Stationen

Samstag, 22. April 2023

Die hehren Ziele

 

Abgesehen vom übergeschnappten Anspruch des Marxismus, "wissenschaftlich" zu sein, hat mich am Marxismus nie überzeugen können, dass er Interessen als Motor der Geschichte ansieht. Ich befürchte, dass gegenüber den Interessen, ja sogar gegenüber dem Eigeninteresse, Glaubensfragen immer wieder überwiegen. Es dauert lange, bis sich diese Glaubensfragen zusammenballen und um sie gekämpft wird, weshalb erst spät erkennbar wird, dass ihr Atem nicht nur länger, sondern auch stärker ist als das Kleinklein der Interessen, die den Epochenstil vordergründig überlagernd mitbestimmen. Diese sehr starken Glaubensfragen sind keine mittelalterliche Erscheinung. Gerade die als mittelalterlich etikettierten Hexenprozesse waren ein neuzeitliches Phänomen, als das Mittelalter längst vorbei, Amerika entdeckt und Luthers Thesen verinnerlicht waren, das ohne die bornierte Kälte abstrakter Rechtsauffassungen, die die Universität Bologna hervorgebracht hatte, gar nicht möglich gewesen wäre. 

Ich glaube nicht, dass Glaubensfragen eingehegt werden können. Wir können uns glücklich schätzen, wenn es uns gelingt, sie in geordnete Bahnen zu lenken, bevor sich das Gewitter entlädt. Dann schwillt eine Flut heran, wie ein Strom nach der Schneeschmelze oder der Regenzeit. Die hehren Ziele werden beide gegnerische Seiten für sich beanspruchen. Aus Interesse, ja, aber vor allem weil unterschiedliche Vorstellungen davon herrschen, worin unser aller Interesse, das Gemeinwohl, besteht. Diese Vorstellungen sind eine Glaubensfrage, obwohl beide Seiten sich gegenseitig "wissenschaftliche Studien" um die Ohren hauen werden. Die hehren Ziele sind gefährlich.

 

 


 

Ich möchte, was das Interesse angeht, aber noch eine kleine bzw. halbe Ehrenrettung für Karl Marx anfügen:

Man sage nicht, dass Frauen benachteiligt wären. Sie haben neuerdings die Möglichkeit, ihren hirntoten Körper der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, um als Tote vom meist Bietenden geschwängert und nach neun Monaten entbunden zu werden.
“Whole body gestational donation” lautet die Zauberformel.
Was sagen Sie dazu? Sind die Kinder nicht zu beneiden?
Beeindruckenderweise hat der junge Marx diese Zukunft vorausgesehen. Der Philosoph François-Xavier Bellamy zitiert ihn aus dem Gedächtnis und auf Französisch folgendermaßen:
„Endlich wird eine Zeit kommen, da alles, was bisher gegeben und nie verkauft, geteilt und nie ausgetauscht wurde, da alles ‒ Liebe, Freundschaft, Körper, Natur – zur Sache des Handels wird.“
Dann fügt Bellamy in einem Gespräch mit Michel Onfray (05.04.2023) hinzu:
„In diesem Augenblick leben wir gerade; weil alles der Willkür des Einzelnen unterworfen ist ‒ sein Geschlecht, seine Zeugungs- und Gebärfähigkeit, seine Organe ‒, ist alles dem Markt unterworfen. Alles ist der Technik und dem Markt unterworfen.“

Tatsächlich machte Karl Marx („Das Elend der Philosophie“, 1847) jedoch keine Prophezeiung. Er schreibt nicht in der Zukunftsform, sondern in der Vergangenheitsform:
„Kam endlich eine Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten, Gegenstand des Austausches, des Schachers, veräußert wurde. Es ist dies die Zeit, wo selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht, gegeben, aber nie verkauft, erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen etc ., wo mit einem Wort alles Sache des Handels wurde. Es ist die Zeit der allgemeinen Korruption, der universellen Käuflichkeit oder, um die ökonomische Ausdrucksweise zu gebrauchen, die Zeit, in der jeder Gegenstand, ob physisch oder moralisch, als Handelswert auf den Markt gebracht wird, um auf seinen richtigsten Wert abgeschätzt zu werden.“

 

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