Der erste Ausgestoßene dieser Woche ist Harald Martenstein. Der Journalist wurde letzten Sonntag mit einer Schere geradezu klinisch aus dem Tagesspiegel entfernt und einer Mülltonne überantwortet. Martenstein ist ein regelmäßiger und von vielen Lesern geschätzter Kolumnist. Und ebenjene Zeitung findet das gut. Und der Deutsche Journalistenverband (DJV) auch! Doch der Reihe nach.
Ein Achgut.com-Leser wies mich am Montag per E-Mail darauf hin, dass der Nutzer @musichistorylaw am 22. November 2020 folgendes auf Twitter gepostet hatte:
„Meine Frau arbeitet für ein Supermedium mit tollen Kolleg*innen, die sich jeden Tag kaputt schuften, um hochwertige, ausgewogene Information zur erarbeiten.
Ich lass mir den @Tagesspiegel nicht mehr kaputt machen von diesem verblendeten alten weißen „Gauland mit Sprachkompetenz“"
Bebildert ist der Post mit Fotos von einem Menschen, der mit einer Schere eine Kolumne von Harald Martenstein aus einer Printausgabe des Tagesspiegel ausschneidet und in eine Mülltonne wirft.
Das ist erst einmal nicht besonders bemerkenswert. Solche kindischen, theatralischen Inszenierungen ist man von „Linkstwitter“ gewohnt. Sehr interessant und aufschlussreich ist aber, wer alles diesen Post „geliked“ hat. Der Leser, der mir den Hinweis zusandte, hat mit einem Screenshot belegt, dass der Post zunächst vom offiziellen Twitter-Account des Tagesspiegel mit einem Herzchen versehen wurde. Dieser Like ist mittlerweile rückgängig gemacht worden. Im „Herzchenregister“ weiterhin sichtbar sind aber (Stand 25.11.2020, 16 Uhr) Likes vom offiziellen Account von „Tagesspiegel Sonntag“, sowie von zahlreichen Tagesspiegel-Mitarbeitern (z.B. von Stefan Jacobs und Constanze Nauhaus, beide nach eigenen Angaben „Berlin-Redakteure“ bei dem Blatt).
Pikant: Auch der offizielle Twitter-Account des Deutschen Journalistenverbands (DJV) hat den betreffenden Post mit einem Herzchen versehen. Bei der größten Journalisten-Organisation nicht nur Deutschlands, sondern Europas (Wikipedia) findet man es also offenbar gut, wenn ein unliebsamer Journalist nach Art von Väterchen Stalin ausgetilgt wird. Wie man in England sagt: „You’ve got some explaining to do.“
Einige Mitarbeiter hätten sogar geweint
Bei Penguin Random House Canada ist indessen ebenfalls die Hölle los. Der Verlag ist einer von drei Verlagen der multinationalen Penguin Random House Gruppe, die im März 2021 Jordan B. Petersons Sachbuch „Beyond Order: 12 More Rules for Life“ herausbringen wollen. Peterson ist ein kanadischer Psychologieprofessor, der erstmals 2016 international Bekanntheit erlangte, weil er sich einem kanadischen Gesetz über Transgender-Rechte widersetzte, das aus seiner Sicht die Redefreiheit verletzt. Als Redner, YouTuber und Buchautor erreicht er mittlerweile ein Millionenpublikum. Leser der Achse des Guten kennen seine wöchentlich ins Deutsche übersetzten Beiträge unter dem Kolumnentitel „112 Peterson“.
Offenbar ist die Person Peterson so kontrovers, dass zahlreiche Penguin-Random-House-Mitarbeiter gegen das Buchprojekt Sturm laufen. Wie „Vice“ berichtet, verkündete der Verlag (der 2018 bereits Petersons Bestseller „12 Rules for Life: An Antidote to Chaos“ herausbrachte) die Entscheidung am Montag in einem sogenannten „Town Hall Meeting“, also einer Präsentation der Geschäftsleitung mit anschließender Diskussion. Dabei sei es sehr emotional zugegangen. Eine Mitarbeiterin habe davon erzählt, wie Peterson ihren Vater „radikalisiert“ habe, und ein weiterer Angestellter habe die Sorge geäußert, die Buchpublikation könne negative Konsequenzen für einen „nicht-binären“ Freund haben (also einen Freund, der sich weder als Mann noch als Frau fühlt). Einige Mitarbeiter hätten sogar geweint. Die Leiden der jungen Kreativwirtschaftler ...
Laut Vice erhielt das Diversitäts- und Inklusions-Komitee des Unternehmens (ja, so etwas gibt es) mehr als 70 anonyme Rückmeldungen von Mitarbeitern zu dem Vorhaben, die meisten davon negativ. Offenbar scheinen zahlreiche Angestellte des Verlags zu glauben, dass Peterson seinen Fans irgendwie rechtsextreme Positionen nahebringt. „Er ist für die Radikalisierung verantwortlich, er hat den Aufstieg von Alt-Right-Gruppen, insbesondere auf Uni-Campussen, verursacht“, zitiert Vice eine Mitarbeiterin. „Er ist eine Ikone der Hassrede und der Transphobie, und die Tatsache, dass er eine Ikone von ‚White Supremacy‘ ist, macht mich unabhängig vom Inhalt seines Buchs nicht stolz, für eine Firma zu arbeiten, die ihn veröffentlicht“, sagt eine weitere, die sich offenbar überhaupt nicht mit den Positionen Petersons auseinandergesetzt hat.
