Montag, 1. Juli 2019
Welch bittere Ironie der Geschichte
Die Leipziger Philharmoniker mussten von ihrem skandalösen Vorhaben ein wenig Abstand nehmen, ausgerechnet den letzten SED-Parteichef und erfolgreichen SED-Vermögenssicherer Gregor Gysi, im ersten Leben Mitarbeiter der Staatssicherheit, wie der Immunitätssauschuss des Deutschen Bundestages 1998 in seinem Abschlussbericht über die Untersuchung des Abgeordneten Gysi auf Stasimitarbeit festgestellt hat, als Festredner zur Ehrung der Demonstranten des 9. Oktober 1989 zu installieren. Die gegenwärtige Darstellung lautet: Gysi soll nicht als Festredener auftreten, sondern als „Zeitzeuge“ unter anderen. Darüber ist eine Debatte in den Medien losgebrochen.
Dabei wird jede Menge Schützenhilfe für Gysi geleistet. Der unvermeidliche Friedrich Schorlemmer behauptet pressewirksam, es handele sich um Zensur. Schorlemmer, dessen Verdienste in der Oppositionsbewegung der DDR unbestritten sind, profilierte sich damit wieder einmal als SED-Gesundbeter.
In der Debatte wurde den Bürgerrechtlern auch vorgeworfen, dass sie die Großdemonstration am 4. November 1989 in Berlin, bei der Gysi eine entscheidende Rolle gespielt hat, wohl nicht als Teil der Friedlichen Revolution ansähen.
Weil die Geschichte lehrt, wie man sie fälscht, wie mein Lieblings-Aphoristiker Stanisław Jerzy Lec, gesagt hat, möchte ich in Erinnerung rufen, was sich am 4.11.1989 abgespielt hat. Damals gab es zwei Demonstrationen: Eine zur Rettung der DDR auf der Rednertribüne und eine zu ihrer Abschaffung unter den Demonstranten.
Hier zitiere ich, was ich in meinem 1989-Tagebuch der Friedlichen Revolution dazu geschrieben habe:
Vierter November 1989
Großdemonstration in Berlin. Es ist die erste von der SED genehmigte Kundgebung, zu der die nicht von der SED, einer Blockpartei oder einem anderen staatlichen Organ aufgerufen wurde.Aber die SED hat erfolgreich Einfluss genommen. Dem Vorbereitungskreis gehörten nicht nur Oppositionelle und Künstler, sondern auch Vertrauensleute der SED, wie Gregor Gysi an, der sein bekanntes rhetorisches Talent dafür eingesetzt hatte, dass neben ihm auch der ehemalige Spionagechef der Staatssicherheit Markus Wolf und Politbüromitglied Günter Schabowski einen Platz auf der endlos langen Rednerliste bekamen.
Der Wunsch der SED-Führung ist es, mit dieser Demonstration das Heft des Handelns wieder in die Hand zu bekommen. Es soll ein Bekenntnis zu Reformen mit dem Ziel, einen demokratischen Sozialismus aufzubauen, werden. Natürlich unter Führung der SED.
Außer in Berlin gibt es Demonstrationen in fast 50 Städten und Gemeinden der DDR. Über eine Millionen Menschen sind an diesem Tag auf den Beinen. Die Hälfte davon in Berlin, was die Kundgebung zur größten der friedlichen Revolution macht. Dass die Veranstaltung dennoch ein zwiespältiges Gefühl hinterließ, lag an ihrer Konzeption, die bewirkte, dass es am Schluss zwei Kundgebungen gab: Eine fand auf dem Podium statt, die andere auf dem Platz.
Zunächst bewegt sich der Demonstrationszug am Gebäude der Nachrichtenagentur ADN vorbei zum Palast der Republik. Von dort geht es zum Alexanderplatz, eine große, zugige Freifläche. Dort ist eine hölzerne Tribüne aufgebaut, die Walter Kempowski, der vor dem Fernseher sitzt, an ein mittelalterliches Schafott erinnert.
Als erster Redner besteigt Spionagechef a. D. Markus Wolf dieses Schafott. Gysi hatte den Künstlern in der Vorbereitungsgruppe eingeredet, bei Wolf handele es sich um einen Reformer. Den Menschen vor der Tribüne ist das nicht weiszumachen. Wolf, den Kempowski als „Typ Wehrmachtsoffizier“ einordnet, wird bald durch Pfiffe und Sprechchöre am Weiterreden gehindert. Damit ist seine Reformkarriere beendet, bevor sie beginnen konnte.
