Stationen

Dienstag, 11. Oktober 2022

Die schuldiggesprochene Vergangenheit

Die „Cancel Culture“ hat berühmte Vorbilder im futuristischen Abräumen. Walter Benjamin hielt den definitiven Verlust von Kulturgütern für ein geringeres Übel als deren falschen Gebrauch. Eine „Funktion der politischen Utopie“ sei es daher, „den Sektor des Zerstörungswürdigen abzuleuchten“. Zerstören als Präludium zur Erlösung. Die jetzige „Cancel Culture“ gründet auf der „historischen Gerechtigkeit“. Nicht die historische Fachdisziplin hat dieses Schlagwort ge­prägt. Sein Ursprung ist außerwissenschaftlich. Seinen Diskurswert besorgten Therapeuten, Theologen, Aktivisten und Anwälte. Seinen medialen Kurswert be­zieht es aus seiner appellativen Kraft, Vergangenes schuldig zu sprechen und an die Gegenwart Ansprüche zu stellen. Nichts bezeichnet den intellektuellen Zustand der Geschichtswissenschaften deutlicher als ihre Kapitulation vor diesem Kampfbegriff.
Besieht man diesen Diskurs, dann stechen drei Merkmale ins Auge: Erstens zielt er auf die „Wiedergutmachung“ von „historischem Unrecht“ durch die Nachfahren der „Täter“. Zweitens hat der Umgang mit der Schoah zum Vorbild gedient. So beauftragte 1992 die „Organization of African Unity“ (OAU) eine „Gruppe eminenter Personen“, sie solle „die Modalitäten und Strategien erkunden für eine afrikanische Kampagne zur Restituierung, ähnlich der Entschädigung, die Deutschland an Israel und die Überlebenden des Nazi-Holocausts gezahlt hat“. Drittens streben westliche Befürworter nach Verbrüderung der Menschheit, gewonnen aus der „Erlösung der Vergangenheit“. Diese Idee von Hermann Lotze hatte sich im apokalyptischen Extremismus der deutschen Zwischenkriegszeit pseudoreligiös angereichert, etwa bei Heidegger und bei Benjamin, und hat dazu gedient, die Geschichte der Menschheit umzuperspektivieren, um ihr die dostojewskijsche „Allversöhnung“ als Ziel zu stecken.
Die entscheidende Prämisse für das Konzept der „Historischen Gerechtigkeit“ besteht aus drei Dogmen, formuliert von Frantz Fanon in „Die Verdammten dieser Erde“ (1961): Die Europäer hätten den Kolonialismus errichtet, sie hätten den Rassismus erfunden, und sie hätten die Sklaverei gebracht. Seither leugnet der antikoloniale Diskurs vier historische Tatsachen: nämlich dass sämtliche Hochkulturen und, wie Orlando Patterson 1982 nachwies, auch eine Menge vorstaatlicher Ge­sellschaften sklavistische Systeme waren; dass nur in der westlichen Kultur ein Abolitionismus entstand und die weltweite Abschaffung der
Sklaverei eine westliche Errungenschaft ist; dass sämtliche Eroberer diverse Formen von Kolonialismus praktizierten, wobei der arabische sicherlich der erfolgreichste war; dass Rassismus ein ubiquitäres Phänomen und in sklavistischen Gesellschaften geradezu un­ver­meidbar ist, und dass der hautfarbige Rassismus eine arabische Kreation ist. Historische Gerechtigkeit ist nicht zu haben ohne historische Wahrheit. Hier jedoch stehen wir vor vier Unwahrheiten. Mit diesen vier Leugnungen lässt sich ausgerechnet jene Kultur zur Quelle allen Übels dämonisieren, welche die Menschenrechte formulierte. Alle Einsichtsvollen und alle Guten sind verpflichtet, diese dämonische Kultur schlechthin abzuräumen.
