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Montag, 28. Februar 2022

Wie lange wird die heilsame Wirkung des Putin-Schocks währen?

1914, 1939, 1989, 2001 – bei diesen Jahreszahlen wissen nicht nur Historiker, dass sie für Zäsuren stehen. Für Ereignisse, die den Gang der Geschichte plötzlich beschleunigten und auf drastische Weise änderten. Für Wendungen, die Wirkung weit über das jeweilige Jahr hinaus entfalteten. Die Reihe wurde am Donnerstag um das Jahr 2022 erweitert. Es ist zur Chiffre für die Rückkehr des Krieges nach Europa geworden, des Krieges als Mittel einer imperialistischen und chauvinistischen Politik.

Der Mann, der dem Jahr schon im Februar den Stempel „annus horribilis“ aufgedrückt hat, heißt Wladimir Putin. Er ist Präsident der Russischen Föderation und von dem Gedanken beseelt, als eine der großen Figuren in die stolze russische Geschichte einzugehen – als der Führer, der Russland wieder groß und mächtig gemacht und ihm in der Welt den Respekt verschafft hat, den es verdient. Man darf Putin zutrauen, dass er selbst noch Stalin übertreffen will.

Mit dem Krieg, den der russische Präsident in der Ukraine führt, die für ihn eine Missgeburt der Geschichte ohne Existenzberechtigung ist, rückt Putin zweifellos auch aus westlicher Sicht Stalin näher. Doch das Ansehen und das Wohlergehen Russlands in der freien Welt mehrt Putin mit seinem Überfall nicht. Die Russen werden für den Wahn ihres Präsidenten bitter büßen müssen. Vielleicht kommt sogar der Tag, an dem er selbst bereut, in diesen Krieg gezogen zu sein. Aber darauf kann der Westen jetzt keine Hoffnungen setzen. Die Mehrheit des russischen Volkes glaubt Putins grotesker Propaganda. Die Minderheit, die gegen seinen Wahn demonstriert, erfährt, was Putin unter Re­spekt versteht: Angst.

In Putins Universum gilt nur das Gesetz des Dschungels

Putin hat Russland zum Paria der Staatengemeinschaft gemacht, der sich künftig mit Lobpreisungen aus Diktaturen wie Belarus begnügen muss. Selbst Viktor Orbán schloss sich der Kritik an Moskau an. Die kümmert Putin und die anderen, die mit ihm in seiner Regimeblase leben, offensichtlich wenig. Im Kreml spottete man, der Westen werde sich schon wieder beruhigen – wie er es nach dem Georgienkrieg getan habe und auch nach der Annexion der Krim.

Putin und seine Spießgesellen leben in einer anderen Welt und in einer anderen Zeit als der Westen. In ihr zählen Vertrauen, Verständigung und Verträge nichts. In Putins Universum gilt nur ein Gesetz, das des Dschungels: Die großen Bestien fressen die kleineren, am liebsten aber die wehrlosen Ziegen und Schafe. Die Welt, wie Putin sie sieht, gehört dem Stärksten, dem Brutalsten. Die Regeln, die sie sich gegeben hat, um auch die Schwächeren zu schützen, sind für ihn nur Blendwerk für die Dummen, die Naiven.

Dazu zählt er all jene im Westen, die auf die Macht des Multilateralismus setzen, auf die „soft power“ des moralischen Vorbilds, auf den Sieg der Vernunft. Also auch die Deutschen und ihre Regierungen. Putins Geschichts- und Politikverständnis unterscheidet sich so fundamental von den Überzeugungen Nachkriegsdeutschlands, dass man sich fragen muss: Wie konnten unsere Kanzler und Außenminister glauben, mit ihm ließe sich gemeinsame Sache machen? „Wir wurden eiskalt belogen“, sagt Außenministerin Baerbock. Das kann nicht erst ihr widerfahren sein. Man hat sich in Berlin schon lange von ihm belügen lassen – und sich dann auch noch der Selbsttäuschung hingegeben.

Dass man Putin doch brauche! Das Hauptargument zur Begründung der Kollaboration mit ihm lautete: Sicherheit gebe es nur mit, nicht gegen Russland. Nur zusammen mit Moskau könne man die vielen Konflikte in der Welt eindämmen. Hat der Kreml aber wirklich Interesse an einer sichereren und besseren Welt? Moskaus Macht beruht vor allem auf der Fähigkeit, Unheil zu stiften und zu vergrößern. Putin führte sie regelmäßig vor. Auf diese Weise hat der Kreml den Westen schon oft erpresst, immer wieder mit Erfolg.

Putins jüngstem Erpressungsversuch mit gleichzeitiger Geiselnahme konnte sich der Westen jedoch nicht mehr beugen. Putin verlangte von den in der EU und der NATO vereinigten Ländern, Prinzipien abzuschwören, deren Preisgeben einer Selbstaufgabe gleichgekommen wäre. Die Grundsätze der staatlichen Souveränität, der territorialen Integrität und das Gewaltverbot, das Russland als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats ganz besonders hochhalten müsste, haben Europa zu einer Epoche des Friedens und der Stabilität verholfen, die einmalig ist in seiner Geschichte – einmalig war, wie man jetzt sagen muss.

Zäsur: Am Donnerstag ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Reuters

Angesichts der Motive, mit denen Putin seine Aggression begründete, muss man ohnehin davon ausgehen, dass er nicht wirklich damit rechnete, die NATO werde seine Forderungen erfüllen. Während die Führer der westlichen Welt im Kreml noch um Frieden baten, bereitete der KGB-Mann – in Russland sagt man: einmal KGB, immer KGB