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Mittwoch, 3. Januar 2024

Ernst Jüngers geistiger Vater

 

Dass die ganze Sache nicht auf einen harmlosen Hausbesuch hinauslief, war Johann Georg Hamann bald klar. Spätestens, als er sah, dass sein Jugendfreund Berens nicht allein bei ihm anklopfte. Der Kaufmann und Unternehmer hatte hochkarätige Unterstützung angeheuert: den Philosophen Immanuel Kant. Hamann fühlte sich ob des Besuchs regelrecht in die Zange genommen.

Es war im Sommer 1759, der neunundzwanzigjährige Hamann war gerade aus London nach Königsberg zurückgekehrt, und die Besucher, die unerwartet bei ihm erschienen, verfolgten eine klare Absicht. Sie wollten, dass Hamann dem grossen Projekt der Zeit nicht verlorenging: der Aufklärung. Der Kollege, der aus ihrer Sicht auf religiöse Abwege geraten war, sollte wieder an eine nützliche Tätigkeit herangeführt werden. Und zwar durch das Übersetzen von Artikeln aus Diderots «Encyclopédie».

Das war als eine Art Fingerübung in Sachen Aufklärung gedacht. Eine Kur gegen «Schwärmerei», verordnet von zwei aufgeklärten Köpfen. Hamann reagierte mit grimmigem Humor auf den Bekehrungsversuch: «Ich musste beynahe über die Wahl eines Philosophen zu dem Endzweck eine Sinnesänderung in mir hervor zu bringen, lachen», schrieb er im Juli 1759 an Kant.

«Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus» – so nannte Kant einen kleinen Traktat, den er im gleichen Jahr veröffentlichte. Mit Leibniz davon überzeugt, in der besten aller Welten zu leben, blickte Kant optimistisch in die Zukunft. Während des Siebenjährigen Krieges ertrug er die russische Besatzungszeit geduldig und wandte sich sogar mit der Anrede «Allergnädigste Kayserin und grosse Frau!» an Zarin Katharina, um eine an der Albertina frei gewordene Professur für Logik und Metaphysik zu bekommen. Der Versuch scheiterte, doch blieb Kant positiv gestimmt.

Während der Königsberger Philosoph an seiner Karriere feilte, erging es Johann Georg Hamann (1730–1788) weniger gut. Als er 1758 in London, von Berens auf eine verzwickte handelspolitische Mission geschickt, scheiterte, lief sein Leben aus dem Ruder. Geplagt von zügelloser Esslust, Depressionen und Geldnot, wurde die Millionenstadt für ihn zu einem Labyrinth, aus dem er keinen Ausweg mehr fand.

«Ich frass umsonst, ich soff umsonst, ich buhlte umsonst, ich rann umsonst», schrieb er in seinen «Gedanken über meinen Lebenslauf». Hamann schildert darin eine persönliche Erfahrung von abgründiger Tiefe, die er «Höllenfahrt der Selbsterkänntnis» nennt – ein Ausdruck, den Kant 1797 in seiner «Metaphysik der Sitten» aufgriff, nachdem er das «radical» Böse als anthropologische Konstante in seinen Ansatz integriert hatte.

Als Ariadnefaden, um aus seiner labyrinthischen Existenz herauszufinden, erwies sich für Hamann während seiner Londoner Lebenswende ein Buch, durch das er sein Menschsein, seinen Körper und seinen Geist, ganzheitlich angesprochen sah: die Heilige Schrift. Allerdings wird er nicht zum buchstabengläubigen Fundamentalisten, sondern versteht sich in neuer Weise als «Philologe», als «Liebhaber des Wortes vom Kreuz».

Darum protestiert er gegen ein leibvergessenes Verständnis von Rationalität. Gegen eine Vernunft, die vorgibt, die Welt mithilfe der Bauelemente «Klarheit und Deutlichkeit» (Descartes) von Grund auf neu zu konstruieren, und die den Glauben an Gott höchstens in einer Schwundstufe akzeptiert, die dem Atheismus sehr nahe kommt.

In der Radikalität seiner Kritik an der Aufklärung erinnert Hamann an einen anderen unzeitgemässen Denker: Friedrich Nietzsche. Hamann nahm das Zeitalter des Lichts als einen «dunklen Ort» wahr, an dem die Helle der Vernunft nur scheinbar über das Dunkel des Glaubens und des Aberglaubens triumphiert. Er wusste, wie Nietzsche, um das eigentümliche Zugleich von Tag und Nacht, Licht und Finsternis. Und dass der Aberglaube auch der Rationalität eingeschrieben bleibt, wenn man sie nur genau genug betrachtet.