Unvermeidliche Opferkonkurrenz
Paradoxerweise wäre dieser Diskurs gar nicht möglich gewesen ohne die menschenrechtliche Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch deren Errungenschaften werden nun anti-universalistisch gebraucht. So bemühte sich auf dem OAU-Gipfel von 1993 der tunesische Delegierte, die anderen Afrikaner davon abzubringen, Reparationen für die Sklaverei zu fordern. Stattdessen sollte man für den Kolonialismus Entschädigung verlangen. Das Motiv war offenkundig: Kommt es zu Reparationen für die Sklaverei, werden die arabischen Länder in enormem Ausmaß zahlungspflichtig. Dieselbe Unredlichkeit zeigt die französische „Loi Taubira“ von 2001, welche die europäische Sklaverei seit dem fünfzehnten Jahrhundert zu einem „crime contre l’huma­nité“ erklärt. Indes, warum ist die afrikanische oder die islamische Sklaverei nicht ebenfalls ein „crime contre l’humanité“?
Die Postulate einer diachronen Gerechtigkeit ehrlich auf die Sklaverei anzuwenden würde uns zu einem Regress bis Noah und Ham nötigen. Der ist nicht nur deswegen unmöglich, weil uns die Dokumente fehlen, sondern weil die menschlichen Kollektive ihre Identitäten laufend veränderten und fast nirgendwo kulturelle Gemeinsamkeiten mit ihren biologischen Vorfahren bewahrten. Die
korrektive Gerechtigkeit ist also nur denkmöglich, falls man sicher sein kann, wer die realen Täter waren und dass die realen Opfer noch leben. Für die Nachgeborenen ändern sich alle Fragen. Ebendies verwischt der Autor der Studie „Historische Gerechtigkeit“, Lu­kas Meyer: Neben den „direkten Opfern“ spricht er von deren Nachfahren als „mittelbaren Opfern“. Doch sind nicht sämtliche jetzt lebenden Menschen in irgendeiner Hinsicht „mittelbare Opfer“? Und was heißt „Nachfahren von Sklaven“ zu sein? Jene Afro-Amerikaner, die sich als solche definieren, übergehen die Tatsache, dass ihre Vorfahren in den Vereinigten Staaten meist über fünf, maximal über sieben Generationen Sklaven waren und dass sie seit 1865 in der fünften Generation Nachfahren von freien Menschen sind.
Zudem bleibt unbekannt, wie viele von den knapp 300 000 nach Nordamerika verkauften Sklaven selber Sklavenjäger oder Nachfahren von solchen waren. Wer also heute nach Kompensation für damals ruft, ist seinerseits ebenso in der Pflicht, für die Verbrechen der eigenen Vorfahren Wiedergutmachung zu leisten. Dekonstruiert man das Konzept des „Nachfahren“, dann verflüchtigt sich die „historische Gerechtigkeit“. Hinzu kommt die unvermeidliche Opferkonkurrenz: Die Obsession der Be­son­der­heit des „eigenen“ Leidens zelebriert den eigenen Ausnahmestatus mit ei­ner My­thomatik, welche notwendig zu Leugnungen treibt, weil das Opfersein da­zu verleitet, anderen ein vergleichbares Ausmaß an Leid abzustreiten. Schlimmer noch: Der imaginierte Opferstatus radikalisiert den Identitätswahn. Die Vokabel „Rasse“ breitet sich deswegen so pestilenzartig in allen Diskursen aus, weil me­mo­rial­tech­nisch diejenigen Gruppen am meisten gewinnen, die sich auf die „Rasse“ berufen. Denn weder das „Ge­schlecht“ noch die „Klasse“ ist imstande, ihre „Identität“ durch den Wandel der Generationen zu bewahren. Die „Rasse“ hingegen scheint die Kontinuität des Kollektivs über die Generationen hinweg zu garantieren. Reparationen bestärken die Einkapselung in eine dauerhafte rassische „Opferrolle“, aktivieren die „Rassenidentität“ und steigern das „Rassenbewusstsein“. Der allerorten ansteigende Rassismus resultiert aus einer Identitätspolitik, die sich in hohem Maße der „historischen Gerechtigkeit“ verdankt.
