Nicolaus Fest, der Sohn von Joachim Fest, ist einer der wenigen klugen Köpfe, die sich noch unter den deutschen Journalisten finden lassen. Er war in der Chefredaktion der Bild-Zeitung
jahrelang für Verfahren beim Presserat zuständig, erhielt 2014 selbst
eine Rüge für ein islamkritisches Meinungsstück. Die Verteidigung seiner
Sache vor dem Rat, eine Selbstverständlichkeit jedes fairen Verfahrens,
wurde ihm trotz mehrfacher Bitte ausdrücklich verweigert. Und dieses Land - bzw. seine Publizistenkaste - wagt es, über Italien herzuziehen, wo die Beeinträchtigung der Meinungsvielfalt nie auch nur einen Bruchteil dessen erreichte, was in Deutschland seit Jahrzehnten habituell ist (und nur alle 50 Jahre von einem Pol zum anderen schwappt).
Im
Rückblick hatten die Verharmloser recht: Diebstähle und
Sexualstraftaten kennen keine Hautfarbe oder Religion, und die
Silvester-Ereignisse von Köln sind nicht anders zu bewerten als
vergleichbare Delikte beim Karneval oder Oktoberfest. Das zumindest ist
die Quintessenz der jüngsten Entscheidung des Deutschen Presserats.
Auch künftig darf die Täterherkunft nur genannt werden, wenn zum
Verständnis der Tat erforderlich. Bei „Ehrenmorden“ ist das der Fall,
bei sonstigen Delikten fast nie.
Mag die Polizei auch Sonderkommissionen zu Libanesen- oder
Kurdenclans führen, mag sie Nafri-Einheiten (Nordafrikanische
Intensivtäter) und solche zu rumänischen Einbruchsbanden bilden – für
den Deutschen Presserat sind das unzulässige Konkretisierungen. Für ihn
muß der Täter so gesichtslos sein wie ein Mann mit Maske. Daß damit die
Glaubwürdigkeit der Presse vor die Hunde geht, interessiert den
Presserat nicht.
Insofern hat die jüngste Entscheidung des Rats nur ein Gutes: Sie
richtet die Aufmerksamkeit auf ein Gremium, das üblicherweise über jeder
Debatte steht. Denn es gehört zu den Sonderlichkeiten des deutschen
Journalismus, daß ausgerechnet die Institution, die wie kaum eine andere
das negative Bild der Presse prägt, selbst nie Gegenstand der
Erörterung ist.
Das hat Gründe. Die Sitzungen des Presserats sind sowenig öffentlich
wie die Stellungnahmen der betroffenen Blätter. So ist Kontrolle
unmöglich. Zudem sind viele Publikationen nur selten Ziel von
Beschwerden, haben daher keinen Überblick über das Gesamtgebaren des
Rats. Im Kern hat den nur eine einzige Zeitung – die Bild. Mit keiner Zeitung befaßt sich der Rat häufiger, keine zieht mehr Beschwerden auf sich.
Wenn behauptet wird, niemand kenne Bild so gut wie der Presserat, gilt auch umgekehrt: Niemand kennt ihn und seine Arbeit so gut wie Bild. Und genau diese Arbeit gibt seit Jahren Anlaß zur Kritik. Wer die Verfahren gegen Bild durchgeht, trifft auf eklatante Begründungsmängel, freies Jonglieren mit der Beschwerdeordnung und schwerste Verfahrensfehler.
Denn die „Diskriminierungsrichtlinie“, die bei Straftaten die
umfassende Aufklärung über den Täter verhindert, ist nur eine Facette
der Bevormundungsexzesse. Noch schwerer wiegt die Auslegung zum
Persönlichkeitsschutz von Ziffer 8 Pressekodex. Zwei Beispiele:
Als Bild über den Selbstmord eines Mädchens berichtete, das von
einer Hamburger Einrichtung zum Schutz suizidgefährdeter Jugendlicher
trotz akuter Selbsttötungsabsicht entlassen wurde, kam eine Rüge vom
Presserat. Grund: Über Selbstmorde Jugendlicher dürfe nicht berichtet
werden.
Daß die empörten Eltern selbst um den Bericht gebeten hatten, daß der
Suizid in der Öffentlichkeit erfolgte und die Hamburger S-Bahn über
Stunden blockierte, daß das Versagen solcher Institutionen immer nur an
Suiziden festgemacht werden kann, wischte der Presserat beiseite. Führt
man die Ansicht des Presserats konsequent weiter, ist auch die
Berichterstattung über junge muslimische Selbstmordattentäter unzulässig
– ein aberwitziges Ergebnis.
Ebenso mißbilligte der Rat im März 2008 einen Bild-Artikel
über eine Mutter, deren Baby bei einer Gruppensex-Party gezeugt wurde.
Daß die Zwanzigjährige den Bericht selbst initiiert hatte, weil sie
damit den Vater ihres Kindes zu ermitteln hoffte, spielte für den
Presserat keine Rolle. Bild hätte, so der Kern der Begründung,
die Frau „auch vor sich selbst schützen müssen“. Nimmt man diesen
Selbstschutz-Gedanken ernst, wären Reportagen über Mitglieder
neonazistischer Gruppierungen so unzulässig wie über die immer neuen
Torheiten Claudia Roths.
Und so immer weiter. Keine der drei Rügen, die Bild für die
Berichterstattung zum Amoklauf in Winnenden kassierte, hält der näheren
Betrachtung stand.
