Seit mehreren Jahren nehme ich – teils entsetzt, teils zornig – eine Art Apoptose, eine Selbstauflösung einer ganzen Berufssparte in Deutschland wahr: der Journalistenzunft.
Nicht in physischer Hinsicht, denn an Präsenz, die – einem hypomanischen Zustand gleich – kaum fähig zur Selbstreflexion oder gar -kritik, erhaben und belehrend daherkommt, fehlt es wahrlich nicht. Sloterdijks Analyse bestätigend, demonstrieren die Medienschaffenden täglich aufs Neue die von ihm attestierte „zügellose Parteinahme“. Diese Parteinahme, diese frei gewählte Verdunkelung weiter Teile des eigenen Gesichtsfeldes, erfolgt mitnichten aus Angst vor den Repressalien dunkler Regierungsmächte.
Nein, es ist die Gesinnung, die Teile der Wirklichkeit ins Dunkel hüllt. Es ist diese vermeintlich edle und moralisch hochstehende Haltung, in der man sich mit den politischen Eliten verbunden weiß. Die Preisgabe der Distanz, ein Sündenfall journalistischen Wirkens, verliert – als moralische Verpflichtung verklärt – jeglichen Schrecken.
Dieser Schrecken wird stattdessen auf das Wirken all jener projiziert, die der eigenen Wirklichkeitsdeutung zu widersprechen wagen. Diskreditierung statt Auseinandersetzung, Verzerrung durch Selektion statt tiefgehender ergebnisoffener Analyse, persönliche Wertung statt Ringen um Objektivität, Erziehung statt Informationsvermittlung.
Das Informations-„System“ bedarf keiner lenkenden, die Gleichschaltung anstrebenden Instanz. Entscheidend für die Richtung, in das sich ein System bewegt, sind die gesetzten Parameter. Die Preisgabe journalistischer Tugenden erfolgt somit nicht durch bewusste Lüge (was eine solche natürlich nicht ausschließt), sondern subtiler durch die kollektive Setzung der immer gleichen und nicht zu hinterfragenden Parameter. Ob die „Tatsache“, dass 40 µg/m³ NO2 gesundheitsschädlich seien, die „Feststellung“, dass Grenzen sich prinzipiell nicht schützen ließen oder die „Verkündung“, dass der Islam zu Deutschland gehöre; Prämissen werden gesetzt, Fixpunkte des Denkens festgelegt.
Blick zurück auf 47 Jahre Deutschlanderfahrung
Doch natürlich sehe ich auch die rühmlichen Ausnahmen: die wenigen um Objektivität Bemühten innerhalb der sogenannten Mainstream-Presse. Ich selbst habe nichts Neues zu berichten. Nichts, das kluge und des Schreibens mächtigere Menschen nicht schon längst formuliert hätten.Ein Aspekt mag diese nun folgenden Zeilen vielleicht dennoch rechtfertigen, weil er den Beschreibungen eine, wenn auch wenig spektakuläre, so doch individuelle Note verleiht: die einfache Tatsache nämlich, dass ich dabei war. In den 1970er Jahren als Gastarbeiterkind in diesem Lande groß geworden, durchlief ich viele Stationen, über die sich heute Experten und unverdient in den Expertenstand Erhobene auslassen.
Und je mehr ich über diese Zeit und damit über dieses Land zu hören bekomme, desto schriller erklingen die Dissonanzen in meinem Kopf, der die dargebotenen Narrative immer weniger mit den eigenen Erinnerungen in Einklang zu bringen vermag. So wandert mein Blick zurück auf 47 Jahre Deutschlanderfahrung. Die Analyse des kritischen Betrachters wird bewusst um die subjektiven Erfahrungen und Bewertungen eines „Schon-etwas-länger-hier-Lebenden“ ergänzt.
Geboren wurde ich Mitte der 1960er Jahre an der schönen dalmatinischen Küste in einem Land, das es nicht mehr gibt. 1971 zogen meine Eltern mit mir – wenn auch ohne mein Einverständnis – nach Deutschland. Wie so viele waren auch sie davon überzeugt, dass sie bald wieder nach Hause zurückkehren könnten. Wie so viele, irrten sie sich.
Es waren die 70er und 80er Jahre. Auf politischer Ebene hofften viele, das Gros der Gastarbeiter würde früher oder später den Weg in Richtung Heimat antreten. Ein Einwanderungsland wollte man nicht wirklich sein. Insbesondere diejenigen, die heute – in der Regierungsverantwortung stehend – die Tore für nahezu Jedermann zu öffnen bereit sind, bekämpften jahrzehntelang alle Bestrebungen, ein modernes Einwanderungsgesetz zu etablieren. Staatliches Bemühen und eine Gesetzesnovelle nach der anderen wollten sich einfach zu keiner kohärenten Handlungslinie fügen. Bis heute nicht.
