Stationen

Montag, 3. August 2020

Die Stille

Vor Jahren, damals konnte ich kaum eine italienische Speisenkarte lesen, suchte ich in Neapel nach dem Sirenenbrunnen. „Fontana delle Zizze“, so stand es im Reiseführer, würden die Einheimischen den Brunnen nennen. Zitzen – das merkte ich mir und sagte, sobald mir ein Mann begegnete, „fontana“. Dabei deutete ich zwei angemessene Wölbungen an und wurde lachend verstanden. Es war freilich die Zeit der Mittagsruhe. Nur wenige Leute waren unterwegs, und weil ich fürchtete, Frauen könnten meine Geste missverstehen, dauerte die Suche ziemlich lange.
Sie erinnern sich gewiss. Sirenen waren Geschöpfe der griechischen Mythologie: der Oberkörper Frau, alles darunter Vogel. Sie hausten auf einem Riff, und ihr verlockender Gesang führte vorübersegelnde Fahrensleute auf den Felsen und somit in den Schiffbruch. Lediglich die Argonauten sowie eine Mannschaft, die vom listenreichen Odysseus geführt wurde, kamen heil davon. Odysseus ließ sich nämlich – nach dem Ratschlag der Zauberin Kirke – an den Mast fesseln und befahl seinen Gefährten, die Ohren mit Wachs zu verschließen, sodass keiner dem verhängnisvollen Gesang erlag. Eine Sirene namens Parthenope soll sich hernach im Zorn darüber ertränkt haben. Die Wellen warfen ihren Körper auf den Strand, und als griechische Siedler dort landeten, benannten sie deshalb den Ort Parthenope. Eine neue Stadt, griechisch Nea Polis und schließlich Neapel, ist daraus erst später entstanden.
Endlich fand ich den Brunnen und sah eine kindlich wirkende Sirene, die eher den Engelskulpturen auf Friedhöfen gleicht. Der Scheitel ist demütig gesenkt, die kleinen Brüste und die gefiederten Schenkel wecken keine Begierde. Das alles in weißem Marmor. Da haben Maler wie Arnold Böcklin, Herbert James Draper, Hans Thoma oder John William Waterhouse – allesamt zumindest zeitweilig den Sirenen verfallen – weitaus sinnlichere, verschlagenere Geschöpfe dargestellt. Nein, dieses tut ein gutes Werk, lässt aus den Brüsten Wasserstrahlen auf die Lava niedergehen, die aus dem stilisierten Vesuv unter ihren Krallen hervorzüngelt. Und am Brunnenbecken preisen derweil Wappen sowie Abbilder der Säulen des Herkules den Ruhm Karls V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König von Spanien. Das zeitweilig von spanischen Vizekönigen beherrschte Neapel war schließlich ein Teil seines Imperiums.
Der Auftrag für das ursprüngliche Kunstwerk – jetzt steht dort eine Kopie – stammt von seinem Vizekönig Pedro Álvarez de Toledo, dem Karl 1532 die Macht über Neapel anvertraute. Álvarez de Toledo, Markgraf von Villafranca, ein fähiger Politiker und überdies, wenn er Zeit dafür fand, gewandter Stierkämpfer, sowie an jedem seiner Tage ein gnadenloser Judenhasser und Freund der Inquisition, war vielleicht der einzige spanische Vizekönig, der sich nicht nur bereicherte, sondern etwas für Neapel tat. Während seiner Regentschaft wurde die Stadt – deren Bürger freilich unter der Steuerlast ächzten – die größte und am besten befestigte im spanischen Weltreich. In der Mitte des Jahrhunderts waren Neapel und Paris die volkreichsten Städte Europas. Das ist übrigens jene Zeit, in der Darstellungen von Sirenen selten wurden, in der sie in die Dichtung und – späterhin und noch vereinzelter – in die Malerei flohen. Zum einen mag das den wachsenden naturwissenschaftlichen Kenntnissen, zum anderen ihrem Gegenpart, der religiösen Unduldsamkeit, geschuldet sein.
Sogenannte Meerjungfrauen, die nunmehr ihren Platz einnahmen, tragen allesamt Fischschwänze. Sie sind der christliche Gegenentwurf zur heidnischen Sirene, zur Verkörperung der Versuchung, des Bösen und höllischer Kräfte.
Die Kirche, an die sich die Sirene lehnt, heißt Santa Maria della Spina Corona; der Name soll an die Dornenkrone Christi erinnern. Sie war geschlossen und interessierte mich nicht weiter, weil sie in Christof Thoenes‘ hervorragendem Kunstführer nicht erwähnt wird. Zum Stolperstein wurden mir der Sirenenbrunnen und die Dornenkronenkirche erst, als ich erfuhr, die Kirche sei ursprünglich eine Synagoge gewesen.* Und da muss ich jetzt sicherlich erklären, weshalb mein Interesse für jüdische Menschen und ihre Kultur bereits in einem Alter begann, in dem man wenig mehr als federlose Sirenen im Kopf hat – mögen sie nun singen oder nicht.

