Stationen

Sonntag, 23. Oktober 2022

Kurz durchatmen

Die Sonntagsrunde mit Burkhard Mueller Ullrich 

 

1983 sagte ich mir, sozusagen "unter zwei Augen" (weil man das nicht ungestraft einfach so sagen konnte damals in der roten Toskana), dass man es als Europäer wahrlich gut hat (solange es nicht durch irgendeine unvorhergesehene Verwerfung zu einem Nuklearkrieg an dem Ort käme, den ich als Auge des Orkans ansah: Europa. Den dort bestehenden, dauerhaft scheinenden Frieden sah ich nie als Ergebnis kluger Politik, sondern als Resultat von Erschöpfung einerseits, der ängstlichen Zurückhaltung gegenüber nuklearen Abenteuern andererseits - die aber erstens nicht ewig anhalten würde und zweitens sofort wegfallen würde, sobald nuklear abgerüstet würde - , drittens (was den Frieden in Europa betrifft) der Tatsache, dass die USA die Europäer an der Kandare haben (sobald sie uns uns selbst überlassen, ist der Frieden innerhalb Europas keineswegs mehr sicher) und letztlich des unverhofften Glückes), denn überall andernorts fehlte allzu viel zum Glück.

 

In Russland und China fehlten Freiheit und gesundes gesellschaftliches Miteinander (Isaak Sterns Film "Mozart in China" zeigte zusätzlich noch, wie barbarisch sich der Maoismus auf die Kulturpolitik ausgewirkt hatte). In Australien dürsteten alle gebildeten Menschen nach europäischer Kultur und litten darunter, dass die ältesten Baudenkmäler aus dem 19. Jahrhundert stammen, in den USA gab es zwar die demokratische Verve und die Vitalität des Jazz und der Filmkunst und auch etwas bedeutende Literatur, aber auch eine Form des Kapitalismus, die sich nicht mit Ludwig Erhard messen kann und abgesehen von Kalifornien, Florida, New England und New York und der herrlichen Natur Colorados immens viel schlechten Geschmack. Und in Afrika ruinierte der Postkolonialismus mehr als der Kolonialismus geschadet hatte. In Europa sollte man sich zwar dafür schämen, weiß zu sein (wegen der Schwarzen und der Indianer), Mann zu sein (wegen der Hominidinnen und ihrer Nachfahren), Deutscher zu sein (wegen der Juden), Italiener zu sein (wegen der Mafia), Europäer zu sein (wegen aller anderer Kulturen, die weniger geleistet haben und wegen des ach so bitterböhsen Kolonialismus), aber ich dachte bei mir "unter zwei Augen", dass ich lieber froh bin, Europäer zu sein, als mich dafür zu schämen. 

Und jetzt sehe ich sehr ungern - nachdem die Wiedervereinigung mir viel Mut gemacht hatte, dass es auch zu einer klugen europäischen Einheit kommen könnte -, wie alles den Bach runtergeht, weil bereits die Generation Kohl, Stoiber, Waigel gar nicht so realistisch war, wie ich gedacht hatte, sondern viel zu blauäugig auf die vermeintlich selbstreinigende Natur von Marktmechanismen gesetzt hatte, die sich aber nur dort entfalten können, wo sie durch einen Rechtsstaat eingerahmt sind, der traditionell gewachsenem Konsens den Weg bahnt.



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