Das Postulat des Wiedergutmachens schafft skrupellos dramatische Ungleichheiten. Gerechtigkeit impliziert, dass ihre Herstellung prinzipiell möglich sei, ob­schon nicht lückenlos verwirklichbar. Nun ist der weitaus größte Teil von
historischem Unrecht in den letzten sechstausend Jahren niemals dokumentiert worden. Wie sollen wir Unrecht wiedergutmachen, von dem wir gar nichts wissen, obschon es vielleicht noch schlimmer war als die uns bekannten Fälle? Jede Reparation privilegiert das erinnerte Unrecht gegenüber dem nicht-erinnerten und erzeugt neue Ungerechtigkeit. Obendrein geht alle Wiedergutmachung an diejenigen Gruppen, die sich er­folg­reich als Nachfahren derjenigen Opfer präsentieren, von der sie ihre eigene Identität qua mémoire herleiten. Reparationen privilegieren somit die Sieger in den unaufhörlich tobenden Memorialkämpfen. Aber sind nicht viele dieser memorialen Sieger auch in der Vergangenheit ihrerseits „Täter“ gewesen? Als vor wenigen Monaten das Horniman Museum in London so­wie die Universitäten Oxford und Cambridge beschlossen, Kunstwerke aus Benin dem nigerianischen Staat zu übereignen, protestierte eine afroamerikanische „Restitution Study Group“: Eine solche „Repatriierung“ bereichere just die Nachfahren der Versklaver und der Sklavenverkäufer und demütige die Versklavten erneut: „Nigeria und das Königreich Benin haben sich nie für das Versklaven unserer Vorfahren entschuldigt. Sie zeigen keine Reue und erheben den Anspruch, Opfer zu sein.“ Ein solcher Protest war vorhersehbar und wurde vorhergesagt. Es hat die Aktivisten nicht interessiert.
Jeder Begriff von Fortschritt schleppt die Inkaufnahme der Kosten seiner eigenen Universalisierung mit sich. Um die grauenhaften Versklavungskriege im Inneren Af­ri­kas zu stoppen, reichte es nicht, den Sklavenhandel an der Küste zu unterbinden. Die Briten mussten Invasionen durchführen. Sie intervenierten seit 1807 zö­gernd und seit 1848 massiver im Innern, desgleichen die Franzosen. Selbstverständlich mussten sie teure militärische Einsätze durchführen und Protektorate errichten, die man später Kolonien nannte. Es ist darum unmöglich, die Genese des britischen und des französischen Kolonialismus in Afrika zu trennen von moralisch er­zwun­ge­nen humanitären Interventionen, entsprungen aus der schon damals umstrittenen Annahme, es sei ius cogens – zwingendes Recht –, bestimmte moralische und rechtliche Prinzipien weltweit durchzusetzen. Die heutigen Afrikaner wären weit überwiegend Sklaven, wenn Briten und Franzosen nicht interveniert hätten. Die „Restitution Study Group“ begrüßt daher die britische Strafexpedition gegen Benin von 1897: „Sie beendete das Verkaufen und das Opfern versklavter Menschen
, welche 300 Jahre lang ‚Strafexpeditionen‘ des Königreiches Benin erlitten.“ Vielleicht hätte gar, wie der Historiker Seymour Drescher es 2009 sagte, die Bevölkerung Afrikas sich in mörderischen Genoziden ausgelöscht.
Die Schlussfolgerung ist unbequem: Die freien Afrikaner von heute verdanken ihre Freiheit just den abolitionistischen Interventionen von Briten und Franzosen. Sollen diese von den Afrikanern einen Kostenausgleich verlangen für die Rettung eines ganzen Kontinents vor der sicheren Versklavung? Eine solchen Rechnung wäre logisch: Falls – gemäß dem Postulat der „historischen Gerechtigkeit“ – Untaten in der Geschichte finanziell und moralisch abzugelten wären, dann müssten auch Wohltaten bezahlt werden. Aus dieser Ab­sur­di­tät entkommt nur, wer sich von der Verrechtlichung der Geschichte verabschiedet. „Historische Gerechtigkeit“ ist mithin ein Unbegriff, ein Nonsense-Postulat.
Historisches Übel oder historisches Unrecht?
In seiner Abhandlung „Verantwortung für historisches Unrecht“ unterzieht der Rechtsphilosoph Michael Schefczyk den bedingungslosen Universalismus unserer „kantischen Ära“ einer Kritik, die sich an jenen Problemstellungen orientiert, die Karl Jaspers in seinen Traktaten zur Schuldfrage umrissen hat. Er stellt sich gegen „die Utopie von der Einholung der menschlichen Geschichte ins Recht“, indem er unterscheidet zwischen historischem Übel und historischem Unrecht: Wenn „natürliche“ Rechte verletzt werden – durch Mord, Folter, Versklavung, Verstümmelung, Vertreibung oder Raub –, dann handelt es sich um ein Übel, falls die Schädiger kein Bewusstsein davon haben, dass sie damit Verbrechen begehen. Hingegen handelt es sich um ein Unrecht, falls ihnen das bewusst ist.
