taz: Herr Kundnani, Angela Merkel ist wieder
Kanzlerkandidatin der Union. Erscheint Deutschland als ein Hort der
Stabilität, weil die Kanzlerin Chaos im Ausland anrichtet, etwa in
Griechenland und Italien?
Hans Kundnani:
Da ist etwas dran. Es gibt bezüglich des Euroskeptizimus eine Art
Nullsummenspiel in Europa. Würde man die Politik ändern, damit der
Euroskeptizismus in Frankreich und Italien zurückgeht, etwa durch eine
Vergemeinschaftung der Schulden, würde er in Deutschland wachsen.
Die SPD hat lange debattiert, ob sie
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz als Kanzlerkandidaten nominieren
soll. Kaum einer fragt, was es für die Europa-Politik bedeutet, wenn
Schulz Kanzler werden würde. Dabei wird er als der große Europäer
verkauft.
Ich sehe keinen großen
Unterschied zwischen ihm und Gabriel, was Europa angeht. Und ich sehe
auch keinen großen Unterschied zwischen SPD und CDU in der
Europapolitik. Die SPD-Europa-Politik ist eine der großen Enttäuschungen
seit Beginn der Euro-Krise. 2010 haben Steinmeier und Steinbrück noch
öffentlich über eine Vergemeinschaftung der Schulden nachgedacht. Aber
danach haben sie gemerkt: Die Angst vor einer Transfer-Union ist in
Deutschland so groß, dass sie die Position realpolitisch gar nicht
vertreten können.
Schulz plädiert doch für einen „vertieften Bund souveräner Staaten“ – das ist eine Umschreibung für „mehr Europa“.
Eine meiner Frustrationen mit der
Debatte über Europa in Deutschland ist dieses lineare Denken: Entweder
ist man für mehr Europa oder weniger. Ich sehe in Deutschland aber vor
allem einen „Pro German Europeanism“. Das heißt: Man ist proeuropäisch,
will aber ein deutsches Europa. Man ist zu weiteren
Integrationsschritten bereit, aber nur nach deutschem Vorbild. Bestes
Beispiel ist die Schuldenbremse. Die hat in Deutschland Steinbrück 2009
eingeführt, also schon vor Anfang der Euro-Krise, und wurde dann den
anderen europäischen Länder aufoktroyiert.
Die gängige Erzählung im europäischen Süden ist die von
der deutschen Hegemonie durch die Euro-Krise. Sie sagen, es ist viel
problematischer: Deutschland sei nur ein Halb-Hegemon – und damit in
einer ähnlichen Situation wie nach der Reichsgründung 1871. Woran machen
Sie das fest?
Das hat – bei allen Unterschieden
zwischen dem Kaiserreich und jetzt – zunächst einmal mit der Geographie
zu tun. Deutschland liegt mehr oder weniger immer noch dort, wo es
damals war und hat seit der Wiedervereinigung mehr oder weniger die
gleiche Größe wie damals. Deutschland ist wieder in der Mitte Europas.
Im Kalten Krieg war es an der Grenze zwischen Ost und West. Und wenn die
Geografie noch eine Rolle spielt …
Tut sie es denn? Es gibt doch keine deutschen
Minderheiten mehr im Ausland, die noch irgendwer „Heim ins Reich“ holen
will. Und ob Österreich eigentlich zu Deutschland gehört, spielt auch
keine Rolle.
Ich glaube nicht, dass die
deutsche Frage nur eine Form haben kann. Im Kaiserreich war die deutsche
Frage eine geopolitische Frage, jetzt ist es eine geo-ökonomische.
Deutschlands wirtschaftliche Macht schafft auf eine ähnliche Weise
Instabilität in Europa wie damals seine militärische Macht. Und die
deutsche Frage und die europäische Frage hängen wieder eng zusammen.
Sie sagen, Deutschland sei nicht groß genug, um
ökonomisch in Europa Frieden zu stiften, also etwa Schulden des Auslands
mitzutragen, aber andererseits so groß, dass es durch seine
ökonomischen Interessen den Kontinent dominiert.