Das kam so: Ich wollte Seemann werden, und meine erste Reise mit dem Schulschiff führte in das ägyptische Alexandria. Der Weg vom Hafen in die Stadt verlief durch ein Gewerbeviertel, in dem neben verschiedenen Waren auch eindeutige Dienstleistungen angeboten wurden. Eine Gemeinsamkeit orientalischer Händler besteht nun darin, mit unfehlbarer Sicherheit die Herkunft möglicher Kunden zu erkennen. Staunenswert, wie sie deutsche Touristen an den Pyramiden ohne vorhergehende Fragen zum Foto auf einem Kamel namens „Rommel“ überreden wollen, während den stumm dahinter wartenden Briten dieses Tier ohne Zögern als „Monty“ (der britische Feldmarschall Montgomery) vorgestellt wird.
Deshalb wurde mir im Hafenviertel Alexandrias also „Hallo Hans!“ und noch häufiger „Hallo Hans, Heil Hitler!“ zugerufen. Das stimmte mich unbehaglich, zumal diese Leute sehr gut wissen, was Kunden gefällt. Weiter ging es nach Latakia in Syrien und ins libanesische Beirut, aber das änderte nichts daran, dass Hitler und der Holocaust gepriesen wurden und „Yahud“ das furchtbarste Schimpfwort war. Späterhin kam ich an die Küsten weiterer arabischer Länder, aber es war überall dasselbe: Man begegnete, wie sollte es anders sein, gastfreundlichen und arbeitsamen Menschen, aber sobald von Juden die Rede war, sahen zuvor gütige Gesichter bisweilen aus, als ob sie von Natterngift aufgebläht wären – ohne dass die Betreffenden, sofern sie jüngeren Generationen angehörten, einen Anlass dafür benennen konnten, der über gewisse Koransuren hinausging.
Es dauerte lange, bis ich schließlich begriff: Antisemitismus, Judenhass ist Bestandteil der kulturellen Prägung arabischer Muslime. Nirgendwo kam es damals zu Gewaltakten von Israelis, die solchen Hass erklärt hätten, nirgendwo mussten Israelis in jenen Jahren Krieg mit arabischen Nachbarn führen. Ich weiß, sie tun es zuweilen auch dann, wenn sie einmal nicht überfallen werden. Schließlich gehören sie einem der sehr wenigen Völker an, die wirklich „aus ihrer Geschichte gelernt” haben. 
Doch hier sollte von der Kirche die Rede sein, die einst eine Synagoge war. Erfahren habe ich davon durch ein Buch des ungarischen Juden Ernst Munkacsi „Der Jude von Neapel”, erschienen 1939 in Zürich. Wo sonst damals. Der seltsame Titel mag an Shakespeares „Kaufmann von Venedig” und insbesondere an Shylocks Klage im Dritten Aufzug erinnern. Wie auch immer, Munkacsi hat die Dornenkronenkirche genau untersucht und dabei festgestellt, dass es dort seit langer Zeit eine Quelle oder eine Zufuhr von Regenwasser gab, die früher eine Mikwe speiste: das Tauchbad für rituelle Waschungen. Überdies gibt es noch weitere Elemente, die auf den ursprünglichen Synagogenbau hinweisen, und Munkacsi schrieb begeistert:
Hier betete Isak Abarbanel! Hier kamen sie an jenem traurigen Herbstabend zusammen, bevor sie die Schiffe bestiegen, um Abschied zu nehmen von der herrlichen Heimat, in der ihre Väter seit Zerstörung des Heiligtums gewohnt hatten. Und ein Bild wird vor mir lebendig, als im VI. Jahrhundert die Juden die Stadt gegen die wilden Horden Belizars verteidigten und ihr Blut für die Aufrechterhaltung der Germanenherrschaft fließen ließen. All das nutzte nichts. Vergebens waren sie Urbewohner, vergebens hatten sie der Stadt mit Gut und Blut geopfert, im Jahre 1541 mussten sie mit Hab und Gut das Land, das stiefmütterlich gewordene, verlassen.“
Das mutet überschwänglich an, doch wirklich gab es schon vor der Zerstörung des Zweiten Tempels Gemeinschaften von Juden in Pompeji, Pozzuoli, Salerno und Neapel, die als Gefangene der Römer gekommen waren und dort frei leben und Handel treiben durften. Und in der Tat verteidigten im Jahr 536 Juden gemeinsam mit Goten die Stadtmauer Neapels gegen das Heer des byzantinischen Generals Belisar. Die Synagoge am Sirenenbrunnen war deshalb auch nicht die erste. Dokumente erwähnen jüdische Gotteshäuser in anderen Stadtteilen allerdings erst 984 und 1153 sowie in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts eine Bet Midrash, eine Rabbinerschule.

