Zahlreiche
SS-Leute in Auschwitz unterzeichneten diese per Matrizenmaschine
vervielfältigte Selbstverpflichtung, darunter neben Riedel auch zum
Beispiel August Bielesch und Oskar Siebeneicher. Denn das deutsche Vernichtungslager erreichte just im Mai und Juni seine größte und grausamste „Effizienz“:
Zwischen dem 18. Mai und dem 11. Juli 1944 deportierte die SS 437.000
ungarische Juden nach Auschwitz, von denen mindestens 320.000,
wahrscheinlich aber 370.000 direkt nach ihrer Ankunft in Gaskammern
ermordet wurden.
Um dieses „Mordaufkommen“ zu bewältigen, brauchte die
KZ-Kommandantur jeden SS-Mann am Standort Auschwitz, und so wurden
offenbar auch Siebeneicher, Bielesch und eben Riedel herangezogen zu
Selektionen an der Rampe und anderen Aufgaben im direkten Zusammenhang
mit dem Massenmord. Sie hatten bis dahin andere Aufgaben im Lagerkomplex
gehabt, nun wurden sie Holocaust-Täter im engsten Sinne.
Das Verfahren gegen Oskar Siebeneicher stellte das MfS ein,
weil er angeblich „keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ begangen
habe, „für die er noch nicht bestraft“ worden sei. Doch beim großen
Auschwitzprozess in Frankfurt/Main war aktenkundig geworden, dass
Siebeneicher an „Vernichtungsaktionen“ teilgenommen hatte.
Riedel
nicht, weil das Verfahren trotz einer dichten Beweislage „wegen
Nichtbestätigung des Verdachtes“ eingestellt wurde. Er wurde nicht ein
einziges Mal vernommen, obwohl er von Juli 1940 bis Januar 1945
ununterbrochen in Auschwitz tätig gewesen war. Selbst wenn ihm selbst
nichts nachzuweisen gewesen wäre, dann hätte er doch als Zeuge enorm
viel aussagen können.Und auch Bielesch entging jeder Sanktion. Er wurde zwar vernommen, behauptete aber, nur Wache auf den Türmen des KZs geleistet zu haben und überhaupt von Verbrechen im Lager nichts bemerkt zu haben. Vermutlich weil er sich als IM „Philipp“ zu Spitzeldiensten für die Stasi verpflichtete und acht Jahre lang lieferte, beließ es die SED-Geheimpolizei dabei.
Diese Details über den skandalösen
Umgang des MfS mit dem Menschheitsverbrechen Holocaust dokumentiert der
Historiker Henry Leide in seinem neuen Buch „Auschwitz und Staatssicherheit“. Leide, Mitarbeiter der Rostocker Außenstelle des Stasiunterlagen-Archivs (BStU), hat bereits 2005 seine umfassender angelegte Studie „NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR“ vorgelegt. Jetzt folgt mit dem Band speziell zu Auschwitz eine beispielhaft gelungene Vertiefung.
Zwar ist richtig, dass der Rechtsstaat in Westdeutschland sich bis weit in die 1960er-Jahre hinein wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert hat, was die juristische Sanktionierung des Holocaust betrifft.
Aber die DDR war in jeder Hinsicht noch viel schlimmer. Das einzige
Kriterium, das hier über die Fragen einer Anklage entschied, war
nämlich, ob ein Täter bereit war, sich dem kommunistischen Machtanspruch
bedingungslos zu unterwerfen. Wer das tat, hatte gute Chancen,
straffrei davonzukommen.
In manchen Fällen waren die Verbrechen allerdings so gewaltig,
dass nicht einmal die Stasi das mehr ignorieren konnte. Etwa bei Hans
Anhalt. Der lebte nach 1945 unbehelligt in Thüringen und arbeitete als
Traktorfahrer. Spätestens 1951 erfuhren die DDR-Behörden zum ersten Mal,
dass der 1908 geborene Anhalt als SS-Mann in Auschwitz gewesen sei und
„Häftlingen die Goldzähne ausgeschlagen“ habe.
Doch zehn
Jahre lang geschah gar nichts – keine Ermittlungen, keine Vernehmungen,
erst recht keine Festnahme. Erst im Oktober 1961, in Jerusalem lief das Verfahren gegen Adolf Eichmann, den Organisator der Deportationen, und in Frankfurt/Main stand die Eröffnung des Auschwitz-Prozesses bevor, wurde das MfS aktiv: Es ließ Anhalt bespitzeln und legte eine Vorlaufakte an – unter dem Decknamen „Eichmann“.
Doch
es dauerte mehr als ein Jahr, bis Hans Anhalt endlich festgenommen
wurde. Schon bei seiner ersten Vernehmung einen Tag später, am 9.
November 1962, gab der Beschuldigte zu, in Auschwitz als Wachmann tätig
gewesen zu sein. Er bestritt aber, etwas von den Verbrechen gewusst zu
haben.
Doch die Hausdurchsuchung ergab, dass Familie Anhalt über in
Auschwitz entwendete Wertsachen und Lederwaren verfügte. Für seine
Kinder hatte Anhalt KZ-Häftlinge Mäntel anfertigen lassen. Seine Frau
wusste nicht nur vom Mord in den Gaskammern, sondern auch, dass ihr Mann
bei Selektionen mitgewirkt hatte und zur Vergasung schlurfende Menschen
zu den Krematorien begleitet habe.
In einer Vernehmung am 21.
August 1963 offenbarte Anhalt dann ein eigenwilliges Verständnis: „Ich
habe während meiner Dienstzeit im KZ Auschwitz überhaupt keine
Verbrechen begangen. Zumindest sehe ich das Erschießen, Töten, Schlagen
und Misshandeln von Häftlingen im KZ Auschwitz nicht als Verbrechen an.“
Er habe lediglich seine „Pflicht als Nationalsozialist erfüllt“ – das
hieß für ihn auch, „die Vernichtung der Juden zu beschleunigen“.
Ein klarer Fall. Dennoch gab es kein öffentliches
Strafverfahren gegen Anhalt, sondern er wurde in einem geheim gehaltenen
Prozess zu „lebenslänglich“ verurteilt. Warum? Die DDR machte zu dieser
Zeit gerade groß Propaganda gegen die angeblich immer noch
faschistische Bundesrepublik – da hätte es der SED nicht gepasst, wenn
gleichzeitig bekannt geworden wäre, dass es auch im Osten Deutschlands
Auschwitz-Täter gab. Anhalt starb 1975 in Haft.
Zum Vergleich: Allein in Frankfurt wurden zwischen 1963 und
1981 in fünf Verfahren 23 Auschwitz-Täter zu langen oder
lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt, weitere wie Bernhard Rakers in Osnabrück 1952/53, Otto Locke in West-Berlin 1957, Wilhelm Reischenbeck
in München 1958 und einige mehr. Das war im Ergebnis zwar keine
hinreichende Bilanz – aber angesichts etwa der Beispiele Riedel,
Bielesch und Siebereicher eine wesentlich bessere als in der
vermeintlich „antifaschistischen“ DDR.
Das umfassend dokumentiert
zu haben, ist Henry Leides Verdienst. Die Legende von der „besseren
Aufarbeitung“ in der DDR, die nie glaubhaft war, ist nun endgültig
widerlegt. Die Apologeten der SED wird das freilich nicht scheren.Henry Leide: Auschwitz und Staatssicherheit. Strafverfolgung. Propaganda und Geheimhaltung in der DDR“ (als PDF oder gedruckt zu beziehen über die BStU Berlin. 325 Seiten, 5 Euro) WeLT
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