Ich sage es nicht gern, aber wie rüpelhaft wir Deutsche tatsächlich generell sind, merkte ich erst, nachdem ich in Italien in einer Stadt lebte, in der sehr viele Nationen aufeinandertreffen. Ich bin in Florenz sehr, sehr wenigen Deutschen begegnet, die sich gegenüber der eingesessenen Bevölkerung mit dem gehörigen Anstand verhielten. Dabei war ich, bevor ich nach Italien kam, gegenüber den Italienern selber voreingenommen und ablehnend. Wer die Augen auf hat, kann aber sehen und kann zur Zeit die deutsche Rüpelhaftigkeit auch in Deutschland, sogar wenn er nie im Ausland lebte, ahnen oder spüren, denn die Hemmungslosigkeit der in Deutschland seit Bestehen der AfD zu beobachtenden Niedertracht wird von Jahr zu Jahr hemmungsloser. Die Art in der sich in Germany Niedertracht mit Dummheit verbindet, ist dabei einzigartig. Übrigens! Auch das war typisch für die DDR!! Die Niedertracht der Grenzkontrolleure, wenn man als Westdeutscher in die DDR fuhr, ist unvergesslich, wenn man sie erlebt hat und steht in schärfstem Kontrast mit der Zuvorkommenheit der Russen, die Köppel gerade in Kasan erlebt hat.
Man wendet sich vom deutschen Medienbetrieb mit zugehaltener Nase ab. Und wenn sich an den deutschen Medien nichts ändert, dann von ganz Deutschland.
Auch Claudia Schiffer war einst zu Gast bei «Wetten, dass . . .?: Die Blondine, ganz in Chanel, betritt die Bühne mit weissen Overknees. Ob das Einkaufstüten seien oder Strümpfe, beginnt Thomas Gottschalk das Geplänkel. Das seien Stiefel, erklärt Schiffer: «Fühl mal, fühl mal, die sind ganz weich.» Er kniet nieder – «Sie hat es so gewollt» –, während sie ihm das Bein entgegenstreckt und sich an seiner Schulter abstützt, damit Gottschalk ihren Stiefel anfasst.
Als Schiffer im nachfolgenden Gespräch dann sinniert, wie sie «direkt nach dem Baden» als Kind «Wetten, dass . . .?» gucken durfte und jetzt, zwanzig Jahre später, selber hier sitze, ergänzt Gottschalk: «Und in zwanzig Jahren baden wir vielleicht zusammen.» Das Supermodel quittiert die Bemerkung mit einem Kichern.
Es ist eine hinreissende Szene, wie die zwei Show-Profis für ein paar Fernsehminuten die Illusion nähren, die Deutschen würden hier ihre schönste Botschafterin der Haute Couture ganz nah erleben. Dabei wahrten beide nach allen Regeln des Flirts im gegenseitigen Respekt höfliche Distanz. Und weil es anno 2006 nur Zuschauer gab und noch nicht: Zuschauende, waren sie alle begeistert, damals in der Düsseldorfer Messehalle 6.
Beim «Spiegel» fand man vor ein paar Tagen angesichts dieser televisionären Entfesselung aus dem letzten Jahrhundert folgenden Titel fürs Interview mit dem Showmaster passend: «Ich habe Frauen im TV rein dienstlich angefasst.» Darunter war zu lesen: «Das Alter nagt an ihm.»
Dies war natürlich nicht nett gemeint, vor allem aber hat der «Spiegel» den relevanten Teil von Gottschalks Antwort weggelassen, da dieser das «Anfassen» einordnet und es vergleicht mit einem «Schauspieler, der im Film küsst, weil es im Drehbuch steht. Das lasse ich mir nicht als Attacke vorwerfen.» Trotzdem würde er es heute bleiben lassen, weil er wisse, «dass gewisse Dinge mittlerweile politisch inkorrekt sind, die es damals nicht waren», sagt Gottschalk.