Inzwischen bewogen die offenkundigen Hinweise in der Kirche Santa Maria della Spina Corona den Erzbischof von Neapel, Crescenzio Kardinal Sepe, zu dem Anerbieten, der jüdischen Gemeinde das Gotteshaus als Leihgabe zurückzugeben. Denn Neapels Juden verfügen nicht über ein eigenes Gebäude: Ihre Synagoge ist ein Stockwerk im Palazzo Sessa. Eigentlich eine sehr gute Adresse. Sir William Hamilton, namhafter Vulkanologe, bedeutender Sammler und Förderer bildender Kunst sowie britischer Botschafter im Königreich beider Sizilien, residierte dort fast das halbe 18. Jahrhundert lang.
Wo nunmehr schartige Treppen aus grauem Pipernogestein hinaufführen und Fetzen einer alten Seidentapete vergangene Pracht verraten, sind zahllose Prinzen und Prinzessinnen gegangen, Herzöge, Grafen, Barone und vor allem Künstler zuhauf, darunter Pietro Fabris, Luca Giordano, die Gebrüder Hackert, Thomas Jones, Angelika Kauffmann, Giovanni Battista Lusieri, Wolfgang Amadeus Mozart und sein Vater, Francesco Piranesi, Wilhelm Tischbein oder Joachim Winckelmann, Europas erster Kunsthistoriker, zudem Dichter und Philosophen wie Lessing oder Herder.
Und schließlich jene, von denen niemand mehr hört: die zweimal hundert Bediensteten strahlender Feste oder die schöne Fatima – ein Beutestück aus der Seeschlacht am Nil. Den vielen Besuchern, die damals Emma Lady Hamiltons Gebärdenspiele mit leicht verschleiertem Körper sowie die Sammlungen ihres Gatten bewunderten, gehörte zudem ein Geheimer Rat namens Goethe an, und späterhin fand sich dort der Seeheld Horatio Nelson als Gast und Liebhaber ein. Danach nahm der Palazzo unter anderem die preußische Gesandtschaft und vor wenigen Jahren das Goethe-Institut auf. Aber ein berühmtes Haus ist noch keine Synagoge.

