Vor dem Hintergrund der aktuellen
Völkerwanderung und der Agonie Europas ist der Politikwissenschaftler
Herfried Münker gefragter denn je. Erst im Frühjahr erschien sein
neuestes Buch, ein Großessay über Deutschland als „Macht in der Mitte“
(JF 25/15). In den großen Zeitungen, in den Radio- und Fernsehsendern
ist er als Autor und Interviewpartner allgegenwärtig. Das Besondere an
dem 64jährigen, den die Zeit einen „Ein-Mann-Think-Thank“ nannte und der
das Ohr der Kanzlerin besitzen soll, ist die Fähigkeit, das
internationale Geschehen nach geo- und machtpolitischen Gesichtspunkten
zu ordnen und von Deutschland, von der Mitte Europas aus zu denken.
Damit ist er im akademischen Betrieb der Bundesrepublik eine seltene
Ausnahme. Bis jetzt war er der erste Anwärter auf die singuläre
Position, die in Deutschland seit dem Tod des politischen Meisterdenkers
Panajotis Kondylis 1998 vakant ist.
Der desaströse Zustand
der deutschen Politikwissenschaft, von dem Münkler sich abhebt, ist kein
Zufall. Nach dem Zweiten Weltkrieg von den Amerikanern eingeführt, war
sie in der Zeit der Teilung selten einmal fähig gewesen, von dem für
Deutschland angemessenen Standpunkt „eines total debellierten,
nationalen Einzelstaates“ auszugehen und Vorstellungen zu entwickeln, um
den politischen Subjektcharakter wiederzuerringen. Stattdessen bezog
sie, wie der Politikwissenschaftler Hans-Joachim Arndt – auch er eine
Ausnahmeerscheinung – 1977 konstatierte, „den Standpunkt eines anderen
Subjekts, etwa der USA und der Sowjetunion oder Europas oder einer
‘Weltgemeinschaft’.“ Sie war die kümmerliche „Legitimationswissenschaft
machtpolitischer Nachkriegsentscheidungen“ beziehungsweise eine
„Kapitulationswissenschaft“ (Stefan Scheil).
Das ist sie auch nach 1990
geblieben und kann deshalb keinen analytischen Beitrag zur Erkenntnis
der Lage leisten, sondern lediglich Gefälligkeitsgutachten erstellen.
Bis eben auf Herfried Münkler!
Doch der hat mit seinen jüngsten
Äußerungen einen Teil seines Rufs bereits verspielt. Statt reflexiven
Abstand zur Tagespolitik zu halten, versteht er sich als Propagandist
und Ausputzer der Kanzlerin. So behauptete er, Merkels Entscheidung, das
Dublin-Abkommen auszusetzen und die Flüchtlinge ohne weitere
Formalitäten einreisen zu lassen, hätte neben einem „Ansehensgewinn
Deutschlands (...) noch einen weiteren Einflußgewinn der Bundesregierung
in Europa zur Folge (...). Das wirtschaftlich und fiskalisch ohnehin
übermächtige Deutschland ist damit auch zur europäischen Vormacht in
humanitären Fragen geworden, und das heißt, daß sie zum einflußreichsten
Interpreten der europäischen Werte geworden ist.“
Man kann sich
die Lage auch schönreden. Lob erhielt Merkel allein von der
US-Regierung. Sogar die New York Times bezweifelte, daß die
Bundesregierung damit den Interessen des eigenen Volkes gerecht würde.
Münkler
gibt solchen Zweifeln keinen Raum. Er hat sich sogar Merkels Formel von
der „Alternativlosigkeit“ und ihr unbegründetes „Wir schaffen das!“ zu
eigen gemacht. Es komme nun darauf an, die Ankömmlinge „zu Deutschen“ zu
machen und zwar „im Sinne einer gewissen Arbeitsdisziplin, gewisser
Arbeitsfähigkeiten, der Durchsetzung von Toleranz, der Entpolitisierung
des Religiösen“.
Mit
solcher vorbehaltlosen Affirmation des Merkel-Kurses kommt er objektiv
den Interessen der USA entgegen, die mit ihrer Interventionspolitik den
Nahen und Mittleren Osten destabilisiert und die Auswanderungswelle mit
ausgelöst haben. Der Abfluß des jungen, männlichen Unruhepotentials in
das deutsche und europäische Überlaufbecken trägt aus Sicht Washingtons
zu einer Beruhigung bei und hat den angenehmen Nebeneffekt, Europa
Schwierigkeiten zu bereiten und als Konkurrenten zu schwächen.
Die
Ausblendung solcher Zusammenhänge ist erstaunlich bei einem Mann, der
2005 in dem Buch „Imperien – Die Logik der Weltherrschaft“ die Europäer
ermahnte, „darauf (zu) achten, daß sie nicht für die Aktionen der
Führungsmacht Ressourcen bereitstellen und mit der Nachsorge für deren
Kriege betraut werden, aber keinen Einfluß mehr auf grundsätzliche
politisch-militärische Entscheidungen haben“.
