Verfolgt man die aktuelle Diskussion über das Unheil, das unter Federführung der Wissenschaft stattfindet und geplant ist, bekommt man bisweilen den Eindruck, es ginge vor allem darum, die Wissenschaft, statt der Menschen zu retten. Leidenschaftlich wird darüber gestritten, was als wissenschaftlich und was als unwissenschaftlich zu gelten habe. Es wirkt wie ein Streit unter Priestern um die Deutungshoheit über ihre Religion. Dabei ist in Vergessenheit geraten, dass ein kluger Mann bereits ein weises Urteil gesprochen hat. Es lautet, dass die Wissenschaft selbst unwissenschaftlich sei. Dieser Mann war der Wissenschaftsphilosoph Paul Feyerabend, der am 13. Januar vor hundert Jahren in Wien geboren wurde. Seine Urteilsbegründung lautet folgendermaßen: Sofern Wissenschaftlichkeit in einer einzigen übergreifenden Methode begründet liegt, ist die Wissenschaft als solche unwissenschaftlich, denn diese Methode gibt es nicht. Letzteres wird in der modernen Wissenschaftstheorie inzwischen weitgehend anerkannt. Der aktuelle politische Streit um die Wissenschaft wird aber heute noch oft mit Verweis auf die wissenschaftliche Methode geführt. Motto: „So funktioniert Wissenschaft!“ Oder auch nicht. Man könnte dies aber auch einfach sein lassen und sich wichtigeren Dingen widmen.
Genau das hatte Feyerabend schon vor vielen Jahrzehnten gefordert, und das macht ihn auch wieder aktuell. Damals war er nicht nur aktuell, sondern ein Star und gleichzeitig eine Hassfigur. Der Kultstatus, den er erlangte, wirkte sich nicht günstig für ihn aus. Wegen seines exzentrischen Auftretens und gepfefferten Schreibstils galt er in Fachkreisen lange Zeit als unseriös. Doch die Liste der Universitäten, an denen er lehrte, ist so lang wie die Liste der Geistesgrößen und wissenschaftlichen Lichtgestalten, mit denen er befreundet war. Weltberühmt wurde er mit seinem 1975 erschienenen Buch „Against Method“, welches jenen Slogan enthält, der ihn für den Rest seines Lebens verfolgen sollte: „Anything goes.“ Das Buch war ein Riesenerfolg, weit über akademische Kreise hinaus. Die Reaktionen darauf stürzten ihn jedoch in tiefe Depression, er fühlte sich grob missverstanden. Kritiker wie Fans glaubten, er sei ein Irrationalist, der jegliche wissenschaftliche Regel, jegliche Vernunft und Rationalität ablehnt und munteres Chaos fordert. Das war allerdings Unsinn. Feyerabend argumentierte messerscharf anhand von historischem Material, dass wissenschaftliche Methoden bloß eingeschränkte Gültigkeit haben können. Wissenschaftler verwenden sie in der Praxis als Daumenregeln, müssen sie aber oft missachten, um zu Erkenntnissen zu gelangen. „Anything goes“ war nicht Feyerabends Slogan; es war eine ironische Formulierung dafür, dass eine einheitliche Metamethode in der real praktizierten Wissenschaft nirgendwo zu finden sei. Für ihn ergab es einfach keinen Sinn, die Theorie mit aller Gewalt gegen den Strich einer pragmatischen Praxis zu bürsten.
Feyerabend war weder gegen Rationalität noch gegen Vernunft als solche. Er war gegen jede Form der Tyrannei. Wahrgenommen wurde er aber als verrückter Professor der „Gegenaufklärung“. Es ist zurzeit jedoch sehr aufklärerisch, dem Beispiel Feyerabends zu folgen und vermeintlich irrationale, als esoterisch verpönte Praktiken gegen die offiziell als wissenschaftlich anerkannten in Stellung zu bringen. Wer sich über Regentänze der Hopi aufregt, weil sie nichts bewirken, sollte die eigenen Veitstänze des blanken Irrsinns nicht aus den Augen verlieren, die er mit der Parole „Follow the Science“ selbst aufführt. Der Regentanz drängt sich heute als kostengünstige Alternative zu wissenschaftlich begründeten Klimaschutzmaßnahmen geradezu auf. Beides dürfte etwa gleich wirksam sein – mit leichtem Vorsprung des Regentanzes. Regentänze halten sportlich fit, während Klimakleben nur das Sitzfleisch verfettet. Sehr aktuell und zwingend logisch ist auch seine Auffassung, dass ein weltanschaulich neutraler Staat auch die Wissenschaft nicht bevorzugen dürfe. Wissenschaft müsse vom Staat getrennt werden. Diese Forderung hat jüngst der Philosoph Michael Esfeld aufgegriffen und in seinem Buch „Land ohne Mut“ in eine konkrete Utopie integriert.
Es lohnt sich in vielerlei Hinsicht, Feyerabend erneut zu lesen. Wie der mit ihm eng befreundete Philosoph Paul Hoyningen betont, war er nicht nur ein liebenswerter Mensch, sondern vor allem ein großer Denker. Keiner konnte ihm was, außer dem bösartigen Hirntumor, der seinem Leben ein Ende setzte. Feyerabend hat niemals Phrasen gedroschen, auch nicht mit den letzten Worten seiner Autobiografie. Halbtot vom Krankenbett aus diktierte er die anmutig rührenden Worte: „Das ist es, was ich mir wünsche: nicht dass mein Geist weiterlebt, sondern allein die Liebe.“ Wir werden seinesgleichen nie mehr erleben! Er war „one of a kind“.
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