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Dienstag, 22. Februar 2022

Berühmter Querdenker

Er war meist unterwegs. Vermutlich bei seiner Mutter gemeldet, Witwe eines Zimmermanns in der Provinz Judäa, ein anderer fester Wohnsitz ist nicht bekannt. Er wanderte umher, wurde in Synagogen und Privathäuser eingeladen, kam mit den Leuten ins Gespräch, stellte ihnen Fragen und beantwortete sie mit Gleichnissen. Das war unterhaltsam, aber auch gefährlich, denn er riskierte politische Anspielungen. Anhänger und Schüler fanden sich ein, einige schrieben seine Reden auf und taten, wie es beim Schreiben oft geschieht, noch ein wenig vom ihrigen hinzu. Sie waren fromme Juden wie er, beteten zusammen, legten die Schrift aus und hatten lange Debatten darüber. Wie die Evangelien überliefern, redeten sie ihn mit „Rabbi“ an. Schon als kleiner Junge hatte er die Schriftgelehrten mit seiner Kenntnis der Tora in Erstaunen gesetzt.

Sein aramäischer Name war Jeshua (Ben Josef), gräzisiert Jesus. Die Menschenaufläufe, die er verursachte, würde man heute „Demo“ nennen, in der Regel waren sie „nicht genehmigt“. Jeshuas Landsleute, die dort zusammenkamen, fühlten sich von den Mächtigen betrogen, von den römischen Verwaltungsbeamten, vom herodischen Königshaus und der sadduzäischen Priesterkaste, sie sahen in diesem Machtkartell eine Verschwörung gegen ihr Land, das vor ihren Augen erbarmungslos ausgeplündert wurde, und sie sprachen es offen aus. Die Aufregung war groß. Wenn es Jeshua zu viel wurde, zog er sich in die Wüste zurück. Auch dort fanden ihn seine Anhänger. Die römischen Beamten gingen mit Gewalt gegen die Zusammenkünfte vor, schon der Prokurator Felix, wie ein Historiker überliefert, setzte berittene Truppen ein und „ließ die armen Narren niederhauen“.

Die Korruption in der Provinz Judäa war so offensichtlich, dass mehrere der zu ihrer Zeit höchsten Verwaltungsbeamten (darunter auch der für Jesu Hinrichtung verantwortliche Pontius Pilatus) in Rom für ihre Übergriffe vor Gericht gestellt werden mussten, unter der Anklage per repetundis, wegen Veruntreuung und Erpressung. Für alle, die arbeiteten, Bauern, Hirten, Handwerker, kleine Kaufleute in den Städten, war es eine böse Zeit. Erlösungsprediger traten auf, Jeshua war einer der beliebtesten. Seine Auslegungen galten scheinbaren Paradoxien, deren Stoff er der hebräischen Bibel entnahm und spielerisch zuspitzte: Freiheit durch Verzicht, Seligkeit durch Leid, Triumph durch Feindesliebe, Gewinn durch Verlust. So nährte er Hoffnungen auf radikale Veränderung, plötzliche Umkehrung der Verhältnisse – etwas, was Menschen in schlechten Zeiten brauchen wie ein Tonikum. Seine sprachlichen Fähigkeiten erlaubten ihm, die kompliziertesten Zusammenhänge in klaren poetischen Bildern darzustellen, oft so treffend und spannend, dass sie seinen Zuhörern den Atem nahmen.

Dadurch befreite er sie von den Ängsten ihres Alltags und ermutigte sie, in einer schlechten Zeit auf Liebe und Hoffnung zu setzen. Er verfügte über starke Heilkräfte und psychotherapeutische Fähigkeiten. Bald muss unter seinen Anhängern der Gedanke aufgekommen sein, er sei der mashiach oder Messias, der gesalbte Erlöser-König vom Stamme Davids, griechisch chrestos. Er war frei, beweglich, unkontrollierbar. Dadurch, dass er die Lehre popularisierte, wirkte er subversiv – jedenfalls in den Augen derer, die aus ihrem Wissen ein Geschäft machten. Die römische Besatzungsbehörde und die judäische Oberschicht beobachteten ihn mit wachsendem Argwohn. Dafür unterstützten ihn die Pharisäer, obwohl er oft mit ihnen Meinungsverschiedenheiten hatte, in seiner Opposition gegen die Priesterschaft. Sponsoren fanden sich, wie die in der Apostelgeschichte erwähnte reiche Witwe, die im Obergeschoss ihres Hauses ein Zimmer für ihn bauen ließ, einen größeren Raum offenbar, wo er sich mit seinen Anhängern treffen konnte. Deren Zahl ständig wuchs. Und damit das Risiko: Je mehr es werden, umso eher ist einer darunter, der denunziert.