An vielen Stellen überließ man es dann auch den ausländischen Communities selbst, sich zu organisieren. Für die meisten von ihnen stellte dies auch kein unüberwindliches Problem dar. Denn zum einen beförderte die Tatsache, einziges Gastarbeiter-Kind in einer Schulklasse zu sein, sowohl die Kontaktaufnahme und somit natürlich auch den Spracherwerb, zum anderen erlaubte die eigene kulturelle Prägung, viele Andockstellen zum Werte- und Normengefüge der Mehrheitsgesellschaft auszumachen, ohne eigene Identitätsimplosionen zu riskieren.
Sehr wohl korrekt und sehr hilfsbereit
Die Vorstellung, Integration sei in erster Linie eine von der aufnehmenden Gesellschaft zu erbringende Leistung, herrschte damals noch nicht vor. Es bedurfte auf Seiten der Migranten sehr wohl des Wunsches und Bestrebens, Teil der aufnehmenden Gemeinschaft werden zu wollen, was natürlich beinhaltete, Sprache und elementare Normen des Lebensvollzugs anzuerkennen und teilen zu wollen.Dass eine erfolgreiche Integration ohne Assimilation ablaufen könnte, stellt eine von vielen Fehleinschätzungen des aktuellen Zeitgeistes dar. Dass Assimilation wiederum nicht mit Selbstaufgabe gleichzusetzen ist, beweisen Millionen hier wirklich heimisch gewordener Menschen jeglicher Couleur, die das Eingehen in diese Gesellschaft nicht als Identitätsbedrohung, sondern als Bereicherung verstehen. Denn weit entfernt von irgend einem politischen Kalkül zeigte sich der gemeine Deutsche meiner Kindheit – wenn auch manchmal ohne überbordende Herzlichkeit – so doch sehr wohl korrekt und sehr hilfsbereit.
Eine Anpassung wollte sich jedoch nicht bei allen Migrantengruppen einstellen. Schon sehr früh waren es insbesondere Teile der islamisch geprägten Gemeinschaften, die aus unterschiedlichen Gründen Mühe hatten, Zugang zu dieser Mehrheitsgesellschaft zu finden. Mitnichten speisten sich diese Gründe allein aus der Abwehrreaktion der Mehrheitsgesellschaft. Dass es diese auch gab, soll hier keinesfalls verschwiegen werden, doch wäre es unredlich, hier eine Einbahnstraße zu postulieren.
Vor nahezu 30 Jahren finanzierte ich mein Studium durch eine Dozententätigkeit beim DGB. Immer wieder baten uns junge türkischstämmige Frauen, die unsere Kurse besuchten, um Hilfe. Eine ihnen aufgezwungene Ehe vor Augen, erhofften sie sich Hilfe von uns Lehrenden und von den Institutionen, die sie besuchten. Diese zeigten sich unwillig oder unfähig, diesen Frauen, deren Zahl in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich stieg, wirklich zu helfen. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Bis heute werden die zwischen freiem Lebensentwurf, familiärer Loyalität und einer Bestrafungsandrohung hin und hergerissenen jungen Frauen alleine gelassen.
Natürlich galt das Beschriebene nicht für alle muslimischen Einwanderer. Es waren viele – von einer kemalistisch-säkularen Gesellschaft geprägten – Türken, gebildete und feinsinnige Iraner oder der europäischen Lebensart offen gegenüberstehende Araber, die den Weg nach Deutschland bewusst gewählt hatten und hier weit mehr als lediglich eine geografische Heimat fanden.
Im Windschatten einer Multikulti-Doktrin
Viele meiner Freunde gehörten und gehören diesen Gruppierungen an. Genau diese Menschen, weil aus einem islamisch geprägten Land stammend, mit dem Islam zu assoziieren oder gar die heute so notwendige Islamkritik als einen Angriff gegen diese vertrauten Freunde und Kollegen misszudeuten, gehört zu den vielen verhängnisvollen Kurzschlüssen derjenigen, die glauben, jegliche Gesellschafts- und Glaubensrichtung im Namen der Toleranz verteidigen zu müssen.Im Windschatten einer um sich greifenden Multikulti-Doktrin wurde der Anteil derjenigen stetig größer, die die ihnen gewährte Freiheit dahingehend interpretierten, die kulturell verinnerlichten oder häufig erst wiederentdeckten Normen ihrer Herkunfts- bzw. Abstammungsländer hier konsequent und folgenlos etablieren zu können. Dass sich dort, wo islamisch geprägte Gemeinschaften eine gewisse Größe erreichen, regelhaft eine Monokultur ausbildet, stört die Multikulti-Apologeten nicht. Zumal der Verweis auf religiös-kulturelle Besonderheiten, sprich auf ihre spezifische Identität, allen Gruppierungen zugestanden wird, mit Ausnahme der autochthonen Bevölkerung selbst.
