Stationen

Sonntag, 5. Februar 2017

Abgeklärt

An der Uni reden in letzter Zeit alle über Gender und das neue Verhältnis der Geschlechter. Es vergeht kein Semester, ohne dass nicht neue „geschlechtergerecht“ formulierte Vorlesungsverzeichnisse oder „gendersensible“ Anredeformen von der akademischen Verwaltung veröffentlicht werden. Neulich zum Beispiel flatterte mir eine weitergeleitete Nachricht meiner Kollegin Brigitte ins elektronische Postfach, in der für eine Veranstaltung namens „Hochschullehre gendersensibel gestalten“  von einer universitären Servicestelle geworben wurde.
Da man zum Erwerb von Dozenturen, Habilitationen usw. an vielen Unis sowieso Kurse zum „Lehrelernen“ machen muss, und ich neugierig war, was die Genderologen so erzählen, habe ich mich sogleich angemeldet. Ich bekam auch postwendend eine regelrecht begeisterte Antwort, was bei mir den Eindruck erweckte, dass ich bislang der einzige Interessent war.
Was nicht so ganz stimmt, wie ich bemerke, als es einige Wochen später losgeht. Immerhin sechs weitere Interessierte sind gekommen. Es handelt sich um fünf Frauen und einen Mann, fast ausschließlich Geistes- und Sozialwissenschaftler.

