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Sonntag, 28. Januar 2024

Lest Fernau, Leute!

Aber lest ihn bitte mit Verstand. Das wichtigste Versäumnis seines Preußenbuchs ist, dass er die Tatsache, dass die Hohenzollern Calvinisten, das Volk aber lutherisch war, nicht einmal streift, mit keinem Wort erwähnt. Ein doppeltes Versäumnis, insofern er das Wissen darüber ja nicht als selbstverständlich bei Erscheinen seines Preußenbuchs voraussetzen konnte, sondern das Schweigen über etwas Beschwiegenes seinerseits fortsetzte. Diese merkwürdige Situation (unter der Paul Gerhardt sehr zu leiden hatte) wird im Schulunterricht (sei es in Religions-, Geschichts- oder Deutschunterricht) ebenfalls nicht gebührend unter die Lupe genommen und wurde es offenbar schon früher nicht, denn das Publikum, für das Fernau damals schrieb, war ebenfalls nicht darüber im Bilde. 

Eine weitere Schwäche des Preußenbuchs besteht darin, dass der genialisch geniale Salomon Maimon nicht darin erwähnt wird, obwohl seine Lebensgeschichte wie ein lichtbrechendes Kristall die Epoche Kants (und Goethes, der Salomon Maimon würdigte und mit Schiller die Lektüre eben jener Lebensgeschichte empfahl) sichtbar macht. Ja selbst Moses Mendelssohn wird von Fernau einfach übergangen.

Lest auch Sebastian Haffner, Wolfgang Venohr, Jochen Klepper und Ernst Niekisch, wenn das Thema Preußen ist. Vor allem aber Fontane! Besonders sein "Das Oderland"!! Aber auch "Katz und Maus" von Günter Grass.

Lest Fernau, wenn es um Deutschland geht, aber lest auch Siegfried Lenz, Carl Schmitt und vor allem Peter Watson! 

Fernau schrieb auch ein anregendes "Lexikon der alten Malerei", das in mehrerlei Hinsicht vorbildlich geschrieben ist. Aber es enthält auch groteske Fehlinterpretationen, wie mir den Portinari-Altar betreffend auffiel, da dieses Meisterwerk zu meinen Lieblingsbildern in den Uffizien gehört.

Dieses Bild wird vom Erscheinen der drei Hirten dominiert. Sie allein sind realistisch dargestellt, geradezu fotorealistisch, perfekt perspektivisch gemalt, nach den neuesten Regeln der Renaissancemalerei, und symbolisieren die hereinbrechende, neue Zeit. Aber gleichzeitig repräsentieren sie archaisch den Ursprung des Christentums, den Stall, die rurale, stinkende Primitivität von Jesu Geburtsort, in schärfstem Kontrast zur Himmelskönigin Maria, die nach den Regeln des Mittelalters übergroß (wie eine Ohrfeige gegenüber den Regeln der Perspektive) dargestellt wird; aber hinter der Akelei im Vordergrund, die ein Symbol der 7 Schmerzen Marias ist. Jesus liegt, distanziert, in mitten allen Geschehens, unfassbar, als Vermittler zwischen Marias Erhabenheit und der plumpen Bodenständigkeit der Hirten mit ihrem Stallgeruch. Die Hirten repräsentieren mit geradezu aufdringlicher Ambivalenz also nicht nur die Renaissance, sondern auch die Rückkehr zur mittelalterlichen Frömmigkeit, zur Einfachkeit; diese einfache Primitivität ist symbolischer Nachhall des Mittelalters und gleichzeitig, als damalige Aktualität, existentiell zeitlos. Mit seinem Gespür für das Widerspiel von Existentiellem und Symbolen ist Van der Goes ein Beispiel für außerordentlich redliche und vollständige Wahrnehmung und Wahrhaftigkeit. Dass es ihm mit diesem genialen Bild gelang, seine Wahrnehmung auch sichtbar zu machen, ist ein Glück für die, die in der Lage sind, es zu sehen.

Zu diesen Glücklichen kann man Fernau nicht zählen. Er schreibt über das Bild, das ausdrücklich "Anbetung der Hirten" heißt: "Hugo van der Goes drückt sich in allen seinen Hauptwerken (so in dem berühmten Portinari-Altar "Anbetung der Hirten", Uffizien) für jedes offene Auge deutlich sichtbar in dem Dualismus der zwei Figurengruppen aus, die auftreten: Hier die Gruppe derer, die niemals angeklagt sein werden und keine Furcht zu haben brauchen, Maria, das Christkind, die Engel, die Schwertlilien, sie alle in geringer Körperlichkeit [hier beginnt Fernaus Unsinn: die Körperlichkeit Marias und Josefs ist nicht gering, sondern übergroß; außerdem stehen sie wie verloren im Vordergrund: vor dem Hintergrund der christlichen Botschaft könnte man genau hierin sogar eine Anklage sehen. Ich habe gesagt "könnte"!], dünnblütig, hell, kühl in den Farben [zur Monarchie erkaltetes Christentum, würde ich das nennen; im Mittelalter galt heller Teint als vornehm, man mied die Sonne]; dort aber die Gruppe derer, bei denen sich auch Goes selbst weiß: diese dickblütigen, dunklen, über ihre eigenen Beine stolpernden Menschen, dieses naive, eifrige, vor der Reinheit Gottes so pöbelhafte Menschenvolk. Die Anbetenden und die Angebeteten sind bei Goes zum ersten Mal nicht mehr eine einzige große Familie. [der Satz ist wirklich gut, aber er ist falsch] Es führt keine Brücke zu den Erlesenen hinüber. Oder sollte es wirklich dieses winzige Kindlein sein, vor dem die Hirten, diese Masse Mensch, täppisch und froh ihre Zähne fletschen?"

Ja, genau das sollte es. Und niemand fletscht hier die Zähne, das hat Fernau halluziniert. Einer der Hirten steht staunend mit offenem Mund da, so dass man seine Zähne sehen kann. Mit Zähnefletschen hat das nicht das geringste zu tun, aber sehr viel mit Fernaus Verachtung für die Masse Mensch, die er expressis verbis als Brechmittel bezeichnete: das genaue Gegenteil der Absicht, mit der van der Goes hier malte: Durch Jesu Vermittlung sind die Anbetenden quasi zu Angebeteten geworden. Selig sind die Armen. So wird ein Schuh draus. Manchmal wird leider auch der sensible, gebildete Joachim Fernau zum Repräsentanten des ungebildeten, selbstgefällig johlenden "Bildungsbürgertums".



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