Als Münkler das
niederschrieb, war noch gut in Erinnerung, daß Angela Merkel kurz vor
dem Irak-Krieg 2003 – damals noch als Oppositionsführerin – auf ihrer
Reise in die USA in der Washington Post einen Namensartikel unter der
Überschrift „Schröder spricht nicht für alle Deutschen“ veröffentlicht
hatte, mit dem sie Kanzler Schröder, der eine Kriegsbeteiligung
Deutschlands ablehnte, in den Rücken fiel.
Münklers
Perspektivenwechsel deutete sich im Buch „Macht in der Mitte“ bereits
an. Selbstverständlich gibt es fulminante Passagen und originelle
Gedankengänge darin. Die Gründung einer europäischen Nation sei
gescheitert, und durch die Erweiterung hätten die Zentrifugalkräfte in
der EU sich bis zur Zerreißprobe gesteigert. Der Brüsseler Apparat sei
ungeeignet, die Europa-Politik zu gestalten, und die
deutsch-französische Achse wegen der Schwäche und Unberechenbarkeit
Frankreichs nicht mehr funktionsfähig. Also müsse Deutschland, um den
Staatenverbund zusammenzuhalten, die Führung übernehmen und als
ehrlicher Mittler wirtschaftliche Kraft investieren, um seinen
politischen Einfluß zu vergrößern.
Entwertet werden solche
Passagen durch vorsätzliche Unschärfen, Auslassungen und Verdrehungen.
So behauptet Münkler einen „reduzierten Führungsanspruch der USA“. Sie
hätten in der Ukraine-Frage auf eine Führungsposition verzichtet, die
damit Deutschland zugefallen sei. Nun ist aber bekannt und notorisch,
daß die USA seit Jahren der eigentliche Beweger in der Ukraine-Frage
sind. Unterdessen tragen die Europäer die Lasten und Risiken ihrer
Politik. Die Bundesregierung betätigt sich höchstens, wenn der Konflikt
zu eskalieren droht, als Feuerwehr.
Im Buch „Imperien“ hatte
Münkler immerhin Zbigniew Brzezinskis programmatische Schrift „Die
einzige Weltmacht“ aufgelistet, in der der amerikanische Chefstratege
unverblümt das Interesse der USA dargelegt hatte, eine von den USA
unkontrollierte Kooperation zwischen Rußland und Europa zu verhindern
und Moskau durch die Abtrennung der Ukraine zu schwächen. In Münklers
neuem Buch fehlt jeder Hinweis darauf.
Anbiedernd, ja peinlich
wirkt es, wenn er der „Koalition der Mitte“ eine lange Lebensdauer
wünscht, weil ihre Politiker „alle Voraussetzungen (mitbrächten), um den
europapolitischen Herausforderungen einer Macht in der Mitte gewachsen
zu sein“. Merkels Einladung an die Mühseligen und Beladenen dieser Welt,
die sogenannte Euro-Rettung und zuvor die Einführung der
Gemeinschaftswährung bezeugen das Gegenteil!
Die politische Klasse der
Bundesrepublik ist unfähig für Führungsaufgaben. Sie hat eine der
stärksten Währungen der Welt preisgegeben, ohne sich das durch
politischen Einfluß vergüten zu lassen und entsprechende Sicherungen
einzubauen.
Völkerwanderung droht Europa zu erdrosseln.
Münklers
interessante These, gerade die moralische Verwundbarkeit Deutschlands
wegen der NS-Vergangenheit mache es den Nachbarn leichter, sich mit
einer deutschen Führung abzufinden, könnte überzeugen, wenn die
politisch-mediale Klasse fähig wäre, den moralischen
Erpressungsversuchen aus dem Ausland mit souveräner Distanz zu begegnen.
Stattdessen werden sie aber zum innenpolitischen Argument und zum
Auslöser von Hysterie. Unter diesen Umständen schrumpft die
„Populismusresistenz“, die Münkler den Deutschen attestiert, zur
Unfähigkeit, Interessen zu formulieren und zu vertreten, sowohl deutsche
als auch europäische.
Seine Einlassung, Migration habe es in der
Weltgeschichte immer gegeben, sie sei der Normalfall, ist banal. Es
handelt sich heute aber nicht um eine normale Wanderungsdynamik, sondern
um eine regelrechte Völkerwanderung, welche die europäischen
Nationalstaaten zu erdrosseln droht und den geistig-kulturellen,
religiösen, politischen, sozialen und ethnischen Charakter des
Kontinents gewiß nicht zum Besseren verändert.
Eine Diskussion darüber,
von welchem Standpunkt aus Münkler neuerdings argumentiert: von einem
amerikanischen, dem einer imaginären Weltgemeinschaft oder aus der
persönlichen Machtperspektive der Kanzlerin, ist da müßig. Seine neueren
Beiträge lesen sich wie die nachgeholte Kapitulation eines ehemals
freien Denkers. Thomas Hinz
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