Wenn allerdings die jüdische Gemeinde Kardinal Sepes Angebot bisher nicht annahm, dann wird sie ihre Gründe dafür haben. Vielleicht schätzt man die Lage, denn die zum Palazzo Sessa führende Gasse ist für Aufmärsche ungeeignet. Selbst für eine Mahnwache müsste man sich den kleinen Platz vor dem Zugang noch mit den zwei Soldaten teilen, die ihn bewachen, sobald die israelische Luftwaffe wieder einmal den Raketenbeschuss aus Gaza beendet. Schließlich gibt es auch in Neapel zahlreiche Antisemiten, meist junge Leute, Studenten und Gewerkschafter, auch einige Politiker, Intellektuelle und Künstler, die sich freilich lieber Antizionisten oder Israelkritiker nennen.
Zöge man in die Dornenkronenkirche ein, würde das Nachbarschaft zur Universität und zum breiten Corso Umberto bringen, auf dem jene, die dort häufig „Free Palestine!" und „Refugees welcome!" skandieren, zur Piazza Garibaldi ziehen. Keine dieser Losungen erscheint einleuchtend: Welches Palästina soll da befreit werden? Ist das ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina gemeint, das die Vereinten Nationen zu einem Teil den Arabern, zum anderen den Juden zusprachen? Oder geht es um Judäa und Samaria? Will Jordanien, das diese Gebiete vor mehr als einem halben Jahrhundert nach einem verlorenen Krieg gegen Israel aufgeben musste, plötzlich das Westjordanland befreien? Unter die aufgebrachten Italiener – niemand von ihnen wird sich jemals über die Besetzung Tibets, Nordzyperns, der Krim oder der türkischen „Schutzzonen“ empören – mischen sich dabei arabische Fahnenschwenker, die ihren Flüchtlingsstatus nunmehr mindestens in der dritten Generation geerbt haben.
Sie schreien: „Kein Frieden ohne Rückkehr!" Was würden wohl die applaudierenden Passanten am Straßenrand empfinden, wenn sie erfahren sollten, der Schrei nach einer Rückkehr in die Heimat der Urgroßeltern erschalle auf deutschen Straßen? Und im Hinblick auf die Refugees: Den Garibaldiplatz trennen nur einige dutzend Meter von den Grünanlagen auf der Piazza Principe Umberto oder an der Porta Capuana. Dort liegen, zumindest am Abend, ausnahmslos junge Männer, die der Verlockung einer ebenso verantwortungslosen wie scheinheiligen Migrationspolitik erlegen sind, mehr oder minder berauscht auf zerrissenen Pappkartons. Wir sehen sie Jahr für Jahr vom Balkon unseres Hotels. Andere Teilnehmer dieser traurigen Zusammenkünfte erzählen derweil, die Bierflasche in einer Hand, das Smartphone in der anderen, den Daheimgebliebenen von Europa. Da könnten die Demonstranten nun Begegnungen mit den Menschen suchen, deren Wohl sie vorgeblich umtreibt, dort könnten sie tätige Hilfe leisten. Am Morgen klauben sonst wieder Straßenfeger, Verwünschungen murmelnd, Flaschenscherben aus den Pflasterritzen.

Wie überall auf der Welt hing das Schicksal der jüdischen Gemeinde Neapels immer am seidenen Faden des Wohlwollens jener, die herrschten. Und das waren in der Vergangenheit nach den Griechen die Römer, Byzantiner, Normannen, Staufer, die französischen Anjou, Aragonesen, Spanier, Österreicher, die spanischen Bourbonen, Franzosen, wiederum Österreicher und Bourbonen, eine dem damals entstehenden Königreich Italien genehme Regierung, Mussolinis Faschisten und die deutsche Besatzungsmacht. Dazu Aufstände, schreckliche Seuchen, Erdbeben, Luftangriffe von einem Ausmaß, wie es keine andere Stadt Italiens erdulden musste, Camorra und eine unglaublich anmutende Korruption. Es war also ohnehin nie leicht, in Neapel zu leben – geschweige denn für Juden.
Selbst wenn sie den Wohlstand der Stadt als Färber, Käse- und Wachshändler (mit anderen einheimischen Produkten durften sie auf Verlangen der Zünfte nicht handeln), Schriftsetzer und Drucker, Ärzte, Künstler und Gelehrte mehrten – nicht vergessen sei die besonders hohe Judensteuer –, selbst dann mussten sie oft genug eine erniedrigende Kleidung tragen, Tribute zahlen, blieben ihnen viele Bereiche der Handwerke und des Handels verschlossen, wurden sie in die den Christen verbotenen, verhassten Tätigkeiten der Pfandleiher und Geldverleiher gedrängt. Bisweilen nötigten die jeweiligen Machthaber sie zur Konversion oder vertrieben sie, und dann konnte ihnen oft weder der Glaubensübertritt noch die Ehe mit einem christlichen Partner helfen. Am besten erging es ihnen sicherlich während der toleranten Herrschaft des Staufenkaisers Friedrich II. oder der Anjou.
Nach 1492, als eine große Anzahl von der Iberischen Halbinsel, Sizilien und Sardinien vertriebener Juden Zuflucht in Neapel fand, schien abermals eine Zeit der Wiederbelebung gekommen. Doch schon fünf Jahre später wurde Neapel spanisches Vizekönigtum. Die spanische Krone, die sogar ihren jüdischen Schatzmeister verjagt hatte, zwang die Juden der Stadt zunächst, gelbe oder rote Mützen und Bänder zu tragen – Frauen und Mädchen ab 1539 sogar die rote Hurenschärpe – sowie für ihr Aufenthaltsrecht fortwährend erhöhte Tribute zu zahlen. Und als damit offenbar wurde, dass die Obrigkeit weder bekennende Juden noch Neuchristen – so nannte man zeitweilig die zum Christentum übergetretenen Juden – schützen würde, kam es schon während der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts zu Plünderungen und Pogromen, bei denen der Pöbel und der niedere Klerus sich besonders hervortaten. Für den, der eine Rechtfertigung seiner Gier oder seiner Gelüste suchte, ging es gegen die Mörder Christi, Brunnenvergifter, Hostienschänder, Mörder von Knaben, deren Blut für jüdische Rituale benötigt wurde oder einfach nur gegen Menschen, die ein anderes Bild von dieser Welt und von jenem hatten, der sie daraus erlösen würde.