Die von der deutschen Gesellschaft lange Zeit nicht wirklich zur Kenntnis genommene Revitalisierung eines sehr konservativen, vielfach radikalen Islams in der gesamten islamischen Welt seit den 1970er Jahren veränderte auch die Haltung und das Selbstverständnis vieler in Deutschland lebender Muslime. Diese Veränderungen spürten wir, die wir türkische und arabische Bekannte und Freunde hatten, schon in den 80er Jahren auf zum Teil frappierende Weise.
Nach meinem frühen Schulabgang absolvierte ich eine Ausbildung in einem gastronomischen Lehrbetrieb. Meine Ausbilder – selbst allesamt in Frankreich ausgebildet – stammten aus Tunesien. Das Restaurant war deshalb ein beliebter Treffpunkt für Männer aus der arabischen Welt. Manche unter ihnen lernte ich als moderne und säkular eingestellte Menschen kennen. Doch gab es auch sehr wohl die andere Seite: Sehr strenge Gläubigkeit, eine tiefe Ablehnung des „westlichen“ Lebensstils und ein offen formulierter und aggressiver Antisemitismus. Ein ägyptischer Gast unterbrach eine Diskussion mit mir, nachdem ich meine atheistische Überzeugung artikuliert hatte, mit den Worten, ich sei als Ungläubiger eh des Todes. Ich spreche hier von den 80er Jahren in Deutschland.
Gewalt war Teil dieser Lebenswelt
In eben diesen 70er und 80er Jahren in einer problembeladenen Stadt in Norddeutschland aufgewachsen, bewegte ich mich insgesamt viel zwischen „Jugos“, zu denen auch ich zählte, zwischen Russen, Roma, Türken, Kurden und Arabern.Gewalt war Teil dieser Lebenswelt. Physische Präsenz und Kampfbereitschaft waren Pflicht, wenn man nicht untergehen oder einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte. Eine intensive Kampfsportausbildung war mein Weg, damit umzugehen. An den z.T. brutalen Auseinandersetzungen waren Deutsche in der Angreifer- oder Täterrolle insgesamt unterrepräsentiert. Macht besaß, wer einem großen – und zu einem brutalen Vorgehen bereiten – Kollektiv angehörte.
Es ist hinlänglich bekannt, in welchen Kulturen der Tribalismus eine immer noch bedeutende bzw. wieder erstarkte Rolle spielt. Es erscheint mehr als befremdlich, wenn Politik und Medien 30 Jahre später archaische Strukturen, ja ganze Clan-Gesellschaften in Deutschland entdecken. Über Jahrzehnte völlig ignoriert, kleingeredet oder gar als Folklore abgetan. Ausmaß und Gewaltpotenzial dieser Gruppierungen sind bis heute nicht wirklich im Wahrnehmungsfeld der Normalbürger angekommen.
Das Erfassen der Welt speist sich aus dem eigenen Erfahrungsraum. Entgegen der verklärenden Selbstzuschreibung vieler 68er „Revolutionäre“, die es mit einem vermeintlich brutalen Polizeistaat aufzunehmen hatten, offenbart ein nüchterner Blick zurück eher ein Leben in Freiheit und Wohlstand und fern von physisch-existenzieller Bedrohung. Auf diese Art groß gewordene Generationen autochthoner Deutscher zeigen sich heute vielfach unfähig, wahrzunehmen, was seit Jahrzehnten inmitten ihrer Gemeinschaft erwachsen ist: eine zwar heterogene, aber sehr wohl islamisch geprägte „Gegen“-Gesellschaft.
Der häufig verwendete Begriff der „Parallel“-Gesellschaft erfasst dieses Phänomen nur unzureichend, verschleiert er doch die tief verankerte Ablehnung und das Ausmaß der Verachtung, die die Protagonisten dieses gesellschaftlichen Gegenentwurfes der Mehrheitsgesellschaft entgegenbringen. Dabei stellt sich ihr Erscheinungsbild sehr vielgestaltig dar.
Ob als konservative Imame, als rhetorisch versierte DITIB-Vertreter oder als kriminelle Clan-Mitglieder, alle finden sich, wenngleich von unterschiedlichen Motiven angetrieben, so doch unter der einen Fahne des Islam vereint und alle arbeiten – mit recht großem Erfolg – einer Integration der muslimischen Community entgegen. Die Erstgenannten tun dies sogar mit enthusiastischer Unterstützung der deutschen Politik. Letztgenannte erfahren zumindest eine indirekte Unterstützung durch einen insuffizienten Politik- und Justizapparat, der ihre krakenhafte Ausbreitung seit nunmehr 30 Jahren pädagogisch wertvoll begleitet.