Doch zeigte das Verfahren immerhin, wie schwankend
die presseethischen Standards sind: Während das Foto des getöteten
Autoverkäufers auf dem Titel der Bild am Sonntag für zulässig erachtet wurde, war die Veröffentlichung des identischen Fotos im Innenteil von Bild,
also weniger prominent, Anlaß für eine Rüge. Den einen Fall entschied
die erste, den anderen die zweite Spruchkammer. Statt klare Vorgaben für
die Pressearbeit zu liefern, verwirrte der Rat mit einander
widersprechenden Entscheidungen.
Winnenden war auch in anderer Hinsicht lehrreich. Ein danach vom Rat
veröffentlichter „Leitfaden zur Berichterstattung über Amokläufe“
entpuppte sich als Frontalangriff auf die Berichterstattungsfreiheit. So
sollten künftig „Opferfotos nicht als reine Symbolfotos verwendet“ und
„einzelne Opfer nicht ohne Zustimmung der Angehörigen herausgehoben“
werden.
Das klingt harmlos, ist aber das Gegenteil. Denn die Presse lebt von
„Symbolfotos“. Sie bestimmen das öffentliche Bewußtsein, sie prägen die
gesellschaftliche Debatte: Das fliehende, von Napalm verbrannte Mädchen
in Vietnam; die abgemagerten Gefangenen hinter Stacheldraht im
Bosnienkrieg; der ertrunkene Aylan am Strand von Bodrum im letzten
September. Lauter Symbolfotos.
Und auch lauter Personen, die zufällig aus der Masse der Opfer herausgehoben wurden. Würde man den Vorgaben des Presserats folgen und – unabhängig von der zeitgeschichtlichen Bedeutung eines
Fotos – ausnahmslos die Genehmigung der Angehörigen einholen müssen,
wäre dies das Ende jeder Bildberichterstattung. Bis die Angehörigen
ermittelt sind, können Tage vergehen, von den Problemen in
Kriegsgebieten ganz zu schweigen. Während das Fernsehen und ausländische
Titel, auf die sich die Zuständigkeit des Presserats nicht erstreckt,
ohne Einschränkungen berichten können, wäre die deutsche Presse
grundlegend behindert.
Doch nicht nur der Schutz der Opfer liegt dem Rat am Herzen – auch
der der Täter. „Wenn die Redaktion Foto oder Namen eines Amokläufers
veröffentlichen will“, so der Leitfaden, „muß sie sorgfältig zwischen
öffentlichem Interesse und den Persönlichkeitsrechten des Täters
abwägen.“ Offensichtlich sieht der Presserat selbst bei Amokläufen das
Berichterstattungsinteresse nicht in jedem Fall gegeben. Vielmehr müsse
das „Ausmaß der Tat eine nicht anonymisierte Darstellung rechtfertigen“.
Was das heißen sollte, bleibt ein Rätsel: Sollen fünf Tote die
Nennung des Täters erlauben, nur zwei aber nicht? Erst nach massiven
Protesten wurde der Leitfaden zurückgezogen. Doch machte er die
Ahnungslosigkeit des Rates so deutlich wie seine immer neue Lust zur
Einschränkung von Berichterstattung.
Was hier als Besorgnis um Persönlichkeitsschutz daherkommt, ist zudem
reine Anmaßung. Seit Jahren trägt der Verweis auf verletzte
Persönlichkeitsrechte die Entscheidungen des Presserats – erstaunlich
für ein Gremium, dessen Mitglieder zumeist keine juristische Ausbildung
haben. Im Ergebnis rühmt sich der Presserat eines rechtlichen
Beurteilungsvermögens, das er gar nicht hat – und fabuliert öffentlich
von „Persönlichkeitsrechtsverletzungen“, die weder vorliegen noch von
ihm beurteilt werden können. Auch so bringt man die Presse in Verruf.
Daß ausgerechnet eine Ausbildungsbroschüre derart presseschädigenden
Unsinn enthielt, daß sie eingestampft werden mußte, paßt ins Bild.
Diese Fehler und Dummheiten sind nur eine kleine Auswahl – es gab
Dutzende, darunter schwerste Verstöße gegen die Verfahrensordnung. Sie
alle sind nicht nur Ausdruck fehlender Verfahrenstransparenz und von
Defiziten der Geschäftsführung, sondern auch struktureller Probleme.
So führt die paritätische Besetzung der Spruchkammern mit
Gewerkschaftern und Verlagsvertretern in der Praxis zu klaren Mehrheiten
der linksdrehenden Gewerkschaftsseite, da manche Verlagsvertreter
allenfalls dann erscheinen, wenn Publikationen des eigenen Hauses
betroffen sind. Entsprechend fallen die Ergebnisse der Spruchkammern
aus.
Richtig wäre es daher, einen neuen Presserat zu gründen. Denkbar wäre
die Besetzung mit früheren Chefredakteuren und Richtern von
Pressekammern, also verlagsseitig wie gewerkschaftlich ungebundenen
Fachleuten. Das würde auch die oft extrem unterschiedliche Spruchpraxis
gegenüber einzelnen Verlagen beenden.
Vor wenigen Jahren war Springer fest entschlossen, den Deutschen
Presserat zu verlassen; finanziell wäre das sein Ende gewesen. Nur die
drohende Kontrolle des Internets durch öffentliche Behörden hielt den
Verlag im letzten Moment zurück. Lieber wollte man die ethische
Netzaufsicht vom Presserat wahrgenommen wissen. Wer die zwischenzeitlich
durch Bundesjustizminister Heiko Maas installierte Gängelung der
Sozialen Medien betrachtet, kann kaum behaupten, daß diese Strategie
erfolgreich war. Nicht nur das gibt guten Grund, den ursprünglichen Plan
wieder aufzugreifen. Nicolaus Fest
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