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Samstag, 16. Januar 2021

Kanton Nord

Mit einem bürgerlichen Kurs und zusätzlichem Personal versucht die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) im „Kanton Nord“ Fuß zu fassen. Zum 1. Januar stellte das Blatt den früheren Welt-Chefredakteur Jan-Eric Peters als Geschäftsführer der NZZ Deutschland ein. Die Ausgabe wird nun nicht mehr in der Schweiz, sondern in Berlin gemacht. Erklärtes Ziel: die „Beschleunigung der Expansion in Deutschland“.

Die Schweizer Tageszeitung will eine Marktlücke schließen, die der Linksschwenk fast aller Medien hinterlassen hat. Der Zürcher Chefredakteur Eric Gujer sagt: „In der Schweiz ist vieles Mainstream, was in Deutschland schon als rechts gilt.“ Es gebe dort aber „viele freiheitlich und liberal denkende Menschen“. Diese werden „von deutschen Medien vernachlässigt“. Er beklagt einen „stark links-liberalen Hintergrund“ vieler Journalisten.
Entsprechend groß ist die Wut hiesiger Medien über den „Rechtsruck“ des 241 Jahre alten Mediums. Die Zeitung vertrete auch „Positionen der rechtspopulistischen AfD“, faßt Wikipedia die Kritik zusammen. Der NDR warf der NZZ schon 2019 vor, daß dort „ein po- sitiver Kommentar zu Trump“ erschienen sei. Auch daß muslimische Vollverschleierung „nicht nach Europa“ gehöre, habe die NZZ geschrieben, heißt es in der Anklageschrift des öffentlich-rechtlichen Senders.
Allem Aufschrei zum Trotz hält Gujer, dessen wöchentlichen Deutschland-Newsletter „Der andere Blick“ inzwischen 55.000 Leser abonniert haben, an seinem Kurs fest. Zur neuen Mannschaft gehört auch Alexander Kissler, der mit fulminanten, gegen den Strich gebürsteten Analysen beim Cicero auf sich aufmerksam machte.

Deutschland ist für die Zeitung, die lange eng mit der Freisinnig-Demokratischen Partei der Schweiz (FDP) verbandelt war, ein Wachstumsmarkt. Die hiesige Ausgabe hat nun erstmals einen eigenen Chefredakteur. Marc Felix Serrao, seit 2017 Leiter des Berliner NZZ– Büros, besetzt den Posten, bleibt aber Gujer unterstellt.
Mit Ulrich Machold verfügt die Schweizer Zeitung, die der entlassene Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen mit dem einstigen „Westfernsehen“ in der DDR verglichen hat, seit Jahresbeginn auch über einen „Leiter Produkte der NZZ Deutschland“. Er ist ebenfalls ein Springer-Mann, arbeitete für die Welt, war Büroleiter des Ex-Bild-Chefredakteurs Kai Diekmann und bringt die Erfahrung mit, die die Neue Zürcher Zeitung für ihre Expansion benötigt. Er entwickelte für das Berliner Medienhaus Digitalprodukte.
Der Verkauf digitaler Abonnements nördlich der Alpen soll der NZZ neue Erträge liefern, denn auch in der Schweiz ist das Anzeigengeschäft eingebrochen. Den Preis dafür hat das Unternehmen zum Jahreswechsel von 10 auf 14,90 Euro erhöht. Die Zahl der bezahlten Abos wächst rasant. Innerhalb eines Jahres sei sie, so der Verlag, um 73 Prozent auf 32.000 gestiegen.
Damit übererfüllen die Zürcher ihren Plan: Denn das Deutschland-Geschäft hat dafür gesorgt, daß die angepeilte Marke von 200.000 Digital-Abos bereits jetzt geknackt wurde. Ursprünglich stand dieses Ziel erst für Ende 2022 an. Trotzdem, so der Flurfunk in der Zentrale am Zürichsee, sei das Deutschland-Engagement noch ein Minusgeschäft.

Der 55jährige Peters, der zuletzt Springers Nachrichten-Plattform für Smartphones „Upday“ zum Erfolg führte, soll das Tempo weiter erhöhen: „Da ist noch mehr drin, wenn wir den deutschen Markt direkt bearbeiten und mehr Angebote machen.“ Ihm gefalle „die freiheitliche Perspektive der NZZ“. Die Redaktion pflege „einen offenen Diskurs“. Es gebe „Debatten, die weniger von Tabus belastet“ seien als in Deutschland. Peters besetze eine „Schlüsselposition“, sagt der CEO der NZZ-Mediengruppe Felix Graf. Seine Aufgaben: Investitionen und Einstellung weiterer Journalisten. Neben zahlreichen weiteren Newslettern wird es demnächst auch einen Podcast geben.
Graf stellte schon im März gegenüber Horizont fest: „Wir erreichen inzwischen mehr zahlende Nutzer online als im Print.“ Der Umsatz sei bei der gedruckten Zeitung aber höher, weil der Preis der Digitalprodukte niedriger sei. Dennoch sei die Strategie „erfolgreich“.

So ist der Begriff „Medienkrise“, der in Deutschland zum Synonym für Vertrauens-, Auflagen- und Anzeigenverlust geworden ist, für die Schweizer trotz der selben Sprache ein Fremdwort. Gujer sagt: „Nach Jahrzehnten der Stagnation sind wir in einer Phase des Experiments, das ist eine gute Zeit für den Journalismus.“ Auch das Deutschland-Engagement bezeichnet er zwar als „Experiment“. Aber die große Nachfrage nach hintergründigem, nichtlinkem Journalismus zeigt, daß daraus eine Erfolgsgeschichte werden könnte.   JF

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