Nie behindert, oft gefördert
Doch noch einmal zurück: Es sind die Anfänge der 90er Jahre. Über den zweiten Bildungsweg besuchte ich – nach vielen Um- und Irrwegen – eine Universität (wonach es bei mir als 16-Jährigem wahrlich nicht aussah), da entzündete sich ein Bürgerkrieg in meinem Geburtsland, das damals noch Jugoslawien genannt wurde. Die Ohnmacht des passiven Beobachters vermeidend, begab ich mich mehrfach in das mir vertraute Land, das nun zu einem Kriegsgebiet mutiert war.So nah mir eine patriotische Gesinnung war, so fern war mir jegliche Ausgestaltung eines extremen Nationalismus. Ich entschied, obgleich sicher kein Pazifist, den Kampf auf meine Art zu führen: durch das Organisieren und Begleiten von Hilfstransporten in die Krisengebiete. Das war wenig heroisch, aber der Weg, auf dem ich mir treu bleiben konnte. Für die radikalen Nationalisten war ich ein „feiger Intellektueller“. Für die meisten meiner deutschen „linken“ Kommilitonen war ich zu patriotisch und zu martialisch. Beide Sichtweisen waren und blieben mir fremd. Bis heute.
Zurück in der deutschen Normalität, wurde ich – wiederum nach einigen längeren Um- und Irrwegen – Wissenschaftler (u.a. Psychotraumaforscher). Vielleicht auch eine Art der Kompensation.
Ich war es von klein auf gewohnt, Hürden nehmen zu müssen, die größer waren als ich. Dass mir dies – mal mehr, mal weniger gut – aber doch immer wieder gelang, hat sicher vielfältige Gründe. Einige seien hier hervorgehoben: Weil ich in Vielem gescheiterte, aber doch liebende Eltern hatte. Weil sie für ihre Emigration mit Deutschland ein Land gewählt hatten, dass uns aufnahm und insbesondere mir die Chance gewährte, bei allen widrigen Umständen meinen Weg zu gehen. Nie behindert, oft gefördert. Weil ich in diesem Land immer wieder auf wertvolle Menschen stieß: Menschen, die zu meinen Freunden wurden, vielfach auch die Eltern dieser Freunde, die mich als Kind für Monate bei sich aufnahmen, viele wundervolle Sporttrainer, Lehrer und Lehrerinnen und später Professoren an den Universitäten und Kliniken, die mich wahrnahmen und unterstützten.
Kein einziges Mal, dass mir der Einlass verwehrt worden wäre, egal, vor welcher Tür ich stand. Dem abwehrenden, dem ausgrenzenden, dem benachteiligenden, dem bösen Deutschland bin ich nicht begegnet. Und ich wundere mich jeden Tag aufs Neue, wie viele davon zu berichten wissen. Und ich staune jeden Tag aufs Neue, welche Maßstäbe für die Beurteilung dieses Landes und der hiesigen Menschen herangezogen werden – häufig gerade von denjenigen, in deren Herkunftsländern sich nicht ein Bruchteil dessen verwirklicht findet, was hier wie selbstverständlich eingefordert wird. Natürlich ist meine Beschreibung holzschnittartig und grob. Das ist der hier mögliche Rahmen. Doch auch bei differenzierter Analyse bliebe die Kernaussage bestehen.
Entsetzt, welches Zerrbild von diesem Land gezeichnet wird
Diesen Blick auf Deutschland teile ich nicht zuletzt mit der wundervollen, intelligenten und starken Frau an meiner Seite. Mit 9 Jahren aus Spanien nach Deutschland gekommen, somit ein „Gastarbeiter-Kind“ wie ich, durchschritt sie viele Stationen, die den meinen ähnelten. Unsere schmerzhaftesten Erfahrungen machten wir nicht in diesem Land, machten wir nicht mit Deutschen. Unsere jeweilige Berufswahl und die damit verbundenen Themen, die uns begleiten, sind nicht zuletzt diesen unseren Erfahrungen geschuldet. Meine Frau wurde als Pädagogin Expertin für Früherziehung und Kinderschutz. Ich wurde Trauma- und Depressionsforscher.Warum wir heute traurig und zugleich zornig sind?