Wer sich ein solches Geschehen nunmehr schwer vorstellen kann, der sehe sich unter den Teilnehmern einer sogenannten Gegendemonstration unserer Tage um. Da werden politische Gegner bespuckt, gestoßen, getreten, hin und wieder wird auch zugeschlagen, und nur die Gegenwart von Polizisten hindert manchen daran, seinem Hass noch heftiger nachzugeben. Es geschieht schließlich angeblich für die Menschenrechte und vor allem mit der von pflichtvergessenen Politikern bestärkten Gewissheit „Wir sind mehr!". Ich habe in Neapel nach bildlichen Zeugnissen für ähnliche Ausschreitungen – diesmal für Pogrome gegen Juden – gesucht , aber nur eines gefunden: Im Palazzo Reale zeigt ein Fresko Belisario Corenzios aus dem 17. Jahrhundert die Vertreibung spanischer Juden. Die Menschen im Vordergrund fliehen vor Soldaten, die sie mit Knüppeln und Hellebarden verfolgen, und der Maler hat sie mit unübersehbarer Anteilnahme gestaltet:
Ein vornehm gekleideter alter Mann mit einem Bündel, das sicherlich keine Reichtümer enthält, eine junge Frau im Festtagskleid, die ein Kind mit gelber Judenkappe mit sich zieht, eine Alte, die eine Henne an die Brust gepresst hält. Im Hintergrund eine leerstehende Synagoge und eine christliche Kirche, deren Kuppel gerade fertiggestellt wird. Mehr fand ich nicht. Die Anzahl schriftlicher Zeugnisse über jüdische Schicksale ist übrigens ebenfalls sehr beschränkt, seit die Bevölkerung während der berühmten „Vier Tage von Neapel“ die deutschen Besatzer aus der Stadt jagte. Damals rächten die Geschlagenen sich nicht nur mit schändlichen Massakern an Zivilisten und heimtückischen Sprengfallen, sondern zündeten nach Barbarenart auch den nach Nola ausgelagerten wertvollsten Bestand des Staatsarchives an.