Historisches Übel bringt keine Schuld mit sich. Historisches Unrecht hingegen bedeutet Schuld der Täter sowie Haftung der folgenden drei Generationen. Daher unterscheidet Schefczyk „moralisch kompetente“ Kulturen von „moralisch inkompetenten Kulturen“: Ein riesiger Teil der Untaten in der menschlichen Geschichte wurde verübt von Angehörigen „moralisch inkompetenter“ Kulturen. Diese Untaten sind kein Unrecht, sondern historisches Übel, folglich entziehen sie sich einer nachträglichen Verrechtlichung. Für sie kann es keine Reparationen geben.
So wird freilich eine Kluft aufgerissen zwischen der Shoah und der Sklaverei. Letztere war jahrtausendelang legitim. Sie wurde sehr spät und zunächst nur in Segmenten des westlichen Kulturkreises zum Unrecht. Die Shoah hingegen wurde, während sie geschah, als ein Verbrechen begriffen, sowohl von den Opfern als auch von den meisten Tätern, ebenso wie vom abendländischen Kulturkreis insgesamt. Aus diesem Unterschied – eines gemeinsam geteilten moralischen Horizontes – ergibt sich die Feststellung von Schuld, die Zurechnung von Haftung und die Pflicht zur Wiedergutmachung.
Indes, gerät der Begriff des „historischen Unrechts“ nicht in ähnliche Aporien wie der Unbegriff der „historischen Gerechtigkeit“? Darauf deutet seine geschichtsphilosophische Paradoxie: Je moralisch kompetenter eine Kultur wird, desto mehr wird sie „schuldig“. Nach der Schefzcykschen Un­terscheidung wäre die Sklaverei wahrscheinlich seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu einem Unrecht geworden. Aber wo? Just nicht dort, wo man sie praktizierte. Dort beließ die „dominante Normierung“ die sklavistischen Kulturen in ihrer „Inkompetenz“ und darum in ihrer Unschuld. Hingegen werden alle Kulturen zu „schuldigen“, in denen ein Abolitionismus entstand, welcher mit größter intellektueller und moralischer Anstrengung dar­um kämpfte, eine legitime soziale Institution zu einem Unrecht zu machen.
Pseudoreligiöse Ideologie eines Neubeginns
Zu dieser Konsequenz wird getrieben, wer die Geschichte so sehr ins Recht einholt, dass ihr die historische Qualität entzogen wird. Auch das Konzept des „historischen Unrechts“ nötigt zu bösartigen Konsequenzen: Wenn wir menschliche Verhältnisse und Handlungen über alle Zeiten hinweg radikal juridifizieren, dann werden wir erstens unentwegt verlangen müssen, dass Menschenrechte ohne Rücksicht auf nationale Grenzen – auch gewaltsam – durchzusetzen sind. Denn der Artikel 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist nach internationalem Recht ius cogens. Er müsste per Intervention mit UN-Mandat durchgesetzt werden. Solches Intervenieren bedeutet, ganze Regionen unter UN-Protektorat zu stellen. Und so hatte der britische und französische Kolonialismus in Afrika begonnen. Wollen wir das wirklich? Zweitens müssen wir dann wählen, ob wir sämtliche Kulturen der Weltgeschichte vor der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu moralisch inkompetenten Gebilden erklären oder ob wir sie als verbrecherische Systeme verurteilen. In beiden Fällen reduzieren wir die Menschen der Vergangenheit zu moralisch minderwertigen Wesen.
Das imaginierte historische Unrecht hat den öffentlichen Raum mit Tränen gefüllt. Es hat aus dem Eingeständnis von Schuld eine einforderbare performative Geste gemacht und eine Welle von Abbitten über die westliche Welt schwappen lassen. Mit ihr verbreitet sich jene pseudoreligiöse Ideologie, wonach das Eingeständnis von Schuld einen moralischen Neubeginn be­wirke. Das mag zutreffen, wie das Reuekonzept Max Schelers suggeriert, nämlich für moralische und individuelle Schuld. Verlogen werden die Schuldeingeständnisse dort, wo moralische Schuld nicht vorliegt. Deswegen hat Hannah Arendt die Zelebrierung von kollektiver Schuld in der politischen Öffentlichkeit für desaströs gehalten. Denn, wie Karl Jaspers ausführte, nur die Täter selber tragen moralische Schuld. Der Begriff lässt nicht zu, dass Nachfahren sich entschuldigen für ihre Vorfahren. Entschuldigungen lassen sich nicht delegieren.
