Vor Jahren, damals konnte ich kaum eine italienische Speisenkarte
lesen, suchte ich in Neapel nach dem Sirenenbrunnen. „Fontana delle
Zizze“, so stand es im Reiseführer, würden die Einheimischen den Brunnen
nennen. Zitzen – das merkte ich mir und sagte, sobald mir ein Mann
begegnete, „fontana“. Dabei deutete ich zwei angemessene Wölbungen an
und wurde lachend verstanden. Es war freilich die Zeit der Mittagsruhe.
Nur wenige Leute waren unterwegs, und weil ich fürchtete, Frauen könnten
meine Geste missverstehen, dauerte die Suche ziemlich lange.
Sie erinnern sich gewiss. Sirenen waren Geschöpfe der griechischen
Mythologie: der Oberkörper Frau, alles darunter Vogel. Sie hausten auf
einem Riff, und ihr verlockender Gesang führte vorübersegelnde
Fahrensleute auf den Felsen und somit in den Schiffbruch. Lediglich die
Argonauten sowie eine Mannschaft, die vom listenreichen Odysseus geführt
wurde, kamen heil davon. Odysseus ließ sich nämlich – nach dem
Ratschlag der Zauberin Kirke – an den Mast fesseln und befahl seinen
Gefährten, die Ohren mit Wachs zu verschließen, sodass keiner dem
verhängnisvollen Gesang erlag. Eine Sirene namens Parthenope soll sich
hernach im Zorn darüber ertränkt haben. Die Wellen warfen ihren Körper
auf den Strand, und als griechische Siedler dort landeten, benannten sie
deshalb den Ort Parthenope. Eine neue Stadt, griechisch Nea Polis und
schließlich Neapel, ist daraus erst später entstanden.
Endlich fand ich den Brunnen und sah eine kindlich wirkende Sirene,
die eher den Engelskulpturen auf Friedhöfen gleicht. Der Scheitel ist
demütig gesenkt, die kleinen Brüste und die gefiederten Schenkel wecken
keine Begierde. Das alles in weißem Marmor. Da haben Maler wie Arnold
Böcklin, Herbert James Draper, Hans Thoma oder John William
Waterhouse – allesamt zumindest zeitweilig den Sirenen
verfallen – weitaus sinnlichere, verschlagenere Geschöpfe dargestellt.
Nein, dieses tut ein gutes Werk, lässt aus den Brüsten Wasserstrahlen
auf die Lava niedergehen, die aus dem stilisierten Vesuv unter ihren
Krallen hervorzüngelt. Und am Brunnenbecken preisen derweil Wappen sowie
Abbilder der Säulen des Herkules den Ruhm Karls V., Kaiser des Heiligen
Römischen Reiches und König von Spanien. Das zeitweilig von spanischen
Vizekönigen beherrschte Neapel war schließlich ein Teil seines
Imperiums.
Der Auftrag für das ursprüngliche Kunstwerk – jetzt steht dort eine
Kopie – stammt von seinem Vizekönig Pedro Álvarez de Toledo, dem Karl
1532 die Macht über Neapel anvertraute. Álvarez de Toledo, Markgraf von
Villafranca, ein fähiger Politiker und überdies, wenn er Zeit dafür
fand, gewandter Stierkämpfer, sowie an jedem seiner Tage ein gnadenloser
Judenhasser und Freund der Inquisition, war vielleicht der einzige
spanische Vizekönig, der sich nicht nur bereicherte, sondern etwas für
Neapel tat. Während seiner Regentschaft wurde die Stadt – deren Bürger
freilich unter der Steuerlast ächzten – die größte und am besten
befestigte im spanischen Weltreich. In der Mitte des Jahrhunderts waren
Neapel und Paris die volkreichsten Städte Europas. Das ist übrigens jene
Zeit, in der Darstellungen von Sirenen selten wurden, in der sie in die
Dichtung und – späterhin und noch vereinzelter – in die Malerei flohen.
Zum einen mag das den wachsenden naturwissenschaftlichen Kenntnissen,
zum anderen ihrem Gegenpart, der religiösen Unduldsamkeit, geschuldet
sein.
Sogenannte Meerjungfrauen, die nunmehr ihren Platz einnahmen,
tragen allesamt Fischschwänze. Sie sind der christliche Gegenentwurf zur
heidnischen Sirene, zur Verkörperung der Versuchung, des Bösen und
höllischer Kräfte.