Die spanische Krone vertrieb dann 1541 die gesamte jüdische Gemeinde für zwei Jahrhunderte. Zur Ehre vieler angesehener Bürger Neapels sei erwähnt, dass sie mehrfach versuchten, den Hof in Madrid umzustimmen. Aber der Judenhass und die Gier nach jüdischem Besitz waren stärker. Weil diese Ereignisse in die Regierungszeit des nicht nur bei den Fuggern hoch verschuldeten Karls V. fallen, ist vielleicht die Vermutung nicht abwegig, die „Judenaustreibung“ könne damit zu tun haben, dass nun andere den Platz jüdischer Bankiers oder der im Handel mit dem Orient reich gewordenen jüdischen Kaufleute einnahmen.
Es gab ja für viele etwas zu gewinnen: So wurde schon vor der endgültigen Vertreibung den Christen ein preisgünstiges Vorkaufsrecht auf die Grundstücke ihrer jüdischen Nachbarn eingeräumt. Erst 1740, zweihundert Jahre später, gestattete der König beider Sizilien den Angehörigen bestimmter Berufe die Rückkehr und die freie Kultausübung. Dominikaner, Jesuiten und mancher gute Bürger ruhten freilich nicht, bis der Erlass sechs Jahre darauf widerrufen wurde. Von einer jüdischen Gemeinde Neapels konnte erst wieder seit 1831 die Rede sein, als ein Rothschild ihr Zuflucht erkaufte.
Nein, leicht war das Leben nie. Man könnte jedoch versucht sein, an dauerhafte Umstände zu glauben, wenn da in einem Dokument aus dem Jahre 1002 ein vicus iudaeorum, ein jüdisches Stadtviertel, erwähnt wird. Damit war der Bereich zwischen dem verfallenen römischen Theater und der später errichteten Porta San Gennaro gemeint. Er heißt seit langer Zeit beschönigend Vico Limoncello: Eine enge Gasse, in die nur wenige Stunden am Tag Licht fällt und in der gewiss kein Zitronenbaum überleben würde. Vermutlich hat sich das Viertel im Verlauf der Zeit kaum verändert. Seit dem 8. Jahrhundert gab es dort eine nunmehr aufgegebene Kirche mit Namen San Gennaro Spogliamorti. San Gennaro ist der Stadtheilige Neapels, „spogliamorti“ bedeutet, dass man dort Tote entkleidete.
Denn dies war ein düsteres Gewerbe von Juden, nach dem andere sich wohl nicht drängten: Verstorbene auszuziehen, sie zu bestatten und ihre Kleidung zu verkaufen. Seit 1521, als nahebei die Hospitäler des Complesso degli Incurabili entstanden (Gebäudekomplex der Unheilbaren; als unheilbar galten die Opfer der Syphilis, die 1495 mit einem französischen Belagerungsheer nach Neapel kam), versperrten bisweilen täglich Leichenkarren die Zufahrt zum Vico Limoncello. Die entkleideten Toten im Sterbehemd – darunter natürlich keine Adligen, die sich prächtige Begräbniskapellen in den Kirchen erbauen ließen – brachte man in die nahen Tuffsteinhöhlen des Stadtteiles, der heute Sanità heißt.