Wir erleben nicht bloß widersinnige Gesten, sondern verwerfliche. Denn sie enteignen die „Vorfahren“ moralisch und verschaffen den jetzt Lebenden eine unbegrenzte moralische Ermächtigung. Sind wir berechtigt, sämtliche Epochen und sämtliche Kulturen vor der Abschaffung der Sklaverei als verbrecherische Gebilde zu be­trachten und alle jene Menschen zu Kriminellen zu stempeln, für die man bloß Abscheu empfinden kann? Indem wir die Sinnsysteme der vergangenen Generationen von Grund auf missachten und diese selber als moralische Wesen verachten, versetzen wir sie in eine radikale Alterität. Damit negieren wir den Begriff einer einheitlichen Menschheit. Obendrein ertrinken wir in einem nie dagewesenen Wahn der Machbarkeit, der einem religiösen Imperativ gehorcht: Die jetzige Generation soll mittels Wiedergutmachungen die Vergangenheit „erlösen“, damit eine messianische „Allversöhnung“ sich ereigne. Dieser Wahn belädt unsere Generation mit der Aufgabe, gottgleich die Welt neu zu erschaffen. Sollte die Weltgeschichte sich in dieser Form des Weltgerichtes erfüllen, dann hörte die menschliche Gattung auf, als diachrone Gesamtheit ideell zu existieren.
Kulturelle Schizophrenie
Am schwersten beschädigt wird die Geschichtswissenschaft. Das Tun der Menschen vergangener Zeit dem moralischen und juristischen Verdikt der Gegenwart zu unterstellen heißt, elementare Grundsätze des Faches zu missachten. Die Historie kann nur dann wissenschaftlich verfahren, wenn sie das Fremde als Fremdes zu verstehen sucht und erklärt. Wenn der Druck einer auf „historische Gerechtigkeit“ zielenden Gedächtnispolitik weiter anhält, dann wird die Geschichtswissenschaft die nächsten fünfzig Jahre nicht überleben.
Das Menetekel erklang im September 2018, als der Deutsche Historikertag eine Resolution verabschiedete, welche die Ei­nigung Europas umgründet: „Nicht zuletzt im Lichte der kolonialen Gewalt, die Europäer in anderen Teilen der Welt ausgeübt haben, gilt es, der gemeinsamen Verantwortung für die Folgen unserer Politik im außereuropäischen Raum gerecht zu werden.“ Damit hat der Fachverband seine intellektuelle Abdankung unterzeichnet und eingestanden, dass er den theoretischen Erfordernissen seiner eigenen Disziplin nicht mehr gewachsen ist.
Eine kulturelle Schizophrenie: Dieses Schuldigsprechen der Vergangenheit ist ja nur möglich, weil wir Maßstäbe anlegen, die wir nicht hätten, wenn die vergangenen Epochen sie nicht historisch geschaffen hätten, nämlich als Erbe für uns. Wenn wir die Menschenrechte gebrauchen, um vergangene Epochen zu verdammen, dann vergessen wir, dass diese Menschenrechte ein Erzeugnis der europäischen Kultur sind, entstanden im langwierigen jahrhundertelangen Kampf gegen die Sklaverei. Wir verdanken just diesen Generationen, die wir anprangern, dass wir so sein dürfen, wie wir sind, dass wir so denken können, wie wir denken. Wir streichen genau jenen Prozess, dem wir es verdanken, dass wir universale moralische Maßstäbe besitzen, mittels deren wir heute in der Lage sind, Verbrechen gegen die Menschlichkeit festzustellen. Diesen Prozess zu tilgen hieße nicht allein, die Geschichtswissenschaft zu liquidieren, sondern die jetzige Generation zum absoluten Subjekt ohne kulturelle Genese zu erheben und die Geschichte selber auszulöschen.   Egon Flaig in der FAZ


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