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Dienstag, 5. Februar 2019

Wie die Stasi die Mörder von Auschwitz schützte

Große Aufgaben müssen vorbereitet werden. Am 22. Mai 1944 unterschrieb Paul Riedel, ein 37-jähriger Freiwilliger der Waffen-SS am Standort Auschwitz, einen „Verpflichtungsschein“. In dessen Punkt 2 hieß es: „Über alle während der Judenevakuierung durchzuführenden Maßnahmen habe ich unbedingte Verschwiegenheit zu bewahren, auch gegenüber meinen Kameraden.“ Und Punkt 3 verlangte vom Unterzeichner, dass er sich „mit meiner ganzen Person und Arbeitskraft für die schnelle und reibungslose Durchführung dieser Maßnahme“ einsetzen müsse.
Zahlreiche SS-Leute in Auschwitz unterzeichneten diese per Matrizenmaschine vervielfältigte Selbstverpflichtung, darunter neben Riedel auch zum Beispiel August Bielesch und Oskar Siebeneicher. Denn das deutsche Vernichtungslager erreichte just im Mai und Juni seine größte und grausamste „Effizienz“: Zwischen dem 18. Mai und dem 11. Juli 1944 deportierte die SS 437.000 ungarische Juden nach Auschwitz, von denen mindestens 320.000, wahrscheinlich aber 370.000 direkt nach ihrer Ankunft in Gaskammern ermordet wurden.




Um dieses „Mordaufkommen“ zu bewältigen, brauchte die KZ-Kommandantur jeden SS-Mann am Standort Auschwitz, und so wurden offenbar auch Siebeneicher, Bielesch und eben Riedel herangezogen zu Selektionen an der Rampe und anderen Aufgaben im direkten Zusammenhang mit dem Massenmord. Sie hatten bis dahin andere Aufgaben im Lagerkomplex gehabt, nun wurden sie Holocaust-Täter im engsten Sinne.
Alle drei lebten nach 1945 in der DDR. Gegen alle drei ermittelte die in der SED-Diktatur für NS-Verbrechen zuständige Abteilung IX im Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Dennoch blieben alle drei unbehelligt.
Das Verfahren gegen Oskar Siebeneicher stellte das MfS ein, weil er angeblich „keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ begangen habe, „für die er noch nicht bestraft“ worden sei. Doch beim großen Auschwitzprozess in Frankfurt/Main war aktenkundig geworden, dass Siebeneicher an „Vernichtungsaktionen“ teilgenommen hatte.
Riedel nicht, weil das Verfahren trotz einer dichten Beweislage „wegen Nichtbestätigung des Verdachtes“ eingestellt wurde. Er wurde nicht ein einziges Mal vernommen, obwohl er von Juli 1940 bis Januar 1945 ununterbrochen in Auschwitz tätig gewesen war. Selbst wenn ihm selbst nichts nachzuweisen gewesen wäre, dann hätte er doch als Zeuge enorm viel aussagen können.
Und auch Bielesch entging jeder Sanktion. Er wurde zwar vernommen, behauptete aber, nur Wache auf den Türmen des KZs geleistet zu haben und überhaupt von Verbrechen im Lager nichts bemerkt zu haben. Vermutlich weil er sich als IM „Philipp“ zu Spitzeldiensten für die Stasi verpflichtete und acht Jahre lang lieferte, beließ es die SED-Geheimpolizei dabei.
Diese Details über den skandalösen Umgang des MfS mit dem Menschheitsverbrechen Holocaust dokumentiert der Historiker Henry Leide in seinem neuen Buch „Auschwitz und Staatssicherheit“. Leide, Mitarbeiter der Rostocker Außenstelle des Stasiunterlagen-Archivs (BStU), hat bereits 2005 seine umfassender angelegte Studie „NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR“ vorgelegt. Jetzt folgt mit dem Band speziell zu Auschwitz eine beispielhaft gelungene Vertiefung.

Leide widerlegt damit das wirklich letzte „Argument“, das Linke-Politiker wie Gregor Gysi immer wieder bemühen: dass nämlich in der SED-Diktatur wenigstens die Verbrechen des NS-Regimes besser aufgearbeitet worden seien als in der Bundesrepublik.
Zwar ist richtig, dass der Rechtsstaat in Westdeutschland sich bis weit in die 1960er-Jahre hinein wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert hat, was die juristische Sanktionierung des Holocaust betrifft. Aber die DDR war in jeder Hinsicht noch viel schlimmer. Das einzige Kriterium, das hier über die Fragen einer Anklage entschied, war nämlich, ob ein Täter bereit war, sich dem kommunistischen Machtanspruch bedingungslos zu unterwerfen. Wer das tat, hatte gute Chancen, straffrei davonzukommen.