Wie die Dornenkronenkirche ist auch der Vico Limoncello für mich ein Stolperstein, der keinen Namen trägt. Aber die Gasse war nicht das einzige Judenviertel Neapels. Ein Ghetto hat es nur für Monate vor der Vertreibung gegeben, weil die päpstliche Bulle, die dergleichen forderte, erst später verkündet wurde. Stattdessen siedelten viele Familien der jüdischen Gemeinde überdies in der Forcella – nahebei, aber nicht ganz zutreffend, zeigt das heute eine Via Giudecca Vecchia an – und in Portanova oder auf den hellen und luftigeren Hügeln von Monterone oder San Marcellino. Dann, nach der Verbannung 1541, gab es drei Jahrhunderte lang kein öffentliches jüdisches Leben mehr. Und ein weiteres Jahrhundert später kehrte die Vergangenheit zurück: 1938 schlossen das „Gesetz zum Schutz der italienischen Rasse“ nebst folgenden Verordnungen Juden aus der Wirtschaftsführung, aus der Staatspartei, den Streitkräften, staatlichen Verwaltungen, Universitäten und öffentlichen Schulen aus.
Ihr Grundbesitz wurde eingeschränkt, und der staatliche Antisemitismus ersann künftig noch eine Unzahl von Schikanen und Verboten. Aber in Italien wird, anders als hierzulande, häufig zuerst der Mensch geschätzt. Seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die auf Verlangen der Regierenden und ihrer strebsamsten Untertanen geächtet werden soll, bewirkt wenig. Neapels Juden gerieten deshalb erst in höchste Gefahr, als die deutsche Besatzung 1943 die Schrecken von Deportation und Ermordung brachte. Das Werk der Häscher ist dort allerdings missraten. Zum Beispiel deshalb, weil Beamte sich weigerten, die Gemeindelisten herauszugeben – die Namen dieser Männer sollten, mögen sie auch hochrangige Faschisten gewesen sein, in sanftem Gold an eine Wand des Rathaussaales gemalt werden. Zudem versteckten Einwohner der Vororte und nahen Dörfer viele Juden. Als die Alliierten nach dem Aufstand der Bevölkerung im Herbst 1943 einmarschierten, lebten noch 534 von vormals etwa tausend in der Stadt. Heute sind es deutlich weniger als zweihundert.
In ihrem Buch „Ho inciampato e non mi sono fatta male” schildert Miriam Rebhun Gaudino, wie glücklich ihre damals neunzehnjährige Mutter Luciana Gallichi war, als mit der Freiheit auch ihr künftiger Mann, der Deutsche Heinz Rebhun, nach Neapel kam. Heinz Rebhun gehörte wie sein Zwillingsbruder Kurt der Jüdischen Brigade der britischen Armee an. Luciana heiratete Heinz, und nach der Geburt ihrer Tochter Miriam wanderte die Familie in einen Kibbuz bei Haifa aus. Damit begann, was bis heute nicht endet: Heinz Rebhun wurde schon im Frühjahr 1948 von Arabern erschossen, als sie einen Bus überfielen, Kurt fiel im Herbst als Soldat. Luciana Rebhun heiratete nicht wieder. Ihre Tochter zeichnete nun vor einigen Jahren auf, was der Familie in Neapel und Haifa, aber auch in Berlin-Steglitz widerfuhr, wo ein Stolperstein an die 1942 deportierte und ermordete Mutter der Gebrüder Rebhun erinnert.

Das Unbehagen, das ich in den Straßen Alexandrias empfand, ist längst zur ziemlich sachkundigen Empörung geworden, und es stimmt mich böse, wenn sich nunmehr alles wiederholt: Auch für Italiens Linke ist Judenhass längst kein Tabu mehr, und so hat Eleonora de Majo, von ihren Gesinnungsgenossen als „Pasionaria“ gefeiert, die Regierung Israels „eine Handvoll Mörder“ und das israelische Volk „Schweine, geblendet von Hass, Leugnern und Verrätern an ihrer eigenen Tragödie“ genannt sowie den unter Antisemiten gewöhnlichen Zweifel an der Zahl der während der Shoah ermordeten Juden bekundet. Wie sie meint, seien es nicht sechs, sondern vier Millionen gewesen. Was sind das für Menschen, die den Ermordeten nicht einmal eine Zahl und den Nachkommen nicht einmal das Menschsein zugestehen?
De Majo, eine Ikone jener, die immer wieder mit geballten Fäusten, Sprechchören und dem Partisanenlied „Bella ciao“ den Corso Umberto entlangziehen, ist im vergangenen Herbst mit dem Amt der Stadträtin für Kultur und Tourismus belohnt worden. Ihre Ernennung überraschte übrigens nicht, denn schon länger dringt Sirenengesang aus dem Rathaus: Auch der ebenfalls links stehende Oberbürgermeister Luigi de Magistris kann es nicht lassen, Israelis immerfort Nazis zu nennen und Netanjahu mit Hitler gleichzusetzen. Beim Abschluss der Universiade weigerte er sich, auch israelische Sportler zu empfangen und bietet immer wieder palästinensischen Terroristen die Ehrenbürgerschaft an.
Ebenfalls nicht verwunderlich war, dass die Vertreter der jüdischen Gemeinde es in einer öffentlichen Erklärung ablehnten, jemals gemeinsam mit de Majo an Veranstaltungen teilzunehmen. Anlass jener Erklärung war die noch mit dem Vorgänger von de Majo vereinbarte Verlegung von Stolpersteinen durch Gunter Demnig auf der Piazza Bovio im letzten Januar. Die Aktion, die das Gedenken an neapolitanische Jüdinnen und Juden wachhalten soll, die in Auschwitz ermordet wurden, fand also ohne das Beisein von Juden statt.