Nur eine Tutorin und Lehramtskandidatin studiert neben Germanistik auch noch Physik. Eine Anglistin unter den Frauen sieht Birgit Kelle frappierend ähnlich, was ich aber lieber für mich behalte.
Die Seminarleiterin, ebenfalls Sozialwissenschaftlerin, ist sehr nett und bietet zur Stärkung der Teilnehmer auf einem Beistelltisch Dinkelkekse und Getränke an. Nach einer kleinen Vorstellungsrunde sollen wir unsere Erfahrungen zu „Genderdynamiken“ in von uns gehaltenen oder belegten Kursen auf kleine Papierkärtchen schreiben. Ich nehme mir absichtlich einen roten Stift, um das übliche Klischee der „Frauenfarbe“ nicht zu bedienen, was im Raum mit wohlwollendem Lachen aufgenommen wird.
Die Seminarleiterin, nennen wir sie Cindy, erklärt uns, dass die menschlichen Geschlechterrollen nicht naturgegeben, sondern konstruiert seien und sozial reproduziert würden. Dieses Phänomen nenne man „Doing Gender“, als etwa „soziales Geschlecht tun“ oder  „soziales Geschlecht machen“. Eine Soziologin stimmt zu und erzählt davon, dass sich Männer in ihren Seminaren häufiger meldeten und so die Lehrveranstaltung „beherrschten“, obwohl die Frauen deutlich in der Überzahl seien.
Die Lehramtskandidatin meint, dass es in der Physik genau andersherum sei und der Frauenanteil mit der Zeit sogar noch abnehme. Erstaunlicherweise spricht sie stets von „Mädchen“ statt Frauen und bezeichnet sich auch selber so, was mich wundert, da sie ja über 20 und somit lange volljährig ist. Dennoch empört sie sich darüber, als Frau in der Physik nicht richtig ernst genommen zu werden, weil ihr Geschlecht stets thematisiert würde, wenn sie über ihr Fach spräche.
Sie erzählt, dass sich Männer in Physik mehr für Fachthemen wie zum Beispiel Berichte über das Hubble-Teleskop interessieren, Frauen (wie sie) hingegen mehr für das Fach selbst. Der Unterschied ist mir nicht ganz klar, aber ich vermute, dass sie einfach gern Physik unterrichten und nicht darüber forschen will. Was ich allerdings recht konservativ finde und daher ziemlich doing-Gender-ig für eine fortschrittliche junge Studentin. Sage ich aber nicht, ich bin ja nur zum Beobachten hier.
Dann meint sie noch, dass man Frauen in der Germanistik äußerlich eindeutig identifizieren könne, in der Physik wisse man hingegen häufig nicht sofort, ob da ein Männlein oder Weiblein neben einem sitze. Klar, hoher Testosteronhintergrund bei Physikerinnen, denke ich mir. Der dazu führt, dass sich betroffene Frauen für männertypische Fächer wie Physik interessieren; wohingegen sich die sehr weiblichen Mädels mit wenig Testosteron für frauentypische Disziplinen wie Sprachen begeistern. Solch biologische Betrachtungen werden hier im Genderseminar aber nicht getätigt; die Begriffe „Hormon“ und „Gen“ höre ich nicht ein einziges mal.
Dozentin Cindy erklärt zwischendurch, wie das „Doing Gender“ im Alltag so funktioniere. Als wichtiges Beispiel nennt sie das rosa Überraschungsei, das eigens für Mädchen angeboten wird. Als ich erwähne, dass ich mir schon mal eins für mich selbst gekauft habe, lobt sie mich und meint, das sei das sogenannte „Undoing Gender“, also eine fortschrittliche Strategie, vorgegebene Geschlechterrollen „aufzubrechen“. Ich bin stolz.
Cindy ist es wichtig, dass das Problem der Genderdynamiken nicht nur als eines der Frauen angesehen werde. An einer konservativen bayerischen Uni habe sie einmal das Schild „Frauenbeauftragte“ statt „Gleichstellungsbeauftragte“ gelesen, was sie als regelrecht stigmatisierend empfand. Sie meint, dass wir durch „Selbstreflexion“ die Stigmatisierung überwinden könnten.
Leider täten das nicht alle: An der Nachbaruniversität, wo Cindy zuvor gearbeitet hat, konnte sie in der Mensa häufig beobachten, beziehungsweise hören, wie junge Mütter ihren Kindern geschlechtsspezifische Rollen zuwiesen, indem sie erzählten, was ihre Jungs doch für Raufbolde seien oder wie schön ihre Töchter doch mit Puppen spielten…. Was mir in dem Moment auffällt, ist, dass Cindy selber Schminke und klassische Frauenkleidung trägt, ein recht kurzes Kleid. Merkt sie nicht, dass sie selber ihre tradierte Geschlechterrolle lebt? Wein und Wasser….
Während des ganzen Kurses fällt mir auf, dass die Seminarleiterin, aber auch einige der Teilnehmer, die sogenannte „geschlechtergerechte“ Sprache benutzen, die uns an den Unis und in der Öffentlichkeit immer häufiger begegnet. Da hört man von „männlichen Studierenden“, „Wahrnehmenden“, „Promovierenden“, „Lehrenden“, „Lehrpersonen“ und nicht zuletzt auch von „Lerner*innen“, gesprochen mit einer kurzen Pause an der Stelle des Sternchens.