Weil wir, die wir uns mit diesem Deutschland verbunden fühlen, entsetzt darüber sind, welches Zerrbild von eben diesem Land gezeichnet wird. Ja, wir haben – insbesondere in unserer Jugend – sowohl Gewalt, wie auch Rassismus und Nationalismus vielfach und auch in Deutschland erlebt. Doch selten durch Deutsche. Es waren in erster Linie Migranten wie wir, die sich hier besonders hervortaten. Im Falle der türkisch- und arabischstämmigen Communities gar mit jeder neuen Generation in steigendem Maße.
Erfasst von der neo-islamischen Welle, die auch nach Deutschland schwappte, ist das „Muslimische“ zu einem immer bedeutenderen Element der eigenen Identitätsbildung geworden. Die positive emotionale Aufladung wurde und wird durch eine Selbstattributierung gespeist, die sich als stolz, mutig, stark, ehrbar, erhaben und dem einzig wahren Gott zugewandt betrachtet.
Insbesondere die männliche Psyche bietet dankbar Resonanzräume für so viel Selbstüberhöhung, wohl wissend, dass Allah insbesondere den Mann in sein Herz geschlossen hat. Dieser Zustand verlangt nach keiner empirischen Analyse, nach keiner Reflexion. Die gefühlte Kohärenz trägt und kompensiert die real bestehenden Widersprüche. Wo die Widersprüche doch zu mächtig werden, greift das Opfer-Narrativ. Die Schuldigen, die Täter: der militante Westen, die Juden, die Ungläubigen im Allgemeinen oder die deutschen Rassisten im Besonderen.
Nicht nur das „Böse“ kennt Entgrenzung
Ist eine muslimische Community groß genug, so nimmt diese stark emotionalisierte, identitätsstiftende Selbstzuschreibung ihren Lauf und formt das Selbst- und Weltbild der Nachwachsenden, völlig unabhängig davon, wie sich die Mehrheitsgesellschaft verhält. Und während diese deutsche Mehrheitsgesellschaft auf Gleichheit pocht, ist die Betonung der Differenz konstituierend für das muslimische Einheitsempfinden. Ein Widerspruch, den Viele einfach nicht sehen wollen. Die angenommene Korrelation zwischen Integrationsangeboten und immer neuen Zugeständnissen seitens der aufnehmenden Gesellschaft und der Güte der Integrationsprozesse verkennt die Wirkmächtigkeit identitätsstiftender Maßnahmen in ideologisch geschlossenen Systemen.Dieser Prozess wird nicht zuletzt durch die emotional wenig ansprechenden Identitätsangebote einer aufnehmenden Gesellschaft befeuert, die nicht weiß, wofür sie eigentlich steht. Denn auf eine verhängnisvolle Weise komplementär zu dieser neo-islamischen (und neo-nationalistischen) Entwicklung zeigt der Ausschlag der deutschen Geistesverfasstheit in die genau entgegengesetzte Richtung. Diese Ausrichtung teilt Deutschland mit weiten Teilen der westlichen Welt. Das historische Erbe Deutschlands begünstigte jedoch eine besondere Ausprägung dieser Geisteshaltung.
Das dritte Reich als ewiges Menetekel vor Augen, etablierten sich Positionen wie Toleranz gegenüber allem und jedem, eine Nähe zum Pazifismus und ein moralischer Universalismus im politisch-medialen Normengefüge. Die historisch so bedeutsame, notwendige und wertvolle Auseinandersetzung mit Faschismus und Kolonialismus nach dem zweiten Weltkrieg – insbesondere seit den 60er Jahren – verlor jede Balance und kippte schließlich selbst in die ideologischen Extreme. Nicht nur das „Böse“ kennt Entgrenzung.
Doch diese Extreme erscheinen uns nicht mehr als solche. Im Laufe der Jahrzehnte diffundierten die – zum großen Teil mit dem 68er Label versehenen – neuen Glaubenssätze in alle gesellschaftlichen Nischen und wurden so Teil dessen, was wir als Normalität erfahren und aus eben diesem Grunde auch nicht mehr zu hinterfragen suchen. Welchem Fisch wird schon das Wasser gewahr, das ihn trägt?
Im Gefolge dieser Entwicklung verloren zwei Generationen die Fähigkeit, sich im Kontext identitätsstiftender sozialer Prozesse mit den Themen Verantwortung, Schuld, Zugehörigkeit, Selbstbehauptung, Wehrhaftigkeit, sowie Männlichkeit und Weiblichkeit auf eine ausgewogene, das heißt realistische und psychologisch reife Art und Weise auseinanderzusetzen.