Die Kirche, an die sich die Sirene lehnt, heißt Santa Maria della
Spina Corona; der Name soll an die Dornenkrone Christi erinnern. Sie war
geschlossen und interessierte mich nicht weiter, weil sie in Christof
Thoenes‘ hervorragendem Kunstführer nicht erwähnt wird. Zum Stolperstein
wurden mir der Sirenenbrunnen und die Dornenkronenkirche erst, als ich
erfuhr, die Kirche sei ursprünglich eine Synagoge gewesen.* Und da muss
ich jetzt sicherlich erklären, weshalb mein Interesse für jüdische
Menschen und ihre Kultur bereits in einem Alter begann, in dem man wenig
mehr als federlose Sirenen im Kopf hat – mögen sie nun singen oder
nicht.
Das kam so: Ich wollte Seemann werden, und meine erste Reise mit dem
Schulschiff führte in das ägyptische Alexandria. Der Weg vom Hafen in
die Stadt verlief durch ein Gewerbeviertel, in dem neben verschiedenen
Waren auch eindeutige Dienstleistungen angeboten wurden. Eine
Gemeinsamkeit orientalischer Händler besteht nun darin, mit unfehlbarer
Sicherheit die Herkunft möglicher Kunden zu erkennen. Staunenswert, wie
sie deutsche Touristen an den Pyramiden ohne vorhergehende Fragen zum
Foto auf einem Kamel namens „Rommel“ überreden wollen, während den stumm
dahinter wartenden Briten dieses Tier ohne Zögern als „Monty“ (der
britische Feldmarschall Montgomery) vorgestellt wird.
Deshalb wurde mir im Hafenviertel Alexandrias also „Hallo Hans!“ und
noch häufiger „Hallo Hans, Heil Hitler!“ zugerufen. Das stimmte mich
unbehaglich, zumal diese Leute sehr gut wissen, was Kunden gefällt.
Weiter ging es nach Latakia in Syrien und ins libanesische Beirut, aber
das änderte nichts daran, dass Hitler und der Holocaust gepriesen wurden
und „Yahud“ das furchtbarste Schimpfwort war. Späterhin kam ich an die
Küsten weiterer arabischer Länder, aber es war überall dasselbe: Man
begegnete, wie sollte es anders sein, gastfreundlichen und arbeitsamen
Menschen, aber sobald von Juden die Rede war, sahen zuvor gütige
Gesichter bisweilen aus, als ob sie von Natterngift aufgebläht wären –
ohne dass die Betreffenden, sofern sie jüngeren Generationen angehörten,
einen Anlass dafür benennen konnten, der über gewisse Koransuren
hinausging.
Es dauerte lange, bis ich schließlich begriff: Antisemitismus,
Judenhass ist Bestandteil der kulturellen Prägung arabischer Muslime.
Nirgendwo kam es damals zu Gewaltakten von Israelis, die solchen Hass
erklärt hätten, nirgendwo mussten Israelis in jenen Jahren Krieg mit
arabischen Nachbarn führen. Ich weiß, sie tun es zuweilen auch dann,
wenn sie einmal nicht überfallen werden. Schließlich gehören sie einem
der sehr wenigen Völker an, die wirklich „aus ihrer Geschichte gelernt”
haben.
Doch hier sollte von der Kirche die Rede sein, die einst eine
Synagoge war. Erfahren habe ich davon durch ein Buch des ungarischen
Juden Ernst Munkacsi „Der Jude von Neapel”, erschienen 1939 in Zürich.
Wo sonst damals. Der seltsame Titel mag an Shakespeares „Kaufmann von
Venedig” und insbesondere an Shylocks Klage im Dritten Aufzug erinnern.