«Wetten, dass . . .?» lebte im Wesentlichen davon, an der Unnahbarkeit der Superstars ein wenig zu rütteln. Gottschalk machte aus der heiklen Gratwanderung nicht selten grosse Unterhaltungskunst. Auf dem schlüpfrigen Parkett waren Fauxpas nicht ausgeschlossen, aber der Entertainer entschuldigte sich im Zweifelsfall unumwunden. An die früher lockeren Sitten den prüden Massstab von heute anzulegen, wirkt wie ein müder Witz, umso mehr, wenn man sich die übergriffige Propaganda etwa eines Jan Böhmermann vor Augen führt. Dieser setzt liberale Politiker auf «RAF-Listen» oder bezeichnet Frauen, die sich gegen Transaktivisten zur Wehr setzen, auch mal als «Scheisshaufen».
In seinem gerade erschienenen Buch «Ungefiltert. Bekenntnisse von einem, der den Mund nicht halten kann» geht der Prominente auf die andauernde Kampagne ein, die der «Spiegel» bereits 2007 gegen ihn lancierte mit einer Bildstrecke unter dem Titel «Gottschalk, der Grabscher». Der Talkmaster sieht sich angesichts der Drangsale gezwungen zur Erklärung: «Warum hätte ich Frauen vor Millionen von Zuschauern anbaggern sollen?»
Gute Frage. Ganz abgesehen davon, dass die weibliche Prominenz, wo ein Zehn-Millionen-Publikum live mit dabei war, die beflissene Hilfestellung eines journalistischen Fähnleins der Aufrichtigen überhaupt nicht nötig hat. Man erklärt hier arrivierte Frauen wie Claudia Schiffer, Steffi Graf oder die Spice Girls im Nachhinein zu kompletten Dummchen. Und rückt Gottschalk in die Nähe von #MeToo, das bekanntlich seinen Anfang nahm angesichts brutaler Vergewaltigungen im Kontext von einseitigen Machtverhältnissen.
Die Schiffer-Inszenierung eignet sich schön dazu, die Verwirrung der Medien zu veranschaulichen, wenn sie Gottschalk nun auf Teufel komm raus, wenn nicht gleich zum Unmenschen, so doch zum alten weissen Mann erklären. Warum aber wird Gottschalk so gern dargestellt als unangenehm «onkeliger» Frauenbelästiger, der sich auch noch weigert zu gendern?
Weil es viel Aufmerksamkeit gibt, wenn man Deutschlands erfolgreichstem Talkmaster Sexismus zuschreibt. Derzeit auch beliebt: Gottschalk wegen eines von ihm nicht erbetenen Applauses seitens der AfD zum «Sympathisanten» dieser Partei zu erklären. Obwohl er sich schwarz auf weiss distanziert von der AfD, weil sie vor allem «Empörung und Unzufriedenheit schürt» und sich erschöpft darin, «gegen die anderen Parteien und in letzter Konsequenz auch gegen das Grundgesetz» zu sein.
Den Vogel abgeschossen hat der Gottschalk-Exeget in der «Zeit», als er zum Auftakt eines längeren Artikels stolz bemerkte, dass er «keine Zeit» gehabt habe, das Buch des Entertainers zu lesen. Er stützt sich stattdessen auf das Interview im «Spiegel» und mutmasst flott drauflos – Journalismus ade.
Wo eine Neuigkeit sich so leicht auf Shitstorm drehen lässt, arbeiten viele Medien hart am Wind. Der künstlich beatmete Aufruhr erzählt nun fast flächendeckend die Geschichte von einem Vorgestrigen, der in der erfolgreichsten deutschen Unterhaltungssendung aller Zeiten live Frauen ungehörig betatschte und der jetzt seine angebliche Bitterkeit gegen die Jugend in Stellung bringt, wenn er die Generation Z kritisiert, der eine «ausgewogene Work-Life-Balance» wichtiger sei als die Karriere.
