegen Porto in der Champions League) zu einem Erfolgserlebnis verhalf, das die Leipziger unisono als extrem wichtig empfanden.
Dass dem so kam, lag auch im bemerkenswerten Wesen des Timo Werner begründet. Denn so wie man begutachten konnte, dass ein Ball im Strafraum bei ihm die Nervenbahnen abkürzt und unweigerliche Reaktionen auslöst, musste man auch zum Schluss kommen, dass ihm irgendein Hirnstrom im Fall von Rückschlägen eine Instant-Amnesie befiehlt.
Es war ja nicht nur so, dass Werner ein Tor für seine Mannschaft verhindert, vom Kollegen dafür öffentlich geteert und gefedert worden war. Er hatte auch noch mehrere hochkarätige Chancen vergeben. Einmal schoss er, nachdem Hannovers Keeper Philipp Tschauner einen Sabitzer-Schuss abprallen ließ, den Torwart aus kurzer Distanz an. Unmittelbar vor der Pause lenkten Verteidiger Julian Korb und Tschauner einen Werner-Schuss zur Querlatte ab.
"Timo hätte heute hier zur tragischen Figur werden können", bemühte Hasenhüttl später einen Irrealis der Vergangenheit. Im Wissen darum, dass Werner genau dafür nicht gemacht ist. Tragische Helden, das wird seit der Antike gelehrt, laden aus noblen Absichten heraus Schuld auf sich - wie Werner in der 23. Minute -, und erwecken darob Mitleid beim Publikum. Werner rebelliert dagegen an, und am Samstag tat er das wie schon nach der sogenannten Schwalben-Affäre so stetig und so unverdrossen, dass die Leipziger am Abend als das ausgerufen wurden, was sie wohl sind: der letzte verbleibende Bayern-Jäger in der Bundesliga.
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