Wie auch immer, Munkacsi hat die Dornenkronenkirche genau untersucht und
dabei festgestellt, dass es dort seit langer Zeit eine Quelle oder eine
Zufuhr von Regenwasser gab, die früher eine Mikwe speiste: das Tauchbad
für rituelle Waschungen. Überdies gibt es noch weitere Elemente, die
auf den ursprünglichen Synagogenbau hinweisen, und Munkacsi schrieb
begeistert:
„Hier betete Isak Abarbanel! Hier kamen sie an jenem traurigen
Herbstabend zusammen, bevor sie die Schiffe bestiegen, um Abschied zu
nehmen von der herrlichen Heimat, in der ihre Väter seit Zerstörung des
Heiligtums gewohnt hatten. Und ein Bild wird vor mir lebendig, als im
VI. Jahrhundert die Juden die Stadt gegen die wilden Horden Belizars
verteidigten und ihr Blut für die Aufrechterhaltung der
Germanenherrschaft fließen ließen. All das nutzte nichts. Vergebens
waren sie Urbewohner, vergebens hatten sie der Stadt mit Gut und Blut
geopfert, im Jahre 1541 mussten sie mit Hab und Gut das Land, das
stiefmütterlich gewordene, verlassen.“
Das mutet überschwänglich an, doch wirklich gab es schon vor der
Zerstörung des Zweiten Tempels Gemeinschaften von Juden in Pompeji,
Pozzuoli, Salerno und Neapel, die als Gefangene der Römer gekommen waren
und dort frei leben und Handel treiben durften. Und in der Tat
verteidigten im Jahr 536 Juden gemeinsam mit Goten die Stadtmauer
Neapels gegen das Heer des byzantinischen Generals Belisar. Die Synagoge
am Sirenenbrunnen war deshalb auch nicht die erste. Dokumente erwähnen
jüdische Gotteshäuser in anderen Stadtteilen allerdings erst 984 und
1153 sowie in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts eine Bet Midrash,
eine Rabbinerschule.
Inzwischen bewogen die offenkundigen Hinweise in der Kirche Santa
Maria della Spina Corona den Erzbischof von Neapel, Crescenzio Kardinal Sepe, zu dem Anerbieten, der jüdischen Gemeinde das Gotteshaus als
Leihgabe zurückzugeben. Denn Neapels Juden verfügen nicht über ein
eigenes Gebäude: Ihre Synagoge ist ein Stockwerk im Palazzo
Sessa. Eigentlich eine sehr gute Adresse. Sir William Hamilton,
namhafter Vulkanologe, bedeutender Sammler und Förderer bildender Kunst
sowie britischer Botschafter im Königreich beider Sizilien, residierte
dort fast das halbe 18. Jahrhundert lang.
Wo nunmehr schartige Treppen aus grauem Pipernogestein hinaufführen
und Fetzen einer alten Seidentapete vergangene Pracht verraten, sind
zahllose Prinzen und Prinzessinnen gegangen, Herzöge, Grafen, Barone und
vor allem Künstler zuhauf, darunter Pietro Fabris, Luca Giordano, die
Gebrüder Hackert, Thomas Jones, Angelika Kauffmann, Giovanni Battista
Lusieri, Wolfgang Amadeus Mozart und sein Vater, Francesco Piranesi,
Wilhelm Tischbein oder Joachim Winckelmann, Europas erster
Kunsthistoriker, zudem Dichter und Philosophen wie Lessing oder Herder.
Und schließlich jene, von denen niemand mehr hört: die zweimal
hundert Bediensteten strahlender Feste oder die schöne Fatima – ein
Beutestück aus der Seeschlacht am Nil. Den vielen Besuchern, die damals
Emma Lady Hamiltons Gebärdenspiele mit leicht verschleiertem Körper
sowie die Sammlungen ihres Gatten bewunderten, gehörte zudem ein
Geheimer Rat namens Goethe an, und späterhin fand sich dort der Seeheld
Horatio Nelson als Gast und Liebhaber ein. Danach nahm der Palazzo unter
anderem die preußische Gesandtschaft und vor wenigen Jahren das
Goethe-Institut auf. Aber ein berühmtes Haus ist noch keine Synagoge.
Wenn allerdings die jüdische Gemeinde Kardinal Sepes Angebot bisher
nicht annahm, dann wird sie ihre Gründe dafür haben. Vielleicht schätzt
man die Lage, denn die zum Palazzo Sessa führende Gasse ist für
Aufmärsche ungeeignet. Selbst für eine Mahnwache müsste man sich den
kleinen Platz vor dem Zugang noch mit den zwei Soldaten teilen, die ihn
bewachen, sobald die israelische Luftwaffe wieder einmal den
Raketenbeschuss aus Gaza beendet. Schließlich gibt es auch in Neapel
zahlreiche Antisemiten, meist junge Leute, Studenten und Gewerkschafter,
auch einige Politiker, Intellektuelle und Künstler, die sich freilich
lieber Antizionisten oder Israelkritiker nennen.