Im WDR-Talk «Kölner Treff» schwang man sich noch vor Erscheinen von Gottschalks Buch zum regelrechten Tribunal gegen diesen auf: Der Moderator Micky Beisenherz prügelte fünfzehn Minuten lang auf Gottschalk ein. Damit dieser endlich sagen möge, er wolle in Zukunft gendern oder doch wenigstens zugeben, ein frustrierter Alter auf Publikumsentzug zu sein: «Dass man so dranhängt, dass man sagen will, was man denkt», so entsetzt sich Beisenherz und bekommt fast Schnappatmung. In diesem Kampf gegen die Meinungsfreiheit will wiederum die «Zeit» einen «Appell an Gottschalks Vernunft» erkannt haben.
Man mag Gottschalks Erinnerungen mehr oder weniger interessant finden; das Buch birgt keine intellektuellen Erkenntnisse. Was nicht heissen soll, dass der Autor nicht recht hat, wenn er beispielsweise zur Diskussion stellt, ob die Weihnachtsfeier in der Kita seines Enkels nicht stattfinden sollte, weil es muslimische Kinder verletzen könnte.
Und warum eigentlich soll der ehemalige Entertainer nicht übers Gendern kritisch schreiben, mit dem «Zustand des öffentlich-rechtlichen Fernsehens» hadern oder über Hass und Hetze nachdenken dürfen? Keiner muss das Buch kaufen. Es liegt auf der Hand, dass einer, dessen Berufsleben im Spannungsfeld von Sein und Schein stand, über Celebritys, Eitelkeiten und Jugendwahn nachdenkt. Ein Beweis für eine Gottschalk nun unterstellte frauenverachtende Haltung ist das nicht, wo es nun mal Frauen sind, die mehr an sich herumoperieren lassen als Männer.
Dieser Umgang mit Gottschalk steht für jenes «Moralspektakel», das der Philosoph Philipp Hübl in seinem gleichnamigen Buch untersucht. Unser digitales Zeitalter, so Hübl, befördere jenes Statusspiel, bei dem man moralisch umso besser dastehe, je mehr Empörung man über das Vergehen anderer auslöse. Kurzum: Die Journalisten betreiben in eigener Sache Imagepflege. Und wer nur die eigene Haltung vor sich herträgt, statt dem Andersdenkenden zuzuhören, der muss auch dessen Buch nicht gelesen haben.
Das Gottschalk-Bashing erinnert an den drei Jahre zurückliegenden Shitstorm gegen Elke Heidenreich, nachdem diese darauf bestanden hatte, dass ihre Frage nach der Herkunft eines Taxifahrers selbstverständlich von zwischenmenschlichem Interesse sei und nicht rassistisch. Gottschalk blieb im «Kölner Treff» erstaunlich freundlich und standfest gegen jeglichen Umerziehungsversuch. Er beharrte darauf: «Man kann mit 74 endlich sagen, was man denkt.» Da musste er sich dann den Vorwurf des Altersstarrsinns anhören.
Gottschalk und Heidenreich sind beide auch mit ihrem schlagfertigen Mundwerk gross geworden. Sie gehören zu einer Generation, die noch lernte, dass den Alten aufgrund ihrer Lebenserfahrung Respekt gebührt. Wohin aber entwickelt sich eine Gesellschaft, die einer grossen Gruppe, die älter ist und vermutlich oft konservativer, so leicht das Recht abspricht, eine andere Sichtweise auf die Dinge zu haben?
Wer dem jüngsten Einschüchterungsversuch zusieht, der hält es nicht für so abwegig, dass weniger robuste Gemüter in Anbetracht solcher medialen Angriffe zunehmend darauf verzichten, sich zu exponieren. Diese Entwicklung sollte mehr zu denken geben als ein imaginiertes Schaumbad mit Claudia Schiffer. NZZ
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