Cindy meint, Sprache sei Teil des Handelns, und so „reifizierten“ wir traditionelle Geschlechtsrollenbilder, indem wir die althergebrachte deutsche Grammatik verwendeten. Merkwürdig, denke ich, eigentlich werden babbeln und anpacken ja sonst eher als Gegensatz aufgefasst, nicht als Einheit. Ich schlage das später mal nach: und tatsächlich, die Dozentin hat recht: In dem gendertheoretischen Standardwerk „Das Unbehagen der Geschlechter“ der Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Judith Butler steht, dass die Geschlechtskategorien „männlich/weiblich“ durch den Sprechakt geformt und in permanenter Wiederholung bestätigt würden.
Da tut es nicht Wunder, dass sich die Seminarleiterin, wie sie sagt, über Formulare ärgere, wo man sein Geschlecht per Kreuzchen angeben müsse. Sie regt daher an, Verwirrung zu stiften und so die Menschen in ihren tradierten Geschlechterrollen zu stören.
Und das erreiche man eben mit konsequent angewandter geschlechtergerechter Sprache. Problematisch sei dabei nur, dass gerade Studenten und Dozenten, Verzeihung, Studierende und Dozierende aus den Natur- und Technikwissenschaften häufig wegen der zahlreichen ungewohnten Unterstriche und Sternchen die Texte schlicht nicht verstünden. Aber das sei nur ein Zeitproblem, da „vor fünf Jahren“ beispielsweise der Gender-Gap (z.B. „Student_innen“) in den Sozialwissenschaften auch noch ungewöhnlich war. Wir Biologen können also hoffen!
Eine Teilnehmerin, nein, Teilnehmende, erzählt von ihren Erfahrungen mit gendersensibler Sprache im Englischen; da sei man schon weiter als im Deutschen. So werde beispielsweise das Personalpronomen der dritten Person Einzahl, also „er“ oder „sie“, geschlechtsneutral durch „they“, also die dritte Person Mehrzahl, ersetzt. Ich frage, ob das denn allgemein verstanden werde, wenn man die Pluralform für eine einzige Person verwende. Mir wurde daraufhin versichert, dass das nur eine Frage der Gewöhnung sei, dann ginge das natürlich. Vorbildlich sei auch das (unübersetzbare) geschlechtsneutrale Personalpronomen „hen“ im Schwedischen, das statt „er“ oder „sie“ benutzt wird. Im Deutschen vielleicht „ersie“ oder schlicht „es“?
Nun ging es ja zunächst darum, Frauen sprachlich durch Begriffe wie das klassische „Studenten“ nicht zu unterschlagen, aber wenn nur von einer Person die Rede ist, warum muss man dann noch geschlechtsneutrale Formen benutzen? Cindys Antwort ist einfach: Es gebe nicht nur „männlich“ und „weiblich“, sondern ein natürliches „Kontinuum“, also einen grenzenlosen Verlauf von Geschlechtern, in dem man beispielsweise auch die Identitäten trans- oder intersexuell finden könne. Deshalb sei es wichtig, sprachlich keine kategorischen Zuweisungen vorzunehmen.
Die Lehramtskandidatin ist sehr eifrig und fragt, wann man denn Gendersternchen, Gendergaps und Unterstriche benutzen soll. Die Seminarleiterin meint, es gäbe eigentlich keine festen Regeln und verteilt eine Broschüre mit dem Titel „Sag´s doch gleich“. Wobei mit „gleich“ offenbar „gleichberechtigt“ oder ähnliches gemeint ist. Darin sind zahlreiche kreative Möglichkeiten aufgeführt, sich „geschlechtersensibel“ oder gar „geschlechterneutral“ auszudrücken. Eine Seite der Broschüre kommt mir bekannt vor: Dort wird die x-Form der 2014 deutschlandweit bekannt gewordenen Berliner Professorin Antje „Lann“ Hornscheidt erklärt. Hornscheidt ist eine sogenannte Neutrois, will sich also keinem Geschlecht zuordnen. Deswegen nennt sie sich selbst „Professx“ (gesprochen: „Professix“) und ihre Studenten „Studierxes“ (gesprochen: Studierixes“).
Auf meinen Einwand, dass eine Grammatik aber feste Regeln brauche, und keine kreative Ungewissheit, meint der einzige andere Mann im Raum, ein Kulturwissenschaftler, dass er dieses Problem der fehlenden Normen auch aus seinem Fachbereich kenne. Dozentin Cindy kann nicht so recht einen Weg aus dem Dilemma weisen, gibt aber zu bedenken, dass man bei vielen konservativ gesinnten Menschen sowieso nicht sofort die progressivste Gendersprache verwenden sollte. Besser sei es, im Sinne einer „Alles-im-Fluss“-Strategie nach und nach Genderformen einzuführen, um die Natur- und Technikwissenschaftler (sie sind vermutlich gemeint) langsam an die gerechte Sprache zu gewöhnen.

An diesem Punkt schaut die Dozentin zur Uhr und bemerkt, dass wir wegen unserer intensiven Diskussion glatt die Zeit vergessen hätten. Ich frage noch kurz, ob diese Lehrveranstaltung von „Lehrelernen“ denn für ein Habilitationsverfahren anrechenbar sei, was offenbar einen gewissen Unmut bei einigen Seminarteilnehmern hervorruft. Die Lehramtsstudentin hegt offenbar den Verdacht, dass ich nicht so richtig von der guten Sache überzeugt sei und fragt, ob ich nur teilgenommen habe, um einen Schein zu ergattern.
Nicht wirklich, aber ich habe mich königlich amüsiert und fühle mich jetzt aufgeklärt!   Robert Göhring

Robert Göhring ist freier Journalist und Biologe. Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblicke hier

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