Zöge man in die Dornenkronenkirche ein, würde das Nachbarschaft zur
Universität und zum breiten Corso Umberto bringen, auf dem jene, die
dort häufig „Free Palestine!" und „Refugees welcome!" skandieren, zur
Piazza Garibaldi ziehen. Keine dieser Losungen erscheint einleuchtend:
Welches Palästina soll da befreit werden? Ist das ehemalige britische
Mandatsgebiet Palästina gemeint, das die Vereinten Nationen zu einem
Teil den Arabern, zum anderen den Juden zusprachen? Oder geht es um
Judäa und Samaria? Will Jordanien, das diese Gebiete vor mehr als einem
halben Jahrhundert nach einem verlorenen Krieg gegen Israel aufgeben
musste, plötzlich das Westjordanland befreien? Unter die aufgebrachten
Italiener – niemand von ihnen wird sich jemals über die Besetzung
Tibets, Nordzyperns, der Krim oder der türkischen „Schutzzonen“ empören –
mischen sich dabei arabische Fahnenschwenker, die ihren
Flüchtlingsstatus nunmehr mindestens in der dritten Generation geerbt
haben.
Sie schreien: „Kein Frieden ohne Rückkehr!" Was würden wohl die
applaudierenden Passanten am Straßenrand empfinden, wenn sie erfahren
sollten, der Schrei nach einer Rückkehr in die Heimat der Urgroßeltern
erschalle auf deutschen Straßen? Und im Hinblick auf die Refugees: Den
Garibaldiplatz trennen nur einige dutzend Meter von den Grünanlagen auf
der Piazza Principe Umberto oder an der Porta Capuana. Dort liegen,
zumindest am Abend, ausnahmslos junge Männer, die der Verlockung einer
ebenso verantwortungslosen wie scheinheiligen Migrationspolitik erlegen
sind, mehr oder minder berauscht auf zerrissenen Pappkartons. Wir sehen
sie Jahr für Jahr vom Balkon unseres Hotels. Andere Teilnehmer dieser
traurigen Zusammenkünfte erzählen derweil, die Bierflasche in einer
Hand, das Smartphone in der anderen, den Daheimgebliebenen von
Europa. Da könnten die Demonstranten nun Begegnungen mit den Menschen
suchen, deren Wohl sie vorgeblich umtreibt, dort könnten sie tätige
Hilfe leisten. Am Morgen klauben sonst wieder Straßenfeger,
Verwünschungen murmelnd, Flaschenscherben aus den Pflasterritzen.
Wie überall auf der Welt hing das Schicksal der jüdischen Gemeinde
Neapels immer am seidenen Faden des Wohlwollens jener, die herrschten.
Und das waren in der Vergangenheit nach den Griechen die Römer,
Byzantiner, Normannen, Staufer, die französischen Anjou, Aragonesen,
Spanier, Österreicher, die spanischen Bourbonen, Franzosen, wiederum
Österreicher und Bourbonen, eine dem damals entstehenden Königreich
Italien genehme Regierung, Mussolinis Faschisten und die deutsche
Besatzungsmacht. Dazu Aufstände, schreckliche Seuchen, Erdbeben,
Luftangriffe von einem Ausmaß, wie es keine andere Stadt Italiens
erdulden musste, Camorra und eine unglaublich anmutende Korruption. Es
war also ohnehin nie leicht, in Neapel zu leben – geschweige denn für
Juden.
Selbst wenn sie den Wohlstand der Stadt als Färber, Käse- und
Wachshändler (mit anderen einheimischen Produkten durften sie auf
Verlangen der Zünfte nicht handeln), Schriftsetzer und Drucker, Ärzte,
Künstler und Gelehrte mehrten – nicht vergessen sei die besonders hohe
Judensteuer –, selbst dann mussten sie oft genug eine erniedrigende
Kleidung tragen, Tribute zahlen, blieben ihnen viele Bereiche der
Handwerke und des Handels verschlossen, wurden sie in die den Christen
verbotenen, verhassten Tätigkeiten der Pfandleiher und Geldverleiher
gedrängt. Bisweilen nötigten die jeweiligen Machthaber sie zur
Konversion oder vertrieben sie, und dann konnte ihnen oft weder der
Glaubensübertritt noch die Ehe mit einem christlichen Partner helfen. Am
besten erging es ihnen sicherlich während der toleranten Herrschaft des
Staufenkaisers Friedrich II. oder der Anjou.