Der Besuch von Kant und Berens bei Hamann hatte Folgen: die Schrift «Sokratische Denkwürdigkeiten», in der sich Hamann kritisch mit dem Rationalismus der Aufklärung auseinandersetzt. Die ungebetenen Gäste, die ihn zwecks Rückbekehrung aufgesucht hatten, werden darin prominent erwähnt, als die «zween, welche mich feyerlich besuchten um mich zur Autorschaft zu verführen». 

Hamann stellt der kleinen Schrift eine doppelte Widmung voran: «An Niemand und an Zween». Dass er das Buch direkt an seine Besucher adressiert, nimmt Søren Kierkegaards Stil «indirekter Mitteilung» vorweg. Der Verfasser wählt den schwierigen Weg, seine Überzeugungen nicht in Form direkter Ansprache darzulegen, sondern seinem lesenden Gegenüber einen Freiraum zu eröffnen, der durch eine existenzielle Entscheidung auszufüllen ist. Das Entscheidende, so Hamanns Überzeugung, geschieht stets auf der Seite der mitdenkenden Leser.

Und «Niemand»? Der Vielleser Hamann, der mit der hebräischen Bibel genauso vertraut war wie mit den antiken Autoren, spielt auf den «Niemand» der «Odyssee» an. Odysseus überlistet den einäugigen Riesen Polyphem, indem er auf dessen Frage nach seinem Namen antwortet, er heisse Niemand – womit er für Polyphem nach seiner Flucht für immer unfassbar bleibt.

Auf eine für ihn charakteristische Weise kombiniert Hamann Erzähltraditionen und erzeugt durch dieses literarische Verfahren eine Art Flickenteppich. «Niemand» erscheint beinahe als mythische Grösse, als eine Art Ungeheuer und Götze, für den eine ganze Priesterkaste bereitstehe, um ihm Opfer darzubringen. Journalisten, Literaten und Skribenten seien völlig damit ausgefüllt, schreibt Hamann, dem Abgott «Publikum» zu Diensten zu sein. Er möchte die «Zween» aus den Fängen des grossen Niemand erlösen oder sie, philosophisch gesagt, aus der Seinsweise des «Man» befreien und zum «Ich» führen.

Mit seinem «dunklen Stil», der zu seinem Markenzeichen wurde, zog Hamann gegen Publikumskult, Ideologisierungen aller Art und friderizianischen Absolutismus zu Felde. Der Denker in der Tradition Martin Luthers identifizierte sich schliesslich mit einem Titel, der eigens für ihn geprägt worden war: Schon von Zeitgenossen wurde der als Packhofverwalter in der Zolldirektion Friedrichs II. tätige Denker als «Magus im Norden» bezeichnet, mit Bezug auf die rätselhaften biblischen Weisen (Magier) aus dem Morgenland.

Dass dieser Sohn eines Baders Texte seiner Gegner und Freunde, von Voltaire, Hume, Herder, Lessing oder Friedrich II. bis zu Moses Mendelssohn und Kant, gleichermassen seiner «Metakritik» aussetzt, imponierte auch der belesenen Fürstin Amalia von Gallitzin. «Ich war von manchen in diesem Buche so betroffen», schreibt sie über die «Sokratischen Denkwürdigkeiten», «dass ich mir nun alle Mühe gab, mir je mehr und mehr Werke von diesem Mann zu verschaffen.»

Im Jahr 1787 gelang es der Fürstin und ihrem Kreis christlicher, meist katholischer Intellektueller, den bereits erkrankten «Magus» zur Fahrt nach Münster zu bewegen – zu seiner allerletzten Reise. Der leidenschaftliche Lutheraner, dessen Wesen der Fürstin «ganz von der Heiligen Schrift imprägniert» erschien, wurde damit zu einem geistlichen Lehrer, in einer Ökumene der besonderen Art. Nachdem Hamann im Sommer 1788 gestorben war, wurde er in Münster beigesetzt.

Johann Georg Hamann bleibt als Denker gegen seine Zeit ein Fixpunkt im Denken der europäischen Aufklärung, auch wenn sein vernunftkritisches Werk heute wieder neu entdeckt werden muss. In Lüneburg wird derzeit das erste Kant-Museum Deutschlands gebaut. Es soll Ende April 2024, zu Kants 300. Geburtstag, eröffnet werden. Das Projekt wird vom Bund und vom Land Niedersachsen grosszügig unterstützt.

Angesichts dessen ist es umso wichtiger, daran zu erinnern, dass Immanuel Kant, der im Sommer 1759 unangemeldet an Hamanns Haustür klopfte, in hohem Mass von den intellektuellen Anregungen des «anderen Königsbergers» profitierte und dass es nicht zuletzt der Antipode Hamann war, der mit seinen Schriften für intellektuellen Streit sorgte.   NZZ


 

 

 

 

 

 

 

 

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