Stationen

Dienstag, 29. März 2016

Merkels Ausputzer

Vor dem Hintergrund der aktuellen Völkerwanderung und der Agonie Europas ist der Politikwissenschaftler Herfried Münker gefragter denn je. Erst im Frühjahr erschien sein neuestes Buch, ein Großessay über Deutschland als „Macht in der Mitte“ (JF 25/15). In den großen Zeitungen, in den Radio- und Fernsehsendern ist er als Autor und Interviewpartner allgegenwärtig. Das Besondere an dem 64jährigen, den die Zeit einen „Ein-Mann-Think-Thank“ nannte und der das Ohr der Kanzlerin besitzen soll, ist die Fähigkeit, das internationale Geschehen nach geo- und machtpolitischen Gesichtspunkten zu ordnen und von Deutschland, von der Mitte Europas aus zu denken.

Damit ist er im akademischen Betrieb der Bundesrepublik eine seltene Ausnahme. Bis jetzt war er der erste Anwärter auf die singuläre Position, die in Deutschland seit dem Tod des politischen Meisterdenkers Panajotis Kondylis 1998 vakant ist.

Der desaströse Zustand der deutschen Politikwissenschaft, von dem Münkler sich abhebt, ist kein Zufall. Nach dem Zweiten Weltkrieg von den Amerikanern eingeführt, war sie in der Zeit der Teilung selten einmal fähig gewesen, von dem für Deutschland angemessenen Standpunkt „eines total debellierten, nationalen Einzelstaates“ auszugehen und Vorstellungen zu entwickeln, um den politischen Subjektcharakter wiederzuerringen. Stattdessen bezog sie, wie der Politikwissenschaftler Hans-Joachim Arndt – auch er eine Ausnahmeerscheinung – 1977 konstatierte, „den Standpunkt eines anderen Subjekts, etwa der USA und der Sowjetunion oder Europas oder einer ‘Weltgemeinschaft’.“ Sie war die kümmerliche „Legitimationswissenschaft machtpolitischer Nachkriegsentscheidungen“ beziehungsweise eine „Kapitulationswissenschaft“ (Stefan Scheil).

Das ist sie auch nach 1990 geblieben und kann deshalb keinen analytischen Beitrag zur Erkenntnis der Lage leisten, sondern lediglich Gefälligkeitsgutachten erstellen. Bis eben auf Herfried Münkler!

Doch der hat mit seinen jüngsten Äußerungen einen Teil seines Rufs bereits verspielt. Statt reflexiven Abstand zur Tagespolitik zu halten, versteht er sich als Propagandist und Ausputzer der Kanzlerin. So behauptete er, Merkels Entscheidung, das Dublin-Abkommen auszusetzen und die Flüchtlinge ohne weitere Formalitäten einreisen zu lassen, hätte neben einem „Ansehensgewinn Deutschlands (...) noch einen weiteren Einflußgewinn der Bundesregierung in Europa zur Folge (...). Das wirtschaftlich und fiskalisch ohnehin übermächtige Deutschland ist damit auch zur europäischen Vormacht in humanitären Fragen geworden, und das heißt, daß sie zum einflußreichsten Interpreten der europäischen Werte geworden ist.“

Man kann sich die Lage auch schönreden. Lob erhielt Merkel allein von der US-Regierung. Sogar die New York Times bezweifelte, daß die Bundesregierung damit den Interessen des eigenen Volkes gerecht würde.

Münkler gibt solchen Zweifeln keinen Raum. Er hat sich sogar Merkels Formel von der „Alternativlosigkeit“ und ihr unbegründetes „Wir schaffen das!“ zu eigen gemacht. Es komme nun darauf an, die Ankömmlinge „zu Deutschen“ zu machen und zwar „im Sinne einer gewissen Arbeitsdisziplin, gewisser Arbeitsfähigkeiten, der Durchsetzung von Toleranz, der Entpolitisierung des Religiösen“.

Mit solcher vorbehaltlosen Affirmation des Merkel-Kurses kommt er objektiv den Interessen der USA entgegen, die mit ihrer Interventionspolitik den Nahen und Mittleren Osten destabilisiert und die Auswanderungswelle mit ausgelöst haben. Der Abfluß des jungen, männlichen Unruhepotentials in das deutsche und europäische Überlaufbecken trägt aus Sicht Washingtons zu einer Beruhigung bei und hat den angenehmen Nebeneffekt, Europa Schwierigkeiten zu bereiten und als Konkurrenten zu schwächen.

Die Ausblendung solcher Zusammenhänge ist erstaunlich bei einem Mann, der 2005 in dem Buch „Imperien – Die Logik der Weltherrschaft“ die Europäer ermahnte, „darauf (zu) achten, daß sie nicht für die Aktionen der Führungsmacht Ressourcen bereitstellen und mit der Nachsorge für deren Kriege betraut werden, aber keinen Einfluß mehr auf grundsätzliche politisch-militärische Entscheidungen haben“.