Nach 1492, als eine große Anzahl von der Iberischen Halbinsel,
Sizilien und Sardinien vertriebener Juden Zuflucht in Neapel fand,
schien abermals eine Zeit der Wiederbelebung gekommen. Doch schon fünf
Jahre später wurde Neapel spanisches Vizekönigtum. Die spanische Krone,
die sogar ihren jüdischen Schatzmeister verjagt hatte, zwang die Juden
der Stadt zunächst, gelbe oder rote Mützen und Bänder zu tragen – Frauen
und Mädchen ab 1539 sogar die rote Hurenschärpe – sowie für ihr
Aufenthaltsrecht fortwährend erhöhte Tribute zu zahlen. Und als damit
offenbar wurde, dass die Obrigkeit weder bekennende Juden noch
Neuchristen – so nannte man zeitweilig die zum Christentum
übergetretenen Juden – schützen würde, kam es schon während der ersten
Jahrzehnte des Jahrhunderts zu Plünderungen und Pogromen, bei denen der
Pöbel und der niedere Klerus sich besonders hervortaten. Für den, der
eine Rechtfertigung seiner Gier oder seiner Gelüste suchte, ging es
gegen die Mörder Christi, Brunnenvergifter, Hostienschänder, Mörder von
Knaben, deren Blut für jüdische Rituale benötigt wurde oder einfach nur
gegen Menschen, die ein anderes Bild von dieser Welt und von jenem
hatten, der sie daraus erlösen würde.
Wer sich ein solches Geschehen nunmehr schwer vorstellen kann, der
sehe sich unter den Teilnehmern einer sogenannten Gegendemonstration
unserer Tage um. Da werden politische Gegner bespuckt, gestoßen,
getreten, hin und wieder wird auch zugeschlagen, und nur die Gegenwart
von Polizisten hindert manchen daran, seinem Hass noch heftiger
nachzugeben. Es geschieht schließlich angeblich für die Menschenrechte
und vor allem mit der von pflichtvergessenen Politikern bestärkten
Gewissheit „Wir sind mehr!". Ich habe in Neapel nach bildlichen
Zeugnissen für ähnliche Ausschreitungen – diesmal für Pogrome gegen
Juden – gesucht , aber nur eines gefunden: Im Palazzo Reale zeigt ein
Fresko Belisario Corenzios aus dem 17. Jahrhundert die Vertreibung
spanischer Juden. Die Menschen im Vordergrund fliehen vor Soldaten, die
sie mit Knüppeln und Hellebarden verfolgen, und der Maler hat sie mit
unübersehbarer Anteilnahme gestaltet:
Ein vornehm gekleideter alter Mann mit einem Bündel, das sicherlich
keine Reichtümer enthält, eine junge Frau im Festtagskleid, die ein Kind
mit gelber Judenkappe mit sich zieht, eine Alte, die eine Henne an die
Brust gepresst hält. Im Hintergrund eine leerstehende Synagoge und eine
christliche Kirche, deren Kuppel gerade fertiggestellt wird. Mehr fand
ich nicht. Die Anzahl schriftlicher Zeugnisse über jüdische Schicksale
ist übrigens ebenfalls sehr beschränkt, seit die Bevölkerung während der
berühmten „Vier Tage von Neapel“
die deutschen Besatzer aus der Stadt jagte. Damals rächten die
Geschlagenen sich nicht nur mit schändlichen Massakern an Zivilisten und
heimtückischen Sprengfallen, sondern zündeten nach Barbarenart auch den
nach Nola ausgelagerten wertvollsten Bestand des Staatsarchives an.
Die spanische Krone vertrieb dann 1541 die gesamte jüdische Gemeinde
für zwei Jahrhunderte. Zur Ehre vieler angesehener Bürger Neapels sei
erwähnt, dass sie mehrfach versuchten, den Hof in Madrid umzustimmen.
Aber der Judenhass und die Gier nach jüdischem Besitz waren stärker.
Weil diese Ereignisse in die Regierungszeit des nicht nur bei den
Fuggern hoch verschuldeten Karls V. fallen, ist vielleicht die Vermutung
nicht abwegig, die „Judenaustreibung“ könne damit zu tun haben, dass
nun andere den Platz jüdischer Bankiers oder der im Handel mit dem
Orient reich gewordenen jüdischen Kaufleute einnahmen.