In manchen Fällen waren die Verbrechen allerdings so gewaltig, dass nicht einmal die Stasi das mehr ignorieren konnte. Etwa bei Hans Anhalt. Der lebte nach 1945 unbehelligt in Thüringen und arbeitete als Traktorfahrer. Spätestens 1951 erfuhren die DDR-Behörden zum ersten Mal, dass der 1908 geborene Anhalt als SS-Mann in Auschwitz gewesen sei und „Häftlingen die Goldzähne ausgeschlagen“ habe.
Doch zehn Jahre lang geschah gar nichts – keine Ermittlungen, keine Vernehmungen, erst recht keine Festnahme. Erst im Oktober 1961, in Jerusalem lief das Verfahren gegen Adolf Eichmann, den Organisator der Deportationen, und in Frankfurt/Main stand die Eröffnung des Auschwitz-Prozesses bevor, wurde das MfS aktiv: Es ließ Anhalt bespitzeln und legte eine Vorlaufakte an – unter dem Decknamen „Eichmann“.
Doch es dauerte mehr als ein Jahr, bis Hans Anhalt endlich festgenommen wurde. Schon bei seiner ersten Vernehmung einen Tag später, am 9. November 1962, gab der Beschuldigte zu, in Auschwitz als Wachmann tätig gewesen zu sein. Er bestritt aber, etwas von den Verbrechen gewusst zu haben.




Doch die Hausdurchsuchung ergab, dass Familie Anhalt über in Auschwitz entwendete Wertsachen und Lederwaren verfügte. Für seine Kinder hatte Anhalt KZ-Häftlinge Mäntel anfertigen lassen. Seine Frau wusste nicht nur vom Mord in den Gaskammern, sondern auch, dass ihr Mann bei Selektionen mitgewirkt hatte und zur Vergasung schlurfende Menschen zu den Krematorien begleitet habe.
In einer Vernehmung am 21. August 1963 offenbarte Anhalt dann ein eigenwilliges Verständnis: „Ich habe während meiner Dienstzeit im KZ Auschwitz überhaupt keine Verbrechen begangen. Zumindest sehe ich das Erschießen, Töten, Schlagen und Misshandeln von Häftlingen im KZ Auschwitz nicht als Verbrechen an.“ Er habe lediglich seine „Pflicht als Nationalsozialist erfüllt“ – das hieß für ihn auch, „die Vernichtung der Juden zu beschleunigen“.

Ein klarer Fall. Dennoch gab es kein öffentliches Strafverfahren gegen Anhalt, sondern er wurde in einem geheim gehaltenen Prozess zu „lebenslänglich“ verurteilt. Warum? Die DDR machte zu dieser Zeit gerade groß Propaganda gegen die angeblich immer noch faschistische Bundesrepublik – da hätte es der SED nicht gepasst, wenn gleichzeitig bekannt geworden wäre, dass es auch im Osten Deutschlands Auschwitz-Täter gab. Anhalt starb 1975 in Haft.
Überhaupt gab es in der DDR, also vom 7. Oktober 1949 bis zum 3. Oktober 1990, nach Leides Recherchen nur 15 Urteile gegen Auschwitz-Täter. Zweimal wurde die Todesstrafe verhängt und vollstreckt, drei zu lebenslang verurteilte KZ-Mörder starben in Haft. Die übrigen zehn wurden amnestiert.
Zum Vergleich: Allein in Frankfurt wurden zwischen 1963 und 1981 in fünf Verfahren 23 Auschwitz-Täter zu langen oder lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt, weitere wie Bernhard Rakers in Osnabrück 1952/53, Otto Locke in West-Berlin 1957, Wilhelm Reischenbeck in München 1958 und einige mehr. Das war im Ergebnis zwar keine hinreichende Bilanz – aber angesichts etwa der Beispiele Riedel, Bielesch und Siebereicher eine wesentlich bessere als in der vermeintlich „antifaschistischen“ DDR.
Das umfassend dokumentiert zu haben, ist Henry Leides Verdienst. Die Legende von der „besseren Aufarbeitung“ in der DDR, die nie glaubhaft war, ist nun endgültig widerlegt. Die Apologeten der SED wird das freilich nicht scheren.
Henry Leide: Auschwitz und Staatssicherheit. Strafverfolgung. Propaganda und Geheimhaltung in der DDR“ (als PDF oder gedruckt zu beziehen über die BStU Berlin. 325 Seiten, 5 Euro)   WeLT



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