Stationen

Samstag, 15. Juli 2023

Taedium

 

Sehr spät habe ich angefangen, über Sinnfragen nachzudenken, was damit zu tun hat, dass für mich der Sinn des Geschehens immer eine Selbstverständlichkeit war. Diese Selbstverständlichkeit den (in meinen Augen) Verirrten mitzuteilen, war immer mein Hauptproblem und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens machte ich die Erfahrung, sehr oft missverstanden zu werden, selbst dann, wenn ich mich bemühte, mich so unmissverständlich wie möglich auszudrücken. Zweitens beobachtete ich im Lauf der Zeit, dass Missverständnisse in einem Ausmaß verbreitet sind, dass es immer wieder erstaunlich ist, wie gut trotzdem alles klappt, obwohl ganze Denkschulen entstehen, die ständig aneinander vorbeireden.

Erst als ich endlich die Zeit fand, um Carl Friedrich von Weizsäckers "Die Tragweite der Wissenschaft" endlich zu lesen, entdeckte ich, dass zur menschlichen Natur nicht nur das Bedürfnis nach Bedeutung und Sinn gehört, das Frankl sehr richtig als zentral erkannt hat, sondern auch der Überdruss gegenüber Gewissheit schenkendem Sinn. Das kopernikanische Weltbild setzte sich nämlich nicht deshalb durch, weil es genauere Resultate ermöglichte (im Gegenteil, es dauerte noch 100 Jahre, bis sie tatsächlich genauer wurden), sondern weil man des alten Weltbildes überdrüssig geworden war, gerade weil es in der Lage war in hohem Maße sinngebend zu sein. Jeder halbwegs intelligente Mensch kennt das Gefühl des Unbehagens und Misstrauens, das in ihm aufsteigt, wenn ein Narrativ, eine Theorie allzu schlüssig zu sein scheint und auf jede Frage eine Antwort parat hält und so den Wunsch in einem weckt, dies Narrativ, diese Theorie zu widerlegen, zu "falsifizieren", wie Popper es nennt. Die Gewissheit, dass die Schöpfung unvollkommen und der Mensch unzulänglich ist, weckt Misstrauen gegenüber bestimmten Formen der Perfektion.

Noch erstaunlicher ist, dass sich die neolithische Revolution ereignete. Denn für die meisten Menschen bedeutete die Einführung der Landwirtschaft keineswegs eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, im Gegenteil, eine enorme Verschlechterung war die Folge, und zwar für Hunderte von Jahren! Man kann quasi von organisierter Sinnlosigkeit sprechen: Durch die Sesshaftigkeit entstanden sofort enorme Hygieneprobleme. Hinzu kam, dass sämtliche zur Verfügung stehende Arbeitskräfte einer Siedlung gefordert waren, um das Überleben zu sichern. Jagdtechniken, die der Mensch in Jahrhunderttausenden erworben hatte, waren bald vergessen, denn dafür war keine Zeit mehr. Problematisch war nicht nur die Gefahr von Unwettern und Trockenperioden, wodurch Ernten (und die Aussaat für das nächste Jahr) gefährdet wurden, sondern dass Mangelernährung zwangsläufig zur Normalität wurde, denn Jahrhunderte lang wurde kein Vieh gezüchtet, sondern nur Ackerbau betrieben. Als endlich Vieh domestiziert worden war, handelte es sich um Milchvieh, dass erst dann geschlachtet wurde, wenn die Milchleistung nachließ. Die Mangelernährung, zu der es zwangsläufig durch die vorwiegend vegetarische Ernährung kam, führte sogar dazu, dass sich in der Gegend des "fruchtbaren Halbmondes" hellhäutige Menschen durchsetzten, die den durch Fleischmangel entstandenen Vitamin-D-Mangel dadurch ausgleichen konnten, dass die im Vergleich zu Afrika geringere Sonneneinstrahlung ausreichte, um genügend Vitamin D in der Haut zu bilden. Mit der Landwirtschaft breitete sich ab 8000 vor heute auch die Hellhäutigkeit in Europa aus.

Die Triebfeder dieser Entwicklung kann also nicht, wie man ohne Kenntnis dieser Tatsachen anzunehmen neigt, eine Verbesserung der Lebensverhältnisse gewesen sein, obwohl ein sicheres Dach über dem Kopf eine feine Sache ist. Die Triebfeder muss ein Traum gewesen sein. Nicht the american dream, sondern a neolithic dream. Ein Traum, über den wir nie etwas erfahren werden. Wir wissen nur, dass in Göbekli Tepe 11000 Jahre vor heute bereits Nomaden Monumente errichteten, um sich zu kultischen Feiern zu treffen und dass bei diesen traditionellen religiösen Zusammenkünften wahrscheinlich Bier getrunken wurde. Und irgendwann setzte ein neuer Menschheitstraum eine Entwicklung in Bewegung. Der Überdruss ist eine anthropologische Eigenheit, den der Homo erectus nicht kannte. Dieser Mensch war von Prometheus mit dem Feuer beschenkt worden und er brachte es von Afrika bis nach Ostasien. Aber er war so phantasielos, dass er in einer Million Jahren nicht mehr zustande brachte als immer nur dieselben ewig gleichen Faustkeile und Speerspitzen. Der Überdruss ist ein Merkmal des Homo sapiens.


Das menschlichste aller Bedürfnisse des Menschen sei, so sagt Herr Frankl, das Bedürfnis nach Sinn. Dem kann ich zustimmen, allerdings etwas zögerlich, denn es gibt noch ein anderes sehr menschliches Bedürfnis, das mindestens das zweitmenschlichste ist, wenn nicht gar das allermenschlichste: das Bedürfnis nach einem Zeugen, nach jemandem, von dem man nicht übersehen wird. Es gibt Menschen, die so einsam sind, dass nur Gott dieses Bedürfnis stillen kann. Zum Beispiel Dante Alighieri. Ich bin mir sicher, der gute Frankl würde mir, unter vier Augen, zustimmen.

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