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Donnerstag, 22. Februar 2024

Tellkamp rezensiert Wendt

 Als wir eines Morgens aus ruhigen bundesrepublikanischen Träumen erwachten, fanden wir uns in Wokistan wieder. Regenbogenflaggen wehten von Gebäuden. Ein geschlechtsfluider Autor/Autorin rasierte sich öffentlich die Haare ab und dachte, damit iranische Frauen mutig zu unterstützen. Ein anderer empfahl das Plündern als Mittel zur Beseitigung der bestehenden Ordnung. Haß-und-Hetze-Meldestellen wurden eingerichtet, Universitäten, eigentlich Orte des freien Diskurses, der tabulosen Forschung, schränkten den Diskurs ein, was sie als Vielfalt verstanden, entließen Professoren, deren Meinungen oder Forschungsergebnisse empfindsamen Studenten nicht paßten, machten Kotau vor Jakobinern, die von akademischer Freiheit nichts begriffen. Im Fernsehen wurden afrikanische Wunderfernseher zur Stromerzeugung angepriesen. Als Journalisten getarnte Teufelsaustreiber wallfahrteten in ein Gebiet namens Dunkeldeutschland, um dort aus Erdgrüften und Reichsflugscheiben kletternde Falschdenker mit Bannflüchen wegzuhexen.

Andererseits arbeitet die Cosa Ostra. Polytechnisch gebildet, diktaturerfahren, begriffsscharf. Leser. Übriggeblieben aus den ostdeutschen Geistesschleifanstalten, haben Mai, Mayen, Hinz, Schuler und Wendt von dort nicht die Ideologie (in den späten Jahren der DDR oft nur noch Symbol), wohl aber die streng vermittelten, gründlichen Kenntnisse, das Leistungsethos mitgenommen. Alexander Wendts Buch »Verachtung nach unten« legt davon ein bemerkenswertes Zeugnis ab.

Erste Tugend des Reporters: Neugier ohne Vorurteile. Es gibt nicht mehr viele Reporter. Zweite Tugend: Reporter reisen. Sie wollen ihre Erkenntnisse aus erster Hand. Das vorliegende Buch reist von der Peripherie Europas, der bei Lissabon gelegenen Dampfbucht, einem Ankunftsgebiet der Migranten, ins Zentrum nach Berlin-Mitte, wo sich Staats- und Sinnproduzenten treffen.

Wir alle kennen sie, die Nervensägen aus dem Stuhlkreis der Linken und Grünen, die sich als Erleuchtete verstehen, die wissen, was für Weltall, Erde, Mensch das Richtige ist. Der Weg zu den Sinnproduzenten führt Wendt an den Rand von Leipzig zu einem der anderen, die von den Erleuchteten bespöttelt und verachtet werden: der alte, weiße, ortsgebundene Facharbeiter, Handwerker oder Traktorist, der nur zwei Geschlechter, aber einen lächerlichen DFB kennt, Steuern zahlt, falsch denkt und wählt und, um das Klischee rund zu machen, natürlich Ossi ist.

Er heißt zum Beispiel Wolfram Ackner, ist Schweißer, war in der Wendezeit Metal-Punk, hat drei Töchter, schreibt, unter anderem für die Achse des Guten, hat unzählige Baustellen von Norwegen bis Südafrika gesehen, in Dreißigstundenschichten Havarien wegmalocht; er weiß, was Arbeitsanfahrten von mehreren Stunden bedeuten, und grüne Energiegesetze für ein nicht abbezahltes, zur Alterssicherung gedachtes Haus.

Der Vertreter jener Helden, die 1933 verhindert hätten, heißt Tadzio Müller, Protest-Entertainer, Aktivist, Vordenker der Letzten Generation, Mitgründer der Bewegung »Ende Gelände«, Eigentumswohnung in Berlin, vom »Blutgeld« des Vaters bezahlt, der in der Chicagoer Großkanzlei (13000 Angestellte) Baker McKenzie arbeitet. Tadzio Müller nennt Menschen, die Stabilität und Überschaubarkeit der eigenen Lebensverhältnisse wollen, Normalextremisten. In den Nachrichten kommen sie kaum vor – wenn, dann in der Regel abfällig: Die würden Trump wählen, im Osten die AfD, gehen zu Pegida statt ins BE zu einem Stück gegen rechts und für die Regierung. Nicht einmal den Qualitätsverschwörern von Correctiv trauen sie. Denen die Qualitätsmedien von taz bis FAZ und eine Million Qualitätsdemonstranten auf Fingerschnipp zu Füßen liegen. Und wie die reden, diese Querdenker, Schwurbler, Rechtsextremen. Das sind keine Demokraten, die sind von gestern, begreifen nicht, was die Zukunft will.

Verachtung nach unten: Wendt erforscht ihre Mechanik wie ein Zoologe Inselfinken. Gründlich, wie er ist, sucht er den Kern der Erscheinungen. In der woken Herrschaft geben Leute wie Müller den Ton an, Gefühl, Moral und Gruppenzugehörigkeit schlagen jedes noch so sorgfältige Argument, jede Zahl und Statistik, ein bestimmtes Wahrnehmungssystem ist nicht mehr von einem anderen durchdringbar. Mit den Erwachten verbindet (und verbündet) sich eine global orientierte Wirtschaftskaste.

Die westliche Gesellschaft an sich gerät in Wendts Blick. Was ist Identität? Was ist ein Bürger? Wendt untersucht das in einem glänzenden Kapitel, dem siebenten. Hochinteressant seine Ausführungen zu dieser für den Westen charakteristischen Sozialfigur. Ist Gewaltenteilung selbstverständlich? Worin unterscheiden sich, grundsätzlich, Bibel und Koran, die Kultur des Westens von der des Islam? Sind sie vereinbar? Was passiert hier, in Deutschland, und allgemein im Westen? Das Märchenreich am Rhein, die alte Bundesrepublik, die Freiheit, Läßlichkeit und (erkauften) Frieden mit beispiellosem Wohlstand verband, versinkt hinter dem Horizont der Zeit. Formal ist alles noch da: Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, aber das Gefühl, daß es sich dabei um Kulissen handelt, hinter denen spätestens seit der Migrationskrise von 2015 anderes wirkt, ist verbreitet.

Das Buch hat acht Teile, sie kreisen wie wachsende Ringe um das Rätsel, was diese neue Gesellschaft ist und woher sie kommt. Deutlich wird, daß eine Gesellschaft nur dann stabil ist (und bleibt), wenn es ein Recht gibt, das zwischen Moral und Gesetz, zwischen Richter, Anklage und Verteidigung unterscheidet. Es stellt sich auch die Frage nach der Zukunft des Westens unter einer Ideologie, die eine Zivilgesellschaft mit NGO-Spitzeln, Treibjagden auf Abweichler zum Fortschritt, Verbotsprediger zu Wohltätern, ausufernde Bürokratie für Freiheit, den Schritt hinter die Aufklärung als progressiv erklärt.

Hannah Arendt schrieb, die größte Gefahr in der Moderne gehe vom Verlust der Wirklichkeit aus. Dauerhaft läßt sie sich nicht verdrängen. Das stimmt dann doch verhalten optimistisch.   Uwe Tellkamp

Alexander Wendt, Verachtung nach unten. Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht – und wie wir sie verteidigen können. Olzog-Edition im Lau-Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 372 Seiten, 26,00 €.
Erscheint am 29. Februar 2024. Jetzt vorbestellen!


 

 

 

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