Als Münkler das niederschrieb, war noch gut in Erinnerung, daß Angela Merkel kurz vor dem Irak-Krieg 2003 – damals noch als Oppositionsführerin – auf ihrer Reise in die USA in der Washington Post einen Namensartikel unter der Überschrift „Schröder spricht nicht für alle Deutschen“ veröffentlicht hatte, mit dem sie Kanzler Schröder, der eine Kriegsbeteiligung Deutschlands ablehnte, in den Rücken fiel.

Münklers Perspektivenwechsel deutete sich im Buch „Macht in der Mitte“ bereits an. Selbstverständlich gibt es fulminante Passagen und originelle Gedankengänge darin. Die Gründung einer europäischen Nation sei gescheitert, und durch die Erweiterung hätten die Zentrifugalkräfte in der EU sich bis zur Zerreißprobe gesteigert. Der Brüsseler Apparat sei ungeeignet, die Europa-Politik zu gestalten, und die deutsch-französische Achse wegen der Schwäche und Unberechenbarkeit Frankreichs nicht mehr funktionsfähig. Also müsse Deutschland, um den Staatenverbund zusammenzuhalten, die Führung übernehmen und als ehrlicher Mittler wirtschaftliche Kraft investieren, um seinen politischen Einfluß zu vergrößern.

Entwertet werden solche Passagen durch vorsätzliche Unschärfen, Auslassungen und Verdrehungen. So behauptet Münkler einen „reduzierten Führungsanspruch der USA“. Sie hätten in der Ukraine-Frage auf eine Führungsposition verzichtet, die damit Deutschland zugefallen sei. Nun ist aber bekannt und notorisch, daß die USA seit Jahren der eigentliche Beweger in der Ukraine-Frage sind. Unterdessen tragen die Europäer die Lasten und Risiken ihrer Politik. Die Bundesregierung betätigt sich höchstens, wenn der Konflikt zu eskalieren droht, als Feuerwehr.

Im Buch „Imperien“ hatte Münkler immerhin Zbigniew Brzezinskis programmatische Schrift „Die einzige Weltmacht“ aufgelistet, in der der amerikanische Chefstratege unverblümt das Interesse der USA dargelegt hatte, eine von den USA unkontrollierte Kooperation zwischen Rußland und Europa zu verhindern und Moskau durch die Abtrennung der Ukraine zu schwächen. In Münklers neuem Buch fehlt jeder Hinweis darauf.

Anbiedernd, ja peinlich wirkt es, wenn er der „Koalition der Mitte“ eine lange Lebensdauer wünscht, weil ihre Politiker „alle Voraussetzungen (mitbrächten), um den europapolitischen Herausforderungen einer Macht in der Mitte gewachsen zu sein“. Merkels Einladung an die Mühseligen und Beladenen dieser Welt, die sogenannte Euro-Rettung und zuvor die Einführung der Gemeinschaftswährung bezeugen das Gegenteil!

Die politische Klasse der Bundesrepublik ist unfähig für Führungsaufgaben. Sie hat eine der stärksten Währungen der Welt preisgegeben, ohne sich das durch politischen Einfluß vergüten zu lassen und entsprechende Sicherungen einzubauen.
Völkerwanderung droht Europa zu erdrosseln.

Münklers interessante These, gerade die moralische Verwundbarkeit Deutschlands wegen der NS-Vergangenheit mache es den Nachbarn leichter, sich mit einer deutschen Führung abzufinden, könnte überzeugen, wenn die politisch-mediale Klasse fähig wäre, den moralischen Erpressungsversuchen aus dem Ausland mit souveräner Distanz zu begegnen. Stattdessen werden sie aber zum innenpolitischen Argument und zum Auslöser von Hysterie. Unter diesen Umständen schrumpft die „Populismusresistenz“, die Münkler den Deutschen attestiert, zur Unfähigkeit, Interessen zu formulieren und zu vertreten, sowohl deutsche als auch europäische.

Seine Einlassung, Migration habe es in der Weltgeschichte immer gegeben, sie sei der Normalfall, ist banal. Es handelt sich heute aber nicht um eine normale Wanderungsdynamik, sondern um eine regelrechte Völkerwanderung, welche die europäischen Nationalstaaten zu erdrosseln droht und den geistig-kulturellen, religiösen, politischen, sozialen und ethnischen Charakter des Kontinents gewiß nicht zum Besseren verändert.

Eine Diskussion darüber, von welchem Standpunkt aus Münkler neuerdings argumentiert: von einem amerikanischen, dem einer imaginären Weltgemeinschaft oder aus der persönlichen Machtperspektive der Kanzlerin, ist da müßig. Seine neueren Beiträge lesen sich wie die nachgeholte Kapitulation eines ehemals freien Denkers. Thomas Hinz

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