Politbüromitglied Schabowski wagt dennoch den Versuch, die Masse auf Partei-, und Staatschef Egon Krenz, Reformen und demokratischen Sozialismus einzuschwören. Er behauptet, Krenz hätte den Schulterschluss mit Gorbatschow vollzogen, stellt sogar mehr Reisefreiheit in Aussicht. Auch ihn wollen die Menschen nicht hören. Pfiffe, Buh-Rufe, Sprechchöre, die „Aufhören, Aufhören!“ fordern.
Der Bürgerrechtler Jens Reich, der neben Schabowski steht, sieht, wie dessen Gesichtszüge verfallen. Er kann die Zurückweisung der Menge nicht ertragen. Widerspruch auszuhalten gehört nicht zu den Tugenden eines Politbüromitglieds.
Später beschreibt Schabowski dieses Erlebnis als den Wendepunkt in seinem Leben, da ihm bei dieser Gelegenheit klar wurde, dass die SED ihre Macht verspielt hat.
Gysi, der zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt ist, sieht deutlich ein Transparent, das „Rechtssicherheit statt Staatssicherheit“ fordert und kann sich mit Spitzen gegen die Stasi vor allzu vielen Pfiffen schützen. Aber auch ihm nehmen die Menschen die Reform-Rhetorik nicht ab.
Außer den vier Genannten spricht noch eine Reihe von Schriftstellern, Künstlern und Bürgerrechtlern. Alle halten sich an die Vorgaben und werben für Reformen und den demokratischen, den „richtigen“ Sozialismus. Nur Christa Wolf geht auf die Demonstranten ein. Sie bekennt ihre Schwierigkeiten mit dem Begriff Wende und führt den Wendehals in die Debatte ein. Sie weist auf die Rolle der Sprache bei der Befreiung von Diktatur und Zensur hin. „Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei über die Lippen.“ Aus den Sprüchen und Losungen der Demonstranten leitet sie ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Revolution ab, die für die bekennende Sozialistin ebenfalls nur den „richtigen“ Sozialismus zum Ziel haben durfte. Wenn Christa Wolf noch genauer hingeschaut hätte, wäre ihr nicht entgangen, dass die Menschen auf dem Platz etwas ganz anderes wollen. Sie haben sich bereits sichtbar vom Sozialismus verabschiedet, nur die Intellektuellen wollen es nicht wahrhaben.
Während auf der Tribüne unverdrossen für den Sozialismus geworben wird, verabschieden sich die Menschen auf dem Platz mit Sprechchören und Transparenten von der SED, ihren Wendemanövern und dem „richtigen“ Sozialismus.
„Der Sozialismus in der DDR steht zur Disposition“, ist in Abwandlung eines Krenz-Spruchs zu lesen. Und. „Es lebe die Straße“. Damit machen die Menschen klar, dass sie ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen haben und sich von niemandem mehr vorschreiben lassen wollen, was sie tun und lassen dürfen. Wenn die Sonne ab und zu durch die Wolken bricht, ertönt sofort der Ruf: „Reisewetter, Reisewetter“! Gegenüber Egon Krenz sind die Demonstranten unmissverständlich: „Zirkus Krenz – die Vorstellung ist aus“, „Abschaffung der Krenz-Truppe“, „Krenz-Xiaoping? – Nein, danke!“.
Auch die Debatte über die führende Rolle der SED ist auf dem Alexanderplatz längst entschieden: „SED in die Opposition“, „SED-Ade!“ und: „8, 9, 10 – SED kann geh’n!“
Buch-Zitat Ende.
Aufmerksamen politischen Beobachtern hätte es spätestens am 4. November 1989 dämmern müssen, dass es mit der DDR vorbei war. Das die SED nicht gegangen ist, sondern heute nach vier Namenswechseln immer noch unter uns ist, haben wir Gregor Gysi zu verdanken, der ihre Auflösung erfolgreich verhindert und ihr Vermögen gesichert hat.
Wie soll sein „Zeitzeugenbericht“ aussehen? Will er seine Bemühungen, die DDR und die SED zu erhalten, rechtfertigen? Wird er versuchen, Geschichtsfälschung zu betreiben mit der Behauptung, die SED-Reformer wären eine entscheidende Kraft in der Friedlichen Revolution gewesen?
Aber egal, was der ehemalige SED-Chef sagen wird, es ist auf jeden Fall ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die das SED-Regime zu Fall gebracht und die Vereinigung erzwungen haben. VL
Die bisherige Berichterstattung zum Thema auf Achgut.com:
Freude unschöner Götterfunken
Fortgeschrittene Geschichtsvergessenheit
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