Ja, es ist zu groß für eine Art
Gleichgewicht und zu klein für eine Hegemonie. Nach 1871 hätte Hegemonie
bedeutet, alle anderen Großmächte militärisch schlagen zu können. Jetzt
würde sie heißen, entweder brutal den eigenen Willen in ganz Europa
durchzusetzen oder die europäischen Probleme zu schultern. Die Eurokrise
hat gezeigt, dass Deutschland zu beidem nicht in der Lage ist.
Deutschland hat seine Interessen gegen Mario Draghi und seine
Niedrigzins-Politik nicht durchsetzen können. Deutschland kann aber auch
kein guter Hegemon sein …
… ähnlich wie die USA in Europa nach 1945 …
… also eine Vergemeinschaftung
der Schulden zulassen, eine moderate Inflation dulden oder permanente
Fiskaltransfers bezahlen – also all die Dinge, die die EU zusammenhalten
könnten. Für beide Varianten der Hegemonie, die brutale wie die sanfte,
muss man die Ressourcen besitzen. In der klassischen deutschen Frage
ging es um militärische Ressourcen, um andere Großmächte schlagen zu
können.
Der Versuch ist zweimal schief gegangen.
Kein Wunder. Jetzt hat
Deutschland nicht die wirtschaftlichen Ressourcen für eine
Hegemonialpolitik. Insofern verteidige ich die Deutschen gegen die
angelsächsische Kritik etwa von Paul Krugman, die lautet: Die Deutschen
haben keine Ahnung von Wirtschaft.
Steht Ihre These von der deutschen Halb-Hegemonie nach
Flüchtingskrise und Brexit nicht vor dem Aus? Spätestens wenn Marine Le
Pen französische Präsidentin werden sollte, ist Deutschland isoliert
statt halb-hegemonial.
Das eine schließt das andere
nicht aus. Es wäre geradezu typisch für die deutsche Geschichte: Die
halbhegemoniale Stellung führt früher oder später zur Isolation und dann
zur Einkreisung. Nur ein Vollhegemon kann nicht isoliert werden.
Wenn die deutsche Europolitik rational begründet ist,
kommen wir aus der gegenwärtigen Krise kaum heraus. Sie verbreiten
Fatalismus.
Ich sehe die Krise in Europa und
die deutsche Rolle darin als etwas sehr Tragisches. Es gibt keine
einfache Lösung – und deswegen bin ich auch ziemlich pessimistisch, was
die Zukunft Europas angeht. Es gibt aber neben der objektiven Lage aber
auch eine zweite Parallele mit der deutschen Geschichte: der Stimmung
nach der deutschen Einheit 1871.
Sie meinen die deutsche Überheblichkeit.
Ja, Triumphalismus – und
Sendungsbewusstsein: Deutschland habe eine Mission in Europa, die
anderen auf den richtigen Pfad zu führen.
War die deutsche Politik in der Flüchtlingskrise auch triumphalistisch?
Nein, es gab schließlich keinen
Anlass zum Triumph: Deutschland konnte seinen Willen nicht durchsetzen.
Aber das missionarische finden wir darin schon. Was beide Krisen
verbindet, ist die deutsche Tendenz, zu denken, wir wissen, wie man
richtig handelt – und ihr anderen in Europa versteht das einfach nicht.
Die deutsche Elite ist heute so international wie nie
zuvor. Trotzdem denkt sie deutsch. Warum berücksichtigt sie die
Sichtweisen der anderen nicht?
Es gibt eine seltsame Mischung
aus Internationalismus und Provinzialismus in der deutschen Debatte.
Deutschland ist vor allem seit der Euro-Krise immer entspannter geworden
ist, was Kritik aus dem Ausland angeht. Früher war Deutschland
überempfindlich. Vor allem, wenn Kritik aus Großbritannien, den USA und
Frankreich kam. Die Deutschen wollten bestätigt werden …
… nach 1945 alles richtig gemacht zu haben?
Das habe ich als Brite so
empfunden. Damals wünschte man sich, dass die Deutschen ein bisschen
selbstbewusster werden und nicht so sehr darauf achten, was andere über
sie denken. Jetzt ist es umgekehrt. Vielleicht hat das mit dem
Irak-Krieg angefangen, nach dem die Deutschen gedacht haben: Wir wissen
es besser.