Die Schuld transzendierte ins Unerreichbare, ewig Gültige
Das in Gang gesetzte Pendel schlug weit aus. Zu groß die Versuchung, in der Selbstverleumdung und Hypermoral die historische Heilung erfahren zu wollen. Die Schuld transzendierte ins Unerreichbare, ewig Gültige. Schuldig sein wurde so nicht nur zum ewigen Schicksal Europas und insbesondere der Deutschen, es wurde – auf eine merkwürdig elitäre Art – regelrecht „chic“. Makel als Qualitätsmerkmal. Umso dankbarer bespielen viele Migranten die vom neurotischen Restpotenzial der deutschen Eliten dargebotene Projektionsfläche. Überall gedeiht das Leiden der – in erster Linie muslimischen – Migranten ob der deutschen rassistischen Umtriebe. Vor allem, wenn ARD, ZDF oder der Spiegel die Blickrichtung bestimmen.Da das eigene Böse im psychischen Apparat nach einem komplementären Gegenüber verlangt, wird „das Fremde“ als reines Opfer gedacht. Armut und Elend, gerade der arabischen und afrikanischen und in weiten Teilen islamischen Welt, wird als dezidiert westlich verursacht gesehen. Die Verantwortungsübernahme, zu der sich vor allem der Europäer (und hier wiederum ganz vorne der Deutsche) zu bekennen hat, darf keine Beschränkung kennen. Die Aufgipfelung dieser Tendenz: Der Islam wird als schutzbedürftige Religion und Muslime kollektiv als schutzbedürftige Minderheit definiert, der es freigestellt sein muss, ihre Normen und Werte völlig frei zu leben. Wo auch immer sie dies zu tun wünschen.
Der moralisch aufgeladene Grundsatz, wirklich alle Kulturen und Religionen gleichberechtigt zu behandeln, begünstigt die, die am meisten fordern und mündet in eine gesinnungsethische Dauerhyperventilation, die jedwede Kritik am Islam mit Ausländerhass und Intoleranz gleichsetzt. Nicht genug damit. Die Hüter der öffentlichen Moral halten für diesen amoralischen Zustand gar eine psychiatrische Einordnung bereit: Islamophobie. Die Vorwürfe wiegen schwer: Rückständigkeit, Abgehängtheit und moralische Minderwertigkeit wird allen bescheinigt, die an der umfassenden Toleranz Kritik üben.
Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums“ war einst Teil des Pflichtkanons, dem wir uns als junge Studenten gerne und mit Leidenschaft unterwarfen. Autoren, die heute den Islam einer genauso kritischen Analyse unterziehen, können sich in Deutschland nur noch unter dem Schutz des zuständigen Landeskriminalamtes öffentlich bewegen. Eine von vielen Facetten, in der sich der schrittweise Verrat an der Aufklärung in der westlichen Welt offenbart.
Die pazifizierte, bunte Gesellschaft sträubt sich natürlich, Freund und Feind, Eigenes und Fremdes zu benennen. Jedoch verliert genau diese Gesellschaft jede Hemmung, wenn es darum geht, ihre ideologischen Gegner im eigenen Lager auszumachen und sozial zu liquidieren. Zutiefst davon überzeugt, dass die Unmoralischen es nicht verdient haben, am politischen Diskurs teilzuhaben. Und um alle Verdächtigen auch sicher auszusortieren, wird man nicht müde, auf dieser Seite der Front sehr wohl immer neue „Feinde“ ausfindig zu machen: überall „Rechte“ und „Populisten“. Den „inneren“ Feind gibt es also sehr wohl noch. Die Populistenjäger empfinden auch keinen Zweifel ob ihrer eigenen Radikalität. Wenn man auf der Seite des Guten steht, kann das eigene Vorgehen nicht böse sein, nur konsequent.
Jegliche Form von Selbstbehauptung abtrainiert
In ihrer Selbstwahrnehmung sehen sich diese „neuen Jakobiner“ (Norbert Bolz) als die Verteidiger von Recht, Moral, Freiheit und Sicherheit. Die seit Jahren wachsende – reale und mitnichten nur gefühlte – Unsicherheit im öffentlichen Raum, negieren sie erfolgreich und stärken so die eigentlichen Feinde der offenen und freien Gesellschaft, die zu verteidigen sie sich aufgemacht haben. Diesen „äußeren“ Feind, der schon längst mitten unter uns ist, vermögen sie nicht auszumachen, denn in der guten neuen Welt darf es keine äußeren Feinde mehr geben. Wie ein Kleinkind, das einen Bewegungsakt einmal angestoßen hat und nun nicht mehr in der Lage ist, diesen zu kontrollieren oder abzubremsen, stolpert diese Gesellschaft dem unvermeidlichen Abgrund entgegen.Mit Entsetzen erleben meine Frau und ich in unserer Arbeit an Kitas, Trauma-Zentren, Kliniken und Fortbildungseinrichtungen, wo wir Seminare und Vorlesungen für zahlreiche Berufsgruppen aus Pädagogik, Psychologie, Medizin und Rettungsdienst halten, dass eine Gesellschaft, die sich bedingungslos tolerant gibt, die ihre Männer „weich sozialisiert“ (was per se noch nichts Schlechtes ist) und sich jegliche Form von Selbstbehauptung abtrainiert hat, eine Ideologie „beschützt“, zu ihrem Mündel erklärt, die eine bis zum grotesken gesteigerte Machokultur zelebriert.
