Stationen

Samstag, 1. Oktober 2022

Michael Sommer über Italien

Heute bewege ich mich, wenn auch noch etwas unsicheren Schrittes (eine Viertelkanne Tee habe ich gegen meine schöne weiße Bürowand geschüttet), wieder durchs Haus. Covid scheint am Abklingen zu sein, auch wenn ich vorsichtig bleibe.


Für einen längeren Facebook-Post sollte die Energie aber reichen. Und der soll, weil ich selbst mit dem Land vielfältig verwoben bin, etlliche Jahre dort verlebt und nicht zuletzt jetzt das Vorspiel in Cagliari intensiv miterlebt habe, der Wahl in Italien gelten. Nur am Rand soll mich die Frage interessieren, die in der deutschen Presse jetzt mit maximaler Aufgeregtheit diskutiert wird: Kommen mit den Fratelli jetzt Post-, Neo- oder sonstige Faschisten an die Macht, die womöglich in Italien die Demokratie abwürgen werden? Ich habe mich dazu schon geäußert. Meine Antwort ist nein, und daran wird auch der deutsche Erregungszustand nichts ändern.


Viel bemerkenswerter ist, dass die historisch gewachsene politische Landkarte Italiens, die zugleich ein Spiegel der Kulturgeschichte des Landes ist, mit dieser Wahl endgültig im Archiv abgeheftet werden muss. Über alle historischen Zäsuren hinweg hatte seit Gründung des Nationalstaats 1861 die Dreiteilung in einen sozial und technologisch entwickelten Norden, in dem die italienische Variante des Liberalismus lange die dominierende politische Strömung war, eine durch Kirchenstaat und Halbpacht geprägte Mitte, in der erst der Sozialismus, später der Kommunismus stark verwurzelt war, und einen rückständigen, traditionellen Süden, in dem Kirche und Patrimonialismus die beherrschenden Kräfte waren und teilweise bis heute sind.


Diese drei Zonen haben sich in der politischen Geographie Italiens stets deutlich abgehoben: Nach Gründung der Republik 1946 konzentrierte sich das starke bürgerliche Lager im Norden auf die Democrazia Cristiana bzw., wenn es laizistisch orientiert war, auf die kleineren Parteien wie Republikaner, Liberale und Sozialdemokraten. Der Norden wählte "weiß", und das hieß: antikommunistisch.


In den zentralen Regionen Emilia-Romagna, Toskana und Umbrien, teilweise in den Marken, war es genau umgekehrt: Hier machte die ländlich-proletarische Tradition der Mezzadria den Pci zur flurprägenden politischen Kraft. Tatkräftige, nicht selten auch charismatische, vor allem aber integre Bürgermeister vom Peppone-Typus verwalteten die Kommunen dieser Regionen so gut, das sie in ganz Italien als Leuchttürme für die buona amministrazione wahrgenommen wurden.


Wieder anders war es im Süden. Auch hier dominierte die Dc, aber eine ganz andere als im Norden. Die Partei war hier mit den patrimonialen Netzwerken – vulgo: der Mafia – ökonomisch, personell und symbolisch so eng verflochten, dass man nie genau wusste, wo die Entscheidungen wirklich getroffen wurden. Man könnte auch sagen: Die Partei und die Traditionen der sozialen Organisation bildeten eine perfekte Einheit.


Weißer Norden, rote Mitte und Mezzogiorno, diese Dreiteilung überstand sogar die große Zäsur von Tangentopoli 1992, in der eine nach der anderen die Parteien der "ersten Republik" zu Staub zerfielen und neuen, fluideren und vor allem stärker um charismatische Persönlichkeiten herum konstruierten Parteien platzmachten. Doch wie heißt es in Tommasi di Lampedusas "Gattopardo": "Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi." So ist es: Während in der Parteienlandschaft die Kulissen eifrig herumgeschoben wurden und sich die Personalkarussells in atemberaubendem Tempo drehten, blieb die Dreiteilung Italiens, wie sie immer gewesen war. Nur dass jetzt die regionalistische Lega und Berlusconis Forza Italia den Norden beherrschten, die sich immer wieder umbenennenden, aber letztlich im Pci wurzelnden Parteien des Mitte-Links-Lagers die Mitte und Forza Italia gemeinsam mit den zur Alleanza Nazionale gewendeten Postfaschisten des so wendigen wie klugen Gianfranco Fini den Süden.


Dieses Tableau erhielt zum ersten Mal bei der letzten Parlamentswahl vor vier Jahren Risse. Aus dem Stand zur stärksten Einzelpartei stieg die (hier als linkspopulistisch geltende, aber besser als Big-Tent-Partei zu bezeichnende) Fünfsternebewegung des Komikers Beppe Grillo auf. Sie verdrängte zugleich die Mitte-Links-Koalition vom zweiten Platz der politischen Lager auf den Dritten und stellte in Senat und Abgeordnetenhaus je ein Drittel der Abgeordneten. Zu verdanken hatten die "Grillini" ihren großen Erfolg vor allem einem fulminanten Wahlergebnis im Süden. Der abgehängte Mezzogiorno war für die populistische Antikorruptions- und Wohlfahrtsrhetorik der 5 Stelle besonders empfänglich. Ebenfalls bereits 2018 zeigte sich, dass der rote Gürtel in der Mitte unter Auszehrung litt. Insbesondere in Umbrien, aber auch in der Emilia und im Norden wie Süden der Toskana setzten sich Mitte-Rechts- gegen Mitte-Links-Kandidaten durch.


Diese Entwicklung hat sich durch den eindeutigen, präzedenzlosen Wahlsieg Giorgia Melonis weiter verstärkt. Die Kandidaten des Mitte-Rechts-Lagers haben flächendeckend triumphiert: im Norden sowieso, wo nur ein paar Wahlkreise in den Innenstädten von Mailand und Turin rotgefärbt blieben, aber auch in der Mitte und im Süden, wo sie in teilweise harten Duellen den Grillini ihre 2018 errungenen Mandate wieder abnahmen. Einzig Kampanien – und dort vor allem das Umland Neapels – setzte sich vom Trend ab: Hier gewannen durch die Bank Kandidaten der 5 Stelle.


Wenn man mit analytischem Blick, statt mit Schaum vor dem Mund auf das politische Italien blickt, dann drängt sich der Befund auf, dass die beiden Wahlen 2018 und 2022 das Land völlig umgekrempelt haben. Die Linke hat ihre politische Verwurzelung in den jahrzehntelang von ihr gehaltenenen – und durchaus auch gehegten – Kerngebieten verloren. Die Rechte kann eindrucksvoll siegen, wenn sie auf die populistische Karte setzt und damit Bewegungen wie die 5 Stelle einhegen kann.


Damit ist nicht gesagt, dass einer Regierung Meloni – der 68. der Republik seit 1946 – lange Dauer oder politischer Erfolg beschieden sein wird. Es ist aber so, dass die politische Landschaft der drittgrößten Wirtschaftsmacht der EU in einer Umbruchphase ist und auf dem Weg, sich neu zu gruppieren. Wenn Meloni ihre Karten klug spielt, könnte das Mitte-Rechts-Lager als Sieger aus diesem Realigment hervorgehen.

 

Dem Geschwafel, das hier zu hören ist, zuzuhören, ist reine Zeitverschwendung.

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