Die deutsch-französische Achse ist doch auch gebrochen, obwohl beide Länder im Irak-Krieg einer Meinung waren.
Ja. Es erschreckt mich, wie in Berlin seit Beginn der Euro-Krise über Frankreich gesprochen wird.
Zum Beispiel?
Ich möchte hier kein wörtliches
Zitat wiedergeben, aber manche hochrangigen deutschen Beamten oder
Think-Tank-Mitarbeiter reden geradezu mit Verachtung über die Franzosen:
Sie finden sie lächerlich oder einfach dumm. Die Franzosen hätten keine
Ahnung und müssten diszipliniert werden.
Weil Deutschland bis 1914 nur Halb-Hegemon gewesen sei,
hätten sich Allianzen anderer Staaten gegen das Kaiserreich gebildet,
schreiben Sie. Heute hätten sich Italien und Frankreich von ihren
Interessen her sich doch längst gegen Deutschland verbünden müssen.
Die Lehre aus der Geschichte ist
zweideutig. Heißt sie: Man muss solche Koalitionen bilden – oder dass
solche Koalitionen zu Krieg führen? Wenn man die klassische deutsche
Frage nimmt …
… hat Deutschland durch anti-deutsche Koalitionen die Kriege verloren.
Insofern sind wir alle bezüglich
der Koalitionsfrage gespalten. Auch Franzosen und Italiener und Spanier.
Sie haben Angst davor. Ich auch. Ich fürchte, dass anti-deutsche
Koalitionen Europa zerstören. Ich sehe aber den strukturellen Druck zur
Koalitionsbildung – und dann hätte ich lieber gesehen, dass Renzi und
Hollande eine antideutsche Koalition bilden als die Fünf-Sterne-Bewegung
und Le Pen.
Was ändert die Wahl von Donald Trump?
Es ist erstaunlich, wie nach der
US-Wahl von Merkel als Leader of the free world gesprochen wird. Die
Vorstellung, Deutschland könne nur halbwegs die Vereinigten Staaten
ersetzen, ist lächerlich. Erstens sind die USA eine globale Macht,
Deutschland ist eine Regionalmacht. Zweitens hat die Bezeichnung Leader
of the free world im Kalten Krieg nur Sinn ergeben, weil die USA bereit
waren, militärische Macht einzusetzen, um Demokratien zu verteidigen.
Deutschland hat aber wenig militärische Macht.
Meist war eher eine moralische Führung Deutschlands gemeint.
Ich bezweifle auch, ob Merkel
diese Rolle erfüllen kann. Gerade weil Deutschland in der Eurozone in
den letzten sechs Jahren eine brutale Politik verfolgt hat. Ganz gleich,
ob sie richtig war oder nicht, wird die deutsche Führung innerhalb von
Europa nicht anerkannt. Aber Trump wirft eine neue Frage bezüglich der
halbhegemonialen Stellung Deutschlands auf. Es ist zweifelhaft, ob die
amerikanische Sicherheitsgarantie für Deutschland unverändert gilt. Das
ist vielleicht ein game changer. Deutschland sieht schwächer aus als
zuvor, auch, weil es keine nukleare Macht ist. Und Frankreich sieht
stärker aus.
Der US-Ökonom Joseph Stiglitz schreibt in seinem neuen Buch, die größte Gefahr für Europa sei das „muddling through“, also sich einfach so weiter durchzuwursteln statt sich entweder für mehr oder weniger Europa zu entscheiden.
Das sehe ich auch so. Stellen Sie
sich vor, der Front National kommt in Frankreich wirklich an die Macht.
Um das definitiv zu verhindern, bräuchten wir eine radikal andere
Politik in Europa für mehr Wachstum und Jobs. Aber die Deutschen können
und werden keine andere europäische Wirtschaftspolitik einleiten.
TAZ
Deutschland verhält sich wie ein Pantoffelheld, der gleichzeitig ein volles Fass und eine besoffene Frau haben will. Und ist am Ende nicht Fisch und nicht Fleisch.
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