Stationen

Sonntag, 27. März 2016

Ein einziges Scheitern


In unserer Welt kommt der Begriff „Gnade“ kaum noch vor. Mir ist nur ein einziger Fall erinnerlich, in dem jemand im persönlichen Gespräch unironisch von „Gnade“ gesprochen hat. Es handelte sich um eine Rußlanddeutsche, die in den 1980er Jahren mit ihrer Familie in die Bundesrepublik übersiedelt war.
Ihr Sohn, der in der Sowjetunion längst ein Studium begonnen hatte, mußte hier noch einmal die Schulbank drücken. Also saß er in meiner Klasse, ein junger Mann mit der Gestalt eines westfälischen Bauern, nicht unfreundlich, aber eigenartig fremd unter den Jüngeren, einer, dem das Reden nicht lag.

Eines Tages kam die Mutter zum Sprechtag, um zu erklären, warum es dem Sohn so schwer fiel, sich auf die Forderungen moderner Pädagogik einzustellen. Nachdem sie geendet und ich Verständnis bekundet hatte, sagte sie: „Ich danke für Ihre Gnädigkeit.“ Das kam so überraschend, daß ich einen Moment brauchte, bis ich erwidern konnte, daß es nicht um „Gnädigkeit“ gehe, sondern darum, ihrem Sohn in der besonderen Lage, in der er war, zu helfen.
Aber sie beharrte auf dem Dank für die „Gnädigkeit“. Auch mein Hinweis, wie ungewöhnlich das Wort klinge, machte sie nicht irre. Aber sie ergänzte, es sei ihrer Familie nach der Deportation während der Stalinzeit nur ein einziges Buch in deutscher Sprache geblieben, eine zerlesene Bibel aus dem 19. Jahrhundert. Mit der habe sie selbst Deutsch gelernt und auch noch ihre Kinder.

Menschen, die sich ausgeliefert sehen, wissen, was Gnade ist. Das Gefälle, das zwischen dem Mächtigen und dem Ohnmächtigen besteht, ist so groß, daß vom Ohnmächtigen kein Anspruch auf Einhaltung von Regeln erhoben werden kann. In der westlichen Welt sind bei aller bleibenden Bedeutung von Rang- und Klassenunterschieden derartige Gefälle seit langem abgebaut.
Schon vor dem Ersten Weltkrieg beschränkte sich die Anrede als „gnädige Frau“ oder „gnädiger Herr“ wesentlich auf Lakaien oder die bäuerlichen Gegenden, in denen die großen Grundbesitzer tatsächlich noch das unumschränkte Sagen hatten. Aber selbst da war die neue Zeit mit unpersönlichen Institutionen und Rechten, die jedes Individuum gegenüber jedem Individuum hat, unaufhaltsam vorgedrungen.

Der Gnade blieb nur ein Reservat, das Talent des „begnadeten“ Pianisten oder das Charisma – eigentlich die „Gnadengabe“ – des berufenen Führers, und selbstverständlich die Sphäre des Rechts. Solange Autorität nicht als solche in Frage gestellt war und Strafen von außerordentlicher Härte verhängt wurden und nicht nur der Galgen oder das Fallbeil drohte, sondern auch Gefängnis oder Zuchthaus alles andere als Resozialisierungseinrichtungen waren, gab es zuletzt die Hoffnung auf Begnadigung.
Sei es, daß man die Haft erleichterte oder die Dauer verkürzte, die Hinrichtung erspart blieb oder wenigstens von einer unehrenhaften in eine ehrenhafte umgewandelt wurde. Nichts davon hatte mit dem saloppen Gerede zu tun, daß jeder eine zweite Chance verdiene. Alles hing mit der uralten Vorstellung zusammen, daß der, der die Macht hat, Gnade üben kann, wenn er darum gebeten wird. Die Wurzel des deutschen Wortes „Gnade“ bedeutet im Grunde nichts anderes als „Hilfe erbitten“.

Solches Bitten kann und muß, wenn es um Wichtiges geht, sogar zudringlich sein. Der Handel, den Abraham mit Gott schließen will, damit der Sodom verschont, hat etwas Zudringliches. Dasselbe gilt für Priamos, König von Troja, der die Knie des Achilles fest umfängt, damit der Held den geschändeten Leichnam Hektors herausgibt. Dasselbe gilt für die Proskynese, jenes Niederfallen des Untertanen vor dem Imperator und den Ruf „Kyrie eleison!“ – „Herr, erbarme dich!“
Daß die Formel in die Liturgie der Gottesdienste aufgenommen wurde, ist eine Erinnerung daran, wie es eigentlich mit dem Verhältnis des Gläubigen zu Christus aussieht: der ist der Herr, und das Wort ist mit dem ganzen Gewicht seiner ursprünglichen Bedeutung gemeint. Aber es geht dabei auch um das besondere christliche Verständnis der Gnade.

Christus selbst hatte in ungewöhnlicher Weise von der Gnade Gottes gesprochen, die den Menschen, trotz seines Abfalls, ohne eigenes Verdienst geschenkt wird. Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg geht es darum (und nicht etwa um gleichen Lohn für alle) und auch schon um das Unverständnis der Menschen, die diese Art der Zuwendung verstimmt, weil sie sich im allgemeinen wie im besonderen Fall der Beziehung zu Gott auf ihre Leistung berufen möchten.
Man will seinen Anspruch gegen Gott aufrechterhalten. Schon deshalb, weil man sicher ist, daß er denen fehlt, die im Weinberg des Herrn nicht die Last des Tages getragen haben. Solcher Gnadenlosigkeit hält Christus das „Schaust du so scheel, weil ich so gütig bin?“ entgegen. Eine Frage, die sich jeder selbst beantworten mag.

An der Vorstellung von dem „Allein aus Gnade“ festzuhalten, ist in der Geschichte des Christentums schwergefallen. Paulus hat es mit der scharfen Entgegensetzung des jüdischen „Gesetzes“ als Heilsweg und des „Evangeliums“, der frohen Botschaft vom gnädigen Gott, versucht.
Luther folgte ihm mit seiner Feststellung, daß der Mensch nur durch seinen Glauben, nicht durch die guten Werke vor Gott gerechtfertigt dastehe. Ein Argument, dem von katholischer Seite massiv widersprochen wurde, weil man schon aus erzieherischen Gründen dem Menschen eine Mitwirkung am eigenen Heil zuweisen und der Kirche ihre Kontrollmöglichkeiten erhalten wollte.
Es ist deshalb so eindrucksvoll, daß einer der bedeutendsten katholischen Denker neuerer Zeit, Georges Bernanos, in seinem Roman „Tagebuch eines Landpfarrers“ als zentrale Figur einen Priester wählt, dessen Leben ein einziges Scheitern ist. Er vermag nichts aus eigener Kraft. Schließlich kommt er auf den Tod erkrankt zu einem Freund.
Es wird ein Geistlicher gerufen, der die Beichte abnehmen und die Sakramente spenden soll, wie es die Lehre der Kirche vorschreibt. Doch es ist schon zu spät. Der Sterbende bleibt aber ganz gefaßt, hält nur seinen Rosenkranz in Händen, beruhigt den Freund und sagt als letztes: „Alles ist Gnade.“  Karlheinz Weißmann

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