Stationen

Freitag, 15. Januar 2021

De gustibus

Die Auffassung, Geschmack sei etwas Subjektives und quasi ein Menschenrecht, hat dazu geführt, dass der Kunstgeschmack zerstört worden ist. Durch sie sind sämtliche Kriterien abgeschafft oder für überholt erklärt worden, und heute fühlen sich viele Menschen beispielsweise von Bildern emotional angesprochen, ohne recht erklären zu können, warum eigentlich und warum es sich stets um solche Werke handelt, deren Produzenten bei den Lautsprechern des Zeitgeistes hoch im Kurs stehen. (“Doch bei näherer Betrachtung/Wächst mit dem Preise auch die Achtung”). Der Geschmack folgt Kriterien und muss geschult werden; der subjektive Geschmack indes gehorcht Moden und ist im Handumdrehen da. Bezeichnenderweise kehren die Besucher moderner Vernissagen den Ausstellungsstücken – die man amüsanterweise “Arbeiten” nennt, obwohl ihre Herstellung kaum noch Arbeit erfordert – nach kurzer Zeit den Rücken zu, um mit den anderen Sichabwendern ins Gespräch zu kommen. Wozu sollte jemand auch einen auf vier, sechs oder zehn Quadratmetern Leinwand verteilten Haufen von Farbklecksen länger anschauen? Einen Vermeer indes, nehmen wir die Milchmagd mit ihren 45 mal 40 Zentimetern, kann man ein Jahr lang studieren. Allein der Nagel in der Wand zu Häupten der Dienstmagd ist mehr wert als der gesamte Cezanne. Gegenwartskunst nennt man deswegen ‘Arbeiten’, weil eine Festlegung auf Gemälde, Skulptur oder Plastik gar nicht mehr möglich ist, da bildende Kunst und Kunstgewerbe zu einem un(unter)scheidbaren Amalgam verschmolzen sind. Dort wo nach Beuys ‘jeder Mensch ein Künstler’ ist, darf auch jeder erdenkliche Mist als Kunst gelten. Diesem Irrsinn geht aber voraus, dass der Kritiker vor circa 100 Jahren die Fronten wechselte, indem er vom Lager des Rezipienten in das des Produzenten hinüberging. Augenscheinlicher Müll und Unrat ist dann Kunst, wenn der berufene Kritiker den Plunder heiligt und den Zuschauer belehrt oder notfalls für dumm erklärt. Hierzu eine utschland der 60er Jahre, der mit dieser Art von – nennen wir es wohlwollend ‘Lärm’ (das ist die Bezeichnung, die mir am wenigsten pejorativ erscheint) – auch jahrzehntelang gut verdient hat, hat in den 90ern das Angebot der Friedrich-Dürrenmatt-Stiftung in der Schweiz erhalten, er möge doch einige Tage in Dürrenmatts Haus verweilen und anschließend in der Aula das Hauses über Dürrenmatt freejazzig improvisieren. Gesagt, getan, mein Stiefvater hat einige Tage in Dürrenmatts Haus gewohnt, in Dürrenmatts Bett geschlafen, in Dürenmatts Badewanne gebadet und anschließend in Dürrenmatts Haus diese Eindrücke musikalisch dargeboten.

Was die versammelten Kunstgourmands nicht wußten: Er hatte keine, absolut keine Idee, keinen Einfall, was sich aus diesen Tagen exprimieren ließe und hat – seine Worte – ‘einfach irgendeinen Scheiß’ gespielt.
Und raten Sie mal, wie die Kunstkennerszene darauf reagiert hat.
Frenetisch.
Er hätte Dürrenmatt so realistisch dargestellt, so sehr im Kern getroffen, man war schlichtweg begeistert.
Diesen Menschen ist nicht zu helfen.”

Wer glaubt, diese Sektiererei könne nur im Bereich der Kunst so hochtrabend triumphieren, irrt sich, denn seit geraumer Zeit passiert es auch in den Halb- und Scheinwissenschaften wie der Biologie, der Klimatologie, der Ernährungswissenschaft, der Psychiatrie, den alternativen Heilpraktiken und sogar der Allergologie (selbst die Schulmedizin faselt immer noch davon, Allergien nähmen wegen Umweltverschmutzung zu, obwohl es längst widerlegt wurde). 

Man stelle sich vor, ein Wein- oder Gastrokritiker würde versuchen, die Leute so hinters Licht zu führen! Oder lieber doch nicht, ich befürchte, auch das wird uns nicht erspart bleiben. Spätestens wenn die erste Currywurst aus Insektenlarven gefertigt wurde.

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