Das, wofür sich sehr viele Menschen (meine Frau und ich zählen uns dazu) in den Bereichen Kinderschutz, Opferhilfe, Traumaprävention und -therapie seit vielen Jahren einsetzen, wird insbesondere von einer Elite aus Politik-, Kunst- und Medienschaffenden mit Füßen getreten. Nicht ohne dabei in einer Art narzisstischer Aufladung selbstgerecht auf all die herabzusehen, die deren Übertoleranz zu hinterfragen wagen.
Die Geschichten und Erfahrungen der Erzieher/innen, Lehrer/innen, Ärzte/innen, Polizisten/innen, Rettungssanitäter/innen spiegeln die tagtägliche alarmierende Überforderung und nicht zuletzt das Leiden wider, das in dieser unserer Gesellschaft überall dort erwächst, wo Menschen- und Weltbilder, Lebensanschauungen, gesellschaftliche Normen und Rechtsauffassungen aufeinanderprallen.
Medial dürfen wir seit Jahren einem unwürdigen Schauspiel beiwohnen, dessen Aufführung mir als Traumaforscher und Traumatherapeut die Zornesröte ins Gesicht treibt: Die tausendfach erfolgte Gewalt an sowie Demütigung und Erniedrigung von Frauen durch Männer, deren Frauenbild den Weg aus dem Mittelalter in die moderne europäische Gegenwart gefunden hat.
Diese Gesellschaft versagt ihren Frauen den Schutz
Es sind ideologisch Motivierte, die nicht müde werden, auf das zum Bösen bereite Potenzial auch der hiesigen „weißen“ Männer hinzuweisen, um so für eine Relativierung zu sorgen. In der nächsten Stufe werden die Täter zu Opfern ihrer schweren Lebensumstände und kulturellen Prägungen stilisiert. Gepaart mit einer nicht nachvollziehbaren Milde der Justiz und einem unüberhörbaren Schweigen der Mehrheit versagt diese Gesellschaft ihren Töchtern, ihren Frauen den Schutz, den zu gewährleisten des Staates oberste und vornehmste Pflicht ist.Wo ist das Entsetzen all derer, die bei umgekehrter Rollenverteilung in hysterischen Aktionismus verfallen? Wo ist der Aufschrei all der Guten? Nichts von alledem. Vielmehr wird – einem Automatismus gleich – mit Verharmlosung und der Pathologisierung der Menschen, die ihre Sorgen artikulieren, reagiert. Männer aus islamisch geprägten Kulturen genießen schließlich im Europa der bösen weißen Männer den Schutz der antirassistischen politischen Linken. Einerseits möchte man den Schutz der Frauen sehr wohl gewahrt wissen, doch gleichzeitig darf die weiße Weste des guten Fremden nicht beschmutzt werden, da dies dem politischen Gegner in die Hände spielen könnte. Für welche Seite sich viele, und nicht zuletzt große Teile der linken Feministinnen, im Rahmen ihrer kognitiven Dissonanzreduktion entscheiden, offenbart sich seit Jahren auf verstörende Art und Weise.
Eine Gesellschaft, die ein infantiles Verhältnis zur eigenen Selbstbehauptung aufgebaut hat, breitet einer Ideologie den roten Teppich aus, die den Kampfes- und Männlichkeitskult von Gott persönlich aufgetragen bekam. Wir werden Zeugen des Relativismus einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft, die ihren Halt durch Überbetonung ideologisch verklärter, wohlklingender Phrasen und Allgemeinplätze zu finden sucht.
Unter der Regenbogenfahne der entgrenzten Toleranz und kulturellen Offenheit vereinen sich all jene, deren Hypermoral Sinn spendet und das Selbstbild positiv auflädt. Sinn und narzisstische Selbstspeisung nehmen gleichsam pseudoreligiöse Züge an. Eine diesseitige Erlösungshoffnung für all jene, die dem Jenseitigen nicht mehr so ganz trauen. Die allumfassende Moral ist ihr Glaubensbekenntnis geworden.
