Stationen

Dienstag, 15. Februar 2022

Verdrängung, Reibung, Unzulänglichkeit

Wenn ich an das Österreich meiner Jugend in den 1960er Jahren denke, fällt mir Tony Judts Essay „Die Vergangenheit ist ein anderes Land“ ein (Transit, 6, 1993). Die Identifizierung und Bestrafung aktiver Nazis war 1948 praktisch beendet und gleich wieder vergessen worden. Die Amnestie für eine halbe Million ehemaliger österreichischer Parteimitglieder hatte sich in eine fast totale Amnesie verwandelt, „die es allen Seiten erlaubte, sich darauf zu einigen, dass diese Männer und Frauen sich künftig in nichts von den anderen unterschieden.“
Die Treffen auf dem Kärntner Ulrichsberg, zu denen an jedem 10. Oktober Politiker aller Parteien erschienen, Vertreter der Kirchen, des Bundesheeres und der Traditionsverbände (kurz: das offizielle Kärnten) perfektionierten diese Verdrängungsleistung. In einem Bundesland, das 1945 scham- und bedenkenlos von Braun auf Rot umgeschaltet hatte, verstieß es noch in den 1960er Jahren gegen den guten Ton, über die NS-Vergangenheit zu sprechen. Das legitime Gedenken an den Kärntner Abwehrkampf von 1920, an die Opfer der beiden Weltkriege und der Nachkriegsvertreibungen vermischte sich mit nationalistischen, militaristischen und insbesondere antislowenischen Elementen. Ich habe 1967 einmal im Kreis katholischer Mittelschüler an einer Ulrichsberg-Gedenkfeier teilgenommen – also mehr als 50 Jahre vor Stephan Tauschitz, der damals noch gar nicht auf der Welt war. Ein besonders heftig beklatschter Redner unterschied dort zwischen einem deutschen und einem slowenischen Herrgott. Mit dieser Art von Heimatliebe wollte ich nichts zu tun haben, und schon gar nichts mit alten Nazis. Wie die meisten meiner Schulkameraden sympathisierte ich mit den Kärntner Slowenen, und daran hat sich nichts geändert.
Als Tauschitz 2008 und 2010 als Klubchef der Kärntner ÖVP an den Gedenkfeiern teilnahm, war Österreich längst ein anderes Land geworden. Die Helden auf dem Ulrichsberg waren aus der Zeit gefallen. Von einer Verharmlosung des Nationalsozialismus konnte keine Rede mehr sein. Aber statt die Erinnerung an die Opfer der Kriege, der politischen Verbrechen und der Vertreibungen von nazistischen Relikten zu säubern und Rechtsextremisten auszuschließen, zogen sich Staat und Parteien zurück. Das ist typisch für die nach Waldheim plötzlich geläuterte Republik, wie man auch an den Beispielen der Gedenkfeiern Bleiburg und Kahlenberg sehen kann. Aber wer Rechtsextremen nicht Widerstand leistet, sondern ihnen das Feld überlässt, darf sich nicht wundern, dass sie es auch besetzen.
Genau das hatten sie längst getan, als der junge ÖVP-Politiker auf den Ulrichsberg pilgerte. Ihm wird „Kontaktschuld“ angelastet, weil unter den Zuhörern, wie bei allen Ulrichsberg-Treffen seit 1953, auch Nazis und Rechtsextreme waren. Angeblich sagte er dort, dass niemand vorschreiben dürfe, „welcher Toten wir gedenken dürfen und welcher nicht“. Ist das bereits ein Indiz für Rechtsextremismus, das ihn von einer Leitungsfunktion im Verfassungsschutz ausschließt? Tauschitz hat „Kontaktschuld“ auf sich geladen. Der Aufgabe, sich gegen Rechtsextremismus auszusprechen, war er so wenig gewachsen wie alle anderen Politiker, die auf dem Ulrichsberg waren und immer noch tun, als hätten sie nichts mitbekommen. Ihnen allen fehlte es an der Zivilcourage, die in der Politik ein sehr rares Gut ist.
Die Vorgänge rund um den Verfassungsschutz verfolge ich mit wachsender Wut. Mir reicht schon der flache Staat, geschweige denn der tiefe. Ich mag keine Spitzel, keine Gesinnungsschnüffler und keine Haltungsjournalisten, die sich für Intrigen hergeben. In vier Jahrzehnten Journalismus hatte ich notgedrungen mit solchen Leuten zu tun. Nachrichtendienste ziehen genau die Leute an, die man dort nicht haben möchte. Sie sind wie Fliegen, die sich niederlassen, wo es am meisten stinkt.    Karl-Peter Schwarz

Die Shoah und ihre Folgen überfordern den Menschen. Normalerweise taugen die großen Tragödien sowieso nicht fürs journalistische Tagesgeschäft, aber immerhin für Tolstoj, Manzoni und Boccaccio. Aber die Shoah verdirbt auch den meisten großen Autoren ihr Handwerk. Das fängt schon mit der Dokumentation an. Wo Solschenizyn noch Winkel der tröstenden Andacht findet, verbietet sich bei der Shoah - zumindest bisher - selbst der Gedanke daran, ja er wird sogar zur Blasphemie... Die Shoah überfordert uns. Und mehr noch als die Shoah selbst und mehr als die nazistischen Impulse, die zum Amnestie-Amnesie-Konglomerat führen, verdrängen wir anlässlich der Anlässe die menschliche Unzulänglichkeit. Tony Judt und Nathan Weinstock waren jüdische Historiker, die aus intellektueller Redlichkeit heraus die Erfahrungen der Palästinenser in ihre Geschichtsschreibung über Israel mitaufnahmen. Weinstock bereute es aber, zutiefst verbittert darüber, dass die Palästinenser seine brüderlich ausgestreckte Hand nur dazu ergriffen, um ihm den Arm auf den Rücken zu drehen und ihn gegen Israel zu instrumentalisieren, Judt musste es auch bereuen, denn er verscherzte sich dadurch nicht nur die Sympathien Israels, sondern er setzte sich durch seinen stoischen Pessimismus auch den Anfeindungen durch die Juden Amerikas aus. Die Shoah und ihre Folgen sind larger than LIFE. Und aus diesem Grund sind die Menschen paradoxerweise dort - ich will nicht sagen gesünder! aber - weniger krank, wo man die ganze Problematik verdrängt. Dass ich jemals ein Plädoyer für AmnestieAmnesieAmen schreiben würde... ein Treppenwitz meiner persönlichen Geschichte. Man könnte meinen, der liebe Gott sei Hans Moser.

 

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