Es gab ja für viele etwas zu gewinnen: So wurde schon vor der
endgültigen Vertreibung den Christen ein preisgünstiges Vorkaufsrecht
auf die Grundstücke ihrer jüdischen Nachbarn eingeräumt. Erst 1740,
zweihundert Jahre später, gestattete der König beider Sizilien den
Angehörigen bestimmter Berufe die Rückkehr und die freie Kultausübung.
Dominikaner, Jesuiten und mancher gute Bürger ruhten freilich nicht, bis
der Erlass sechs Jahre darauf widerrufen wurde. Von einer jüdischen
Gemeinde Neapels konnte erst wieder seit 1831 die Rede sein, als ein
Rothschild ihr Zuflucht erkaufte.
Nein, leicht war das Leben nie. Man könnte jedoch versucht sein, an
dauerhafte Umstände zu glauben, wenn da in einem Dokument aus dem Jahre
1002 ein vicus iudaeorum, ein jüdisches Stadtviertel, erwähnt
wird. Damit war der Bereich zwischen dem verfallenen römischen Theater
und der später errichteten Porta San Gennaro gemeint. Er heißt seit
langer Zeit beschönigend Vico Limoncello: Eine enge Gasse, in
die nur wenige Stunden am Tag Licht fällt und in der gewiss kein
Zitronenbaum überleben würde. Vermutlich hat sich das Viertel im Verlauf
der Zeit kaum verändert. Seit dem 8. Jahrhundert gab es dort eine
nunmehr aufgegebene Kirche mit Namen San Gennaro Spogliamorti. San Gennaro ist der Stadtheilige Neapels, „spogliamorti“ bedeutet, dass man dort Tote entkleidete.
Denn dies war ein düsteres Gewerbe von Juden, nach dem andere sich
wohl nicht drängten: Verstorbene auszuziehen, sie zu bestatten und ihre
Kleidung zu verkaufen. Seit 1521, als nahebei die Hospitäler des Complesso degli Incurabili
entstanden (Gebäudekomplex der Unheilbaren; als unheilbar galten die
Opfer der Syphilis, die 1495 mit einem französischen Belagerungsheer
nach Neapel kam), versperrten bisweilen täglich Leichenkarren die
Zufahrt zum Vico Limoncello. Die entkleideten Toten im Sterbehemd –
darunter natürlich keine Adligen, die sich prächtige Begräbniskapellen
in den Kirchen erbauen ließen – brachte man in die nahen Tuffsteinhöhlen
des Stadtteiles, der heute Sanità heißt.
Wie die Dornenkronenkirche ist auch der Vico Limoncello für mich ein
Stolperstein, der keinen Namen trägt. Aber die Gasse war nicht das
einzige Judenviertel Neapels. Ein Ghetto hat es nur für Monate vor der
Vertreibung gegeben, weil die päpstliche Bulle, die dergleichen
forderte, erst später verkündet wurde. Stattdessen siedelten viele
Familien der jüdischen Gemeinde überdies in der Forcella – nahebei, aber
nicht ganz zutreffend, zeigt das heute eine Via Giudecca Vecchia
an – und in Portanova oder auf den hellen und luftigeren Hügeln von
Monterone oder San Marcellino. Dann, nach der Verbannung 1541, gab es
drei Jahrhunderte lang kein öffentliches jüdisches Leben mehr. Und ein
weiteres Jahrhundert später kehrte die Vergangenheit zurück: 1938
schlossen das „Gesetz zum Schutz der italienischen Rasse“ nebst
folgenden Verordnungen Juden aus der Wirtschaftsführung, aus der
Staatspartei, den Streitkräften, staatlichen Verwaltungen, Universitäten
und öffentlichen Schulen aus.