Die Bürger Neapels müssen sich jedoch nicht für ihre Stadtverwaltung schämen: Am 30. Januar rief nun die jüdische Gemeinde zum Gedenken, und im Gegensatz zur zuvor ausgerichteten Veranstaltung kamen alle – Vertreter des Bundes der Partisanen Italiens, von Vereinigungen der Presse und der Journalisten, von Gewerkschaften und der Handelskammer, der Justiz sowie vieler Berufsstände und von Einrichtungen aller Art bis hin zum Goethe-Institut. Ein italienischer Freund hat mir deshalb mit Recht vorgehalten, ich solle zunächst einmal vor der eigenen Tür kehren. Er habe aus dieser Richtung schon oft Stimmen gehört, die noch feindseliger seien als jene aus der Stadtverwaltung Neapels. Und das nicht allein während der Berliner al-Quds-Aufmärsche.

Allerdings könne er deutsche Kritiker Israels gut verstehen, denn das Dasein einer Demokratie, in der selbst Staatsoberhäupter und hochstehende Regierungsmitglieder wegen ihrer Vergehen angeklagt würden und Haftstrafen verbüßen müssten, wirke sicherlich auf viele deutsche Politiker und nahezu alle deutschen Medien verstörend. Auch die Jahre andauernde Aufnahme vieler hunderttausend ebenso wehrhafter wie ungebildeter Anhänger des Propheten müsse wohl als Folge einer tiefen Verunsicherung gedeutet werden, die unfähig mache, Entwicklungen vom möglichen Ende her zu bedenken. Im Übrigen habe Karl Lagerfeld dazu treffend alles gesagt. Ebenso erkläre er sich zum Beispiel das Verhalten des Außenministers, der angeblich „wegen Auschwitz“ Politiker wurde und unverhohlen für die Interessen der Hassprediger in Teheran einträte.
Ein Außenminister, der Deutschlands Vertreter bei den Vereinten Nationen anweise, die vielen und fadenscheinigen Verurteilungen Israels zu unterstützen, die von Staaten der arabischen Welt vorgebracht werden. Bewundernswert erscheine ihm hingegen der Kunstgriff, antisemitische Umtriebe stets als rechtsradikal zu werten, ohne die Herkunft der Täter eindeutig zu benennen. Denn die Wahrheit würde nur politische Gegner begünstigen und zudem das gute Einvernehmen europäischer Politiker stören – den stehenden Applaus zum Beispiel, mit dem die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes Mahmud Abbas ehrten, nachdem der ihnen das mittelalterliche Märchen von den jüdischen Brunnenvergiftern erzählt hatte. Er sei dennoch zuversichtlich, dass sich der von Europa her immer wieder bestärkte und finanzierte Judenhass im Nahen Osten noch nicht entladen werde. Er schlafe gut, solange allein David eine tödliche Schleuder besitzt.

Ich gebe zu, das alles ist verwirrend, und nun lese ich überdies noch, deutsche jüdische Funktionäre, darunter eine ehemalige Präsidentin des Zentralrates der Juden, hätten sich sowohl in Hamburg als auch in München gegen die Verlegung von Stolpersteinen ausgesprochen.
Offenbar sind die Sirenen nie verstummt, sie singen weiterhin verlockend, klagend und verlogen. Man muss sich deshalb nicht gleich an den Mast fesseln lassen, aber es täte wohl gut, hin und wieder die Ohren mit Wachs zu verschließen, um während der Stille seinen Verstand zu gebrauchen.

Werner P. Lange, ursprünglich Seemann, ist ein deutscher Autor von Biografien, Reisebeschreibungen, erzählenden Sachbüchern und Hörspielen. Er lebt bei Berlin.

Neben den erwähnten wurden die folgenden Quellen benutzt:

(1) D’Avino, Ciro Moses: „Identità e storia – Napoli, l’antica sinagoga ora riscoperta“. Moked, il portale dell’Ebraismo Italiano, 23.06.2016, abgerufen am 28.06.20.

(2) Napoli, ITALIA JUDAICA, abgerufen am 23.06.20


*Dasselbe geschah in Würzburg (die Marienfigur von Auwera ähnelt nicht zufällig der Auber Marienfigur)

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