Stationen

Samstag, 22. April 2023

Hoimar von Ditfurths Tochter

Die Frage war offengeblieben: Wie konnte es geschehen, dass eine wohlerzogene, gebildete, begabte junge Frau, der die Herzen zuflogen und der es an nichts mangelte, dem Land, in dem sie lebte und Erfolg hatte, den Krieg erklärte? Wie konnte es geschehen, dass Ulrike Marie Meinhof die RAF gründete und mit ihr unterging? Es gab Vermutungen, Thesen, Legenden. Aber kein Gesamtbild. Vielleicht wird es das nie geben. Doch die Biografie Jutta Ditfurths, Ulrike Meinhof, entwirft die Kontur für so ein Bild, oder besser: Sie liefert die nötige Fülle von Mosaiksteinen, sodass eine deutliche (und nicht mehr nur deutende) Kontur sichtbar wird.

Zunächst mal wirkt das 480-Seiten-Werk wie eine ungeheure Fleißarbeit. Als wäre Ditfurth dabei gewesen und hätte, treuliche Chronistin, Tag für Tag mitgeschrieben, was alles passiert ist im Leben der Meinhof, legt sie nun ihre Ernte aus und vor. Sie war ja nicht dabei, sie hat also geforscht, rekonstruiert, die halbe Welt befragt, alles studiert, was nachzulesen ist, analysiert, gefiltert und beurteilt und sodann die Biografie zusammengesetzt. Dieser Dokumentations-Furor gibt dem Buch einen Anschein von Objektivität; wo so viele Details zusammengetragen und angeordnet worden sind, denkt man, wird schon die schiere Masse des Materials dafür sorgen, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte hindurchschimmert. Man hat lesend das Gefühl, dass nichts ausgelassen, mithin dass nichts verschwiegen wird. Und glaubt sich so im Besitz einer historisch korrekten Mitschrift dieser außergewöhnlichen Lebensgeschichte.

Aber natürlich kann keine Rede sein von Objektivität beziehungsweise der Annäherung an sie (denn mehr ist nicht möglich). Das dicke Buch hätte auch wohl ohne die temperamentvolle Parteinahme der Autorin für ihren Gegenstand, Ulrike Meinhof und ihr Denken und Handeln, kaum geschrieben werden können. Es gibt ja im neueren Biografismus, besonders wenn Frauen über Frauen schreiben, die Neigung, stark zu werten und umzuwerten, die bösen Männer an den Pranger zu stellen und die guten Frauen zu heroisieren. So macht Ditfurth es nicht. Sie sympathisiert gar nicht mal unbedingt mit Personen, sondern mit Ideen und Haltungen, die man als (gesellschafts)kritische Konsequenz bezeichnen könnte und die in den fünfziger und sechziger Jahren, lange vor Entstehung der RAF, in der Anti-Atom-, Anti-Wiederbewaffnungs- und Anti-Notstandsgesetze-Bewegung zur Welt kamen und als deren kompromisslose Verfechterin Meinhof von ihrer Biografin porträtiert wird. Nie lässt Ditfurth davon ab, Meinhofs Verhalten in diesen Kontext der kritischen Konsequenz zu stellen, und sie wird ihr so auf erstaunliche Weise gerecht, lässt plausibel erscheinen, was zuvor immer nur als Bruch, als Wahn, als "Abdriften" oder "Reinschlittern" begriffen werden konnte.   Barbara Sichtermann (die wahrlich berufen ist, eine Rezension über dies Buch zu schreiben, denn ihr Mann Peter Brückner befasste sich schon Ende der 70er Jahre eingehend mit den sozialpsychologischen Aspekten, die die RAF hervorgebracht hatten und speziell mit der Befindlichkeit in der Bundesrepublik, die den Werdegang Ulrike Meinhofs umgab)

Menschen wie Anders Behring Breivik und Ulrike Meinhof sind wie Indikatorpflanzen des Zeitgeists. 


Zwischen Bettina Röhl und Jutta Ditfurth flirrt er: such stuff as dreams are made on.


Angela Merkel, sei an dieser Stelle bemerkt, hat einige entscheidende Gemeinsamkeiten mit Gudrun Ensslin. Es handelt sich bei beiden nicht nur um Pfarrerstöchter, sie haben auch beide eine sehr ähnliche Vorstellung davon, was sich für das deutsche Volk geziemt. Sozusagen zwei gewichte Argumente für das Zölibat. 

Jutta (von) Ditfurths Buch über Ulrike Meinhof bleibt lückenhaft. Es fängt schon damit an, dass die akkurat beschriebene Befreiung Andreas Baaders plötzlich unplausibel und unglaubwürdig wird, wo, nach einem Gerangel und Schusswechsel Baader und seine Entführer aus dem Fenster in den Garten flüchten und wir über die nicht hinter ihnen her schießenden Wachtmeister nichts weiter erfahren, als dass niemand bei dem Schusswechsel und Gerangel verletzt wurde. Wurden die Wachtmeister entwaffnet? Gefesselt? Legte man ihnen Handschellen an? Hatten sie ihre Munition ohne einen einzigen Treffer verschossen??

Man erfährt definitiv mehr, als man erfuhr, wenn man Spiegel, stern, Konkret oder FAZ zu dieser Sache konsultierte. Aber auch beim Lesen von Juttas Beschreibung bleibt das unbefriedigende Gefühl, verarscht worden zu sein, weil ein wichtiger Baustein fehlt und nicht einmal ein erklärender Satz fällt, der dieses Versäumnis rechtfertigen könnte. Es sind die üblichen blinden Flecken in der Wahrnehmung, an die man in der BRD seit ihrem Bestehen gewöhnt wird und die ich seit langem satt habe.

Aber dieses Buch ist dennoch eine lohnende Lektüre!! Selten wird so anschaulich, wie Leute wie Merkel und Harald Lesch (und generell die "Prominenten" dieser BRD) ticken. Besonders Harald Lesch kann - sozusagen mentalitätsgeschichtlich - quasi als Bindeglied zwischen Hoimar und Jutta Ditfurth angesehen werden. Und gerade die blinden Flecken sind eloquent, insofern sie dank der Akribie, mit der Jutta recherchiert hat, viel seltener sind als bei unseren Medien üblich: Man erkennt sie leichter und spürt deutlicher, wie wesentlich sie sind.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.