Seine Historizität ist oft angezweifelt worden, gerade in jüngerer Zeit, entstanden aus kritischen Textanalysen der Evangelien. Doch da er außer in den Evangelien in mehreren anderen, von einander unabhängigen Quellen verschiedener Sprachen und Kulturen bezeugt ist, kann man getrost davon ausgehen, dass er existiert hat. Ein jüdischer Unruhestifter „Christus“ oder „Chrestos“ wird in den Werken der römischen Geschichtsschreiber Sueton (De vita Caesarum 25,4), Tacitus (Annalen 15,44) und Plinius des Jüngeren (Brief an Kaiser Trajan) erwähnt. In den Jüdischen Altertümern des Josephus Flavius finden sich zwei Erwähnungen (wobei eine als spätere Adaption christlicher Kopisten gilt, die andere, 20,9,1, jedoch als genuin). Der griechische Satiriker Lukian streift die christliche Sekte und ihren Anführer in einer seiner Erzählungen (De morte Pellegrini, 11). Jesu Hinrichtung bezeugt der aramäisch schreibende Autor Mara Bar Sarapion (Brief an seinen Sohn) im späten 1. bis 2. Jahrhundert. Auch der Babylonische Talmud, entstanden im 2. Jahrhundert, nimmt an mehreren Stellen auf Jesus Bezug.*

Schon zu seinen Lebzeiten setzte die Legendenbildung ein. Erst recht nach seiner Hinrichtung und dem Verschwinden seines Leichnams. Bereits in den Kreuzigungsszenen der Evangelisten zeigen sich erste Ungereimtheiten. So ist zum Beispiel eine Amnestie zum Pesach-Fest, anlässlich derer die Hohepriester den Angeklagten Jesus hätten begnadigen können, oder überhaupt ein Begnadigungsrecht der Jerusalemer Priester nirgendwo sonst in der antiken Literatur überliefert. Zuständig für Gerichtsprozesse, Urteil und Vollstreckung war üblicherweise der römische Statthalter, in diesem Fall der Ritter Pontius Pilatus. Zeitnahe römische Zeugnisse, die Annalen des Tacitus oder der frühchristliche Autor Tertullian (Ad martyras, 2), halten daher ihn für das Todesurteil verantwortlich. Wobei Pilatus unter Druck stand: Jesus hatte durch sein viel zitiertes Wort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“, überliefert u.a. im Evangelium des Matthäus 22,21, eine Trennung zwischen Kaiser und Gottheit deklariert und damit dem römischen Diktum von der Göttlichkeit der Kaiser widersprochen – eine Blasphemie, die unter das römische Gesetz crimen laesae maiestatis fiel, Verbrechen gegen die Majestät des Kaisers, für das der eben herrschende Kaiser Tiberius die Todesstrafe eingeführt hatte. Auch dass Jesus sich „Sohn Gottes“ nennen ließ, lateinisch filius divi, konnte als Sakrileg verstanden werden, dieser Titel stand den römischen Kaisern zu, deren Väter und Vorgänger spätestens mit ihrem Tod vergöttlicht wurden.

Dabei berief sich Jesus, wenn er sich als Sohn seines Gottes fühlte, nur auf die verbreitete jüdische Vorstellung, wonach Gott unser aller Vater ist, folglich wir seine Kinder. Man sieht, wie wichtig Sprache werden kann und die Frage der Benennungen. Sie bietet die Möglichkeit, Menschen zu kriminalisieren, und den Vorwand, sie zu verfolgen. Zu unrecht hat das Christentum seinen Tod den Juden angelastet und damit einen unsinnigen Hass gegen das Volk evoziert, dem er entstammt. Der Widerspruch zwischen ihres Heilands Jüdischsein und ihrem Judenhass hat die Kirche in schwere Konflikte gestürzt und ihre Legitimation beschädigt. Noch immer spendet, was er vor zwei tausend Jahren gelehrt und getan hat, Millionen Menschen Mut und Trost, zugleich werden andernorts seine Anhänger gehasst und verfolgt. Kaum ein Mensch hat so viel Unruhe und Kontroverse ausgelöst, dabei war alles, was er sagte und tat, auf das Gegenteil gerichtet, auf Gerechtigkeit und Versöhnung. Sein Beispiel zeigt, dass ein guter Mensch ein für die Menschheit kaum zu bewältigendes Problem darstellt.   Chaim Noll

*Und zwar - wir wollen es nicht unerwähnt lassen -, um darzulegen, er sei zu Recht zum Tode verurteilt worden für seine blasphemische Behauptung, Gottes Sohn zu sein.

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