Daher die Liebe zu den „Flüchtlingen“, die ihrer Attribute gänzlich beraubt werden (Herkunft, Alter, Bildungsgrad, religiös-politische Gesinnung, Vorstrafen oder prinzipiell mögliche Täterschaft im Krieg interessieren nicht), denn nur so können sie zu reinen Opfern werden. Nur als solche erheben sie ihre Helfer in den Stand der großherzigen, toleranten Weltenbürger. Die galoppierende Aufweichung eines etablierten Rechtssystems und die signifikante Zunahme an Gewaltakten werden dabei in Kauf genommen, nährt sich das Ego doch von der Überzeugung, auf der guten Seite zu stehen.
Campino segnet die von sich Berauschten
In diesem Modus der Selbstüberschätzung wird das Äußern eines Wunsches mit seiner Verwirklichung gleichgesetzt. Ein Grünen-Politiker sagte nach einer der letzten Landeswahlen in einem Interview: „Es geht uns um nichts Geringeres als die Rettung der Menschheit.“ In meinem beruflichen Kontext erhalten Menschen, die so etwas von sich geben, eine liebevolle psychotherapeutische Begleitung und eine antipsychotische Medikation, denn pathologische Selbstüberhöhungen können in ein selbst- und fremdgefährdendes Handeln münden.So ist die Moral längst zur „Hypermoral“ (Alexander Grau) angewachsen und wird mittlerweile absolut gedacht. Sie ist die Maßeinheit, mit der alles gewogen wird. Historische und politische Fragen genauso wie technische. Der Unmoral verdächtig ist nicht nur der Grenzkontrollen-Befürworter, sondern auch der Dieselfahrer. Ein faktenorientierter Diskurs darf nicht eröffnet werden, denn selbst das Streben nach Objektivität – Wissenschaft genannt – muss dem Größen- und Machbarkeitswahn weichen.
Chemisch rein von jeglichem Sachverstand, glauben einige, die Realität in die Knie zwingen zu können. Verdächtig macht sich, wer mit der Vernunft argumentiert. So droht eine ganze Gesellschaft ihre historisch mühsam erkämpften und der Aufklärung verpflichteten Errungenschaften preiszugeben. Humanismus, Liberalismus oder das Primat der Wissenschaft vor der Religion sind keine naturgegebenen Erscheinungen, sondern Errungenschaften, für die ein Großteil der heute Agierenden nicht kämpfen musste oder einen Preis hätte zahlen müssen.
Dabei war es noch nie so einfach, zu den Guten zu gehören. Mit der Eintrittskarte „Ich bin gegen rechts“ bestückt (potenziert durch das Bekenntnis zu offenen Grenzen und den Kampf gegen Dieselmotoren), wird jedem großzügig Einlass gewährt in die große Halle der Gutmenschlichkeit. Auch linksradikale Bands dürfen zum Tanze bitten. Hauptsache der Oberkapellmeister und Freizeit-Partisan Campino segnet die von sich Berauschten.
Zum ersten Mal fühle ich mich fremd in diesem Land, das auch mein Land ist. Nicht wegen der Spinner, die den Arm zum Hitlergruß heben. Diese darf man keinesfalls negieren oder unterschätzen, aber auch nicht so hypertrophieren lassen, dass sie uns alle als Riesen erscheinen. Nein, es ist diese Politikerkaste und diese unsere Elite aus Kunst und Medienwelt, flankiert von gesinnungstreuen Wissenschaftlern, die ihre Segel in den günstigen Wind setzen, deren Kampf gegen Rechts (wohlgemerkt gegen „Rechts“ und nicht gegen Rechtsextremismus) mich befremdet. Inszeniert, um sich an der eigenen Größe zu ergötzen. Natürlich ohne dabei die eigene Komfortzone verlassen zu müssen. Nicht das man bereit wäre, wirkliche Opfer zu bringen für diese gute und anständige Haltung. Gut sein darf nicht weh tun.
Möglicherweise wird in einer gar nicht so fernen Zukunft die Frage nach dem „Wie?“ in diesem Land neu gestellt werden. Wie konnte es geschehen? Sich und seine Gesinnungsgenossen verteidigend, wird Claus Kleber, der mit seinem aktuellen Buch eh schon die Wahrheit „rettet“, abermals ein Buch publizieren. Der Titel könnte lauten: „Dabei waren wir doch die Guten.“
Nein, das wart ihr nicht! Ich war dabei.
Dr. phil. Dr. scient. med. Damir del Monte; Studium und Promotion in Psychologie und Medizin-Wissenschaft; Neurowissenschaftliche Forschungen in den Bereichen Lernen, Psychotraumatologie, Depression und Psychotherapie.
Videos mit Vorträgen des Autors finden sich unter anderem hier, hier, hier und hier.
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