Bekannt für seine Ablehnung von politischem Extremismus
Sonst wüsste sie, dass Peterson sich in keinem Vortrag und in keiner Zeile seiner Schriften jemals nationalistisch oder gar rassistisch geäußert hat. Tatsächlich hassen ihn viele Rechtsextreme, weil er als selbstbezeichneter „klassischer Liberaler“ und Befürworter des Individualismus jede Form von „Identitätspolitik“ – also auch die von Rechts – ablehnt und „das Rassenthema nicht konfrontieren will“, wie der Vordenker der weiß-suprematistischen Alt-Right-Bewegung Richard Spencer es ausdrückt.
Peterson ist auch bekannt für seine Ablehnung von politischem Extremismus. In seinen Vorträgen und Videobeiträgen versucht er immer wieder, gerade junge Männer von den politischen Rändern wegzulotsen. Das weiß auch Penguin Random House. Peterson habe „Millionen Menschen geholfen, die an den Rändern der Gesellschaft sind und ansonsten von Alt-Right-Gruppen radikalisiert worden wären“, zitiert Vice die Verlagsvertreterin Anne Collins.
Theatralische Proteste in der Verlagsbranche können leider ernste Folgen haben. Im März dieses Jahres entschied das US-Verlagshaus Hachette, eine Autobiographie von Woody Allen nicht herauszubringen, nachdem Mitarbeiter aus Protest gegen das Vorhaben die Arbeit niedergelegt hatten. Gegen den Regisseur und Schauspieler gibt es seit Jahrzehnten Missbrauchsvorwürfe, die jedoch nie stichhaltig belegt wurden oder zu irgendeinem Strafurteil geführt haben. Ein klarer Fall von Cancel Culture. In Sachen Peterson ist laut Vice im neuen Jahr ein weiteres, größeres Meeting bei Penguin Random House Canada geplant. Tipp an die Belegschaft: Vielleicht bis dahin mal die Unterschiede zwischen liberalen und rechtsextremen Weltanschauungen recherchieren. Ist mindestens genauso interessant wie das letzte Gender-Seminar an der Uni, versprochen!
„Rundumschlag der Diskriminierung“
Eine Kontroverse gab es diese Woche auch um den Bürgermeister der niedersächsischen Samtgemeinde Sickte, Marco Kelb. Der CDU-Politiker hatte vor etwa drei Wochen auf einen Twitter-Post des WDR-Moderators Georg Restle, in dem dieser „mehr Diversität“ im deutschen Journalismus forderte, geantwortet:
„Dann räumen Sie doch Ihren Platz für eine dunkelhäutige muslimische Transfrau mit Wurzeln in Simbabwe und Dänemark! Schon herrscht mehr Diversität bei [sic!] WDR!“
Nun fordert der SPD Landesverband Niedersachsen den Rücktritt des Bürgermeisters. „Ich bin erschüttert über die Aussagen“, zitiert ndr.de die kommissarische Generalsekretärin der SPD Niedersachsen, Hanna Naber. Der Tweet sei ein „Rundumschlag der Diskriminierung“. Kelb verhöhne den Einsatz gegen Rassismus. Neben einem „sofortigen Rücktritt“ forderte Naber laut ndr.de eine „eindeutige Distanzierung“ durch den Landesverband der CDU. Auch Marcus Bosse, SPD-Chef des Landkreises Wolfenbüttel, zu dem Sickte gehört, habe Kelbs Äußerungen verurteilt.
Laut ndr.de hat der im Frühjahr gewählte Bürgermeister die Rücktritts-Forderungen zurückgewiesen. Seine Äußerung sei sarkastisch gemeint gewesen. Er habe mit dem Tweet sein Unverständnis ausdrücken wollen, dass Merkmale wie Geschlecht, sexuelle Orientierung oder Herkunft Leitkriterien für die Zusammensetzung von TV-Redaktionen sein sollen. Stattdessen solle sich die Personalauswahl streng nach den Kriterien Eignung, Befähigung und Leistung richten.
Den gesamten Twitter-Account gelöscht. Ob das reicht?
Soweit, so nachvollziehbar. Damit müsste die Sache eigentlich erledigt sein. Aber in der heutigen Zeit muss man meist noch ein paar Kotaus machen, um wieder in den Kreis der Guten und korrekt Denkenden aufgenommen zu werden. Laut ndr.de hat Kelb bereits erklärt, dass er den Kommentar so nicht noch einmal machen würde, und seinen gesamten Twitter-Account gelöscht. Ob das reicht?
Auf einen weiteren Ausgestoßenen der Woche macht „Spiked“ aufmerksam. Laut dem britischen Online-Magazin ist der verstorbene Dichter, Übersetzer und Kinderbuch-Autor Ted Hughes kürzlich zu einem Dossier der britischen Nationalbibliothek „British Library“ hinzugefügt worden, welches persönliche Verbindungen von Autoren zu Sklaverei und Imperialismus dokumentiert. Der Grund: Hughes hatte einen im Jahr 1592 geborenen Vorfahren, der aufgrund seiner Arbeit für die London Virginia Company mit dem Kolonialismus in Nordamerika zu tun hatte. Laut Spiked hängt das akribische Dokumentieren solcher Verbindungen mit dem im Sommer dieses Jahres ausgegebenen Ziel der British Library zusammen, eine „aktiv anti-rassistische Organisation“ zu sein.
Ted Hughes selbst lebte von 1930 bis 1998 und war bis zu deren
Selbstmord mit der feministischen amerikanischen Autorin Sylvia Plath
verheiratet. Sein Vater betrieb laut Spiked einen Tabakladen. Während
des Studiums habe Hughes aufgrund seiner bescheidenen
Familienverhältnisse ein Stipendium erhalten. Wie genau der Autor von
den moralisch fragwürdigen Tätigkeiten seines mehr als 300 Jahre früher
geborenen Vorfahren profitiert haben könnte, bleibt unklar. Kolja Zydatiss
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.