Ihr Grundbesitz wurde eingeschränkt, und der staatliche
Antisemitismus ersann künftig noch eine Unzahl von Schikanen und
Verboten. Aber in Italien wird, anders als hierzulande, häufig zuerst
der Mensch geschätzt. Seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die auf
Verlangen der Regierenden und ihrer strebsamsten Untertanen geächtet
werden soll, bewirkt wenig. Neapels Juden gerieten deshalb erst in
höchste Gefahr, als die deutsche Besatzung 1943 die Schrecken von
Deportation und Ermordung brachte. Das Werk der Häscher ist dort
allerdings missraten. Zum Beispiel deshalb, weil Beamte sich weigerten,
die Gemeindelisten herauszugeben – die Namen dieser Männer sollten,
mögen sie auch hochrangige Faschisten gewesen sein, in sanftem Gold an
eine Wand des Rathaussaales gemalt werden. Zudem versteckten Einwohner
der Vororte und nahen Dörfer viele Juden. Als die Alliierten nach dem
Aufstand der Bevölkerung im Herbst 1943 einmarschierten, lebten noch 534
von vormals etwa tausend in der Stadt. Heute sind es deutlich weniger
als zweihundert.
In ihrem Buch „Ho inciampato e non mi sono fatta male”
schildert Miriam Rebhun Gaudino, wie glücklich ihre damals
neunzehnjährige Mutter Luciana Gallichi war, als mit der Freiheit auch
ihr künftiger Mann, der Deutsche Heinz Rebhun, nach Neapel kam. Heinz
Rebhun gehörte wie sein Zwillingsbruder Kurt der Jüdischen Brigade der
britischen Armee an. Luciana heiratete Heinz, und nach der Geburt ihrer
Tochter Miriam wanderte die Familie in einen Kibbuz bei Haifa aus. Damit
begann, was bis heute nicht endet: Heinz Rebhun wurde schon im Frühjahr
1948 von Arabern erschossen, als sie einen Bus überfielen, Kurt fiel im
Herbst als Soldat. Luciana Rebhun heiratete nicht wieder. Ihre Tochter
zeichnete nun vor einigen Jahren auf, was der Familie in Neapel und
Haifa, aber auch in Berlin-Steglitz widerfuhr, wo ein Stolperstein an
die 1942 deportierte und ermordete Mutter der Gebrüder Rebhun erinnert.
Das Unbehagen, das ich in den Straßen Alexandrias empfand, ist längst
zur ziemlich sachkundigen Empörung geworden, und es stimmt mich böse,
wenn sich nunmehr alles wiederholt: Auch für Italiens Linke ist
Judenhass längst kein Tabu mehr, und so hat Eleonora de Majo, von ihren
Gesinnungsgenossen als „Pasionaria“ gefeiert, die Regierung
Israels „eine Handvoll Mörder“ und das israelische Volk „Schweine,
geblendet von Hass, Leugnern und Verrätern an ihrer eigenen Tragödie“
genannt sowie den unter Antisemiten gewöhnlichen Zweifel an der Zahl der
während der Shoah ermordeten Juden bekundet. Wie sie meint, seien es
nicht sechs, sondern vier Millionen gewesen. Was sind das für Menschen,
die den Ermordeten nicht einmal eine Zahl und den Nachkommen nicht
einmal das Menschsein zugestehen?
De Majo, eine Ikone jener, die immer wieder mit geballten Fäusten,
Sprechchören und dem Partisanenlied „Bella ciao“ den Corso Umberto
entlangziehen, ist im vergangenen Herbst mit dem Amt der Stadträtin für
Kultur und Tourismus belohnt worden. Ihre Ernennung überraschte übrigens
nicht, denn schon länger dringt Sirenengesang aus dem Rathaus: Auch der
ebenfalls links stehende Oberbürgermeister Luigi de Magistris kann es
nicht lassen, Israelis immerfort Nazis zu nennen und Netanjahu mit Hitler gleichzusetzen.
Beim Abschluss der Universiade weigerte er sich, auch israelische
Sportler zu empfangen und bietet immer wieder palästinensischen
Terroristen die Ehrenbürgerschaft an.
Ebenfalls nicht verwunderlich war, dass die Vertreter der jüdischen
Gemeinde es in einer öffentlichen Erklärung ablehnten, jemals gemeinsam
mit de Majo an Veranstaltungen teilzunehmen. Anlass jener Erklärung war
die noch mit dem Vorgänger von de Majo vereinbarte Verlegung von
Stolpersteinen durch Gunter Demnig auf der Piazza Bovio im letzten
Januar. Die Aktion, die das Gedenken an neapolitanische Jüdinnen und
Juden wachhalten soll, die in Auschwitz ermordet wurden, fand also ohne
das Beisein von Juden statt.
Die Bürger Neapels müssen sich jedoch nicht für ihre Stadtverwaltung
schämen: Am 30. Januar rief nun die jüdische Gemeinde zum Gedenken, und
im Gegensatz zur zuvor ausgerichteten Veranstaltung kamen alle –
Vertreter des Bundes der Partisanen Italiens, von Vereinigungen der
Presse und der Journalisten, von Gewerkschaften und der Handelskammer,
der Justiz sowie vieler Berufsstände und von Einrichtungen aller Art bis
hin zum Goethe-Institut. Ein italienischer Freund hat mir deshalb mit
Recht vorgehalten, ich solle zunächst einmal vor der eigenen Tür kehren.
Er habe aus dieser Richtung schon oft Stimmen gehört, die noch
feindseliger seien als jene aus der Stadtverwaltung Neapels. Und das
nicht allein während der Berliner al-Quds-Aufmärsche.
Allerdings könne er deutsche Kritiker Israels gut verstehen, denn das
Dasein einer Demokratie, in der selbst Staatsoberhäupter und
hochstehende Regierungsmitglieder wegen ihrer Vergehen angeklagt würden
und Haftstrafen verbüßen müssten, wirke sicherlich auf viele deutsche
Politiker und nahezu alle deutschen Medien verstörend. Auch die Jahre
andauernde Aufnahme vieler hunderttausend ebenso wehrhafter wie
ungebildeter Anhänger des Propheten müsse wohl als Folge einer tiefen
Verunsicherung gedeutet werden, die unfähig mache, Entwicklungen vom
möglichen Ende her zu bedenken. Im Übrigen habe Karl Lagerfeld dazu
treffend alles gesagt. Ebenso erkläre er sich zum Beispiel das Verhalten
des Außenministers, der angeblich „wegen Auschwitz“ Politiker wurde und
unverhohlen für die Interessen der Hassprediger in Teheran einträte.
Ein Außenminister, der Deutschlands Vertreter bei den Vereinten
Nationen anweise, die vielen und fadenscheinigen Verurteilungen Israels
zu unterstützen, die von Staaten der arabischen Welt vorgebracht werden.
Bewundernswert erscheine ihm hingegen der Kunstgriff, antisemitische
Umtriebe stets als rechtsradikal zu werten, ohne die Herkunft der Täter
eindeutig zu benennen. Denn die Wahrheit würde nur politische Gegner
begünstigen und zudem das gute Einvernehmen europäischer Politiker
stören – den stehenden Applaus zum Beispiel, mit dem die Abgeordneten
des Europäischen Parlamentes Mahmud Abbas ehrten, nachdem der ihnen das
mittelalterliche Märchen von den jüdischen Brunnenvergiftern erzählt
hatte. Er sei dennoch zuversichtlich, dass sich der von Europa her immer
wieder bestärkte und finanzierte Judenhass im Nahen Osten noch nicht
entladen werde. Er schlafe gut, solange allein David eine tödliche
Schleuder besitzt.
Ich gebe zu, das alles ist verwirrend, und nun lese ich überdies
noch, deutsche jüdische Funktionäre, darunter eine ehemalige Präsidentin
des Zentralrates der Juden, hätten sich sowohl in Hamburg als auch in
München gegen die Verlegung von Stolpersteinen ausgesprochen.
Offenbar sind die Sirenen nie verstummt, sie singen weiterhin
verlockend, klagend und verlogen. Man muss sich deshalb nicht gleich an
den Mast fesseln lassen, aber es täte wohl gut, hin und wieder die Ohren
mit Wachs zu verschließen, um während der Stille seinen Verstand zu
gebrauchen.
Werner P. Lange, ursprünglich Seemann, ist ein deutscher Autor von Biografien, Reisebeschreibungen, erzählenden Sachbüchern und Hörspielen. Er lebt bei Berlin.
Neben den erwähnten wurden die folgenden Quellen benutzt:
(1) D’Avino, Ciro Moses: „Identità e storia – Napoli, l’antica sinagoga ora riscoperta“. Moked, il portale dell’Ebraismo Italiano, 23.06.2016, abgerufen am 28.06.20.
(2) Napoli, ITALIA JUDAICA, abgerufen am 23.06.20
*Dasselbe geschah in Würzburg (die Marienfigur von Auwera ähnelt nicht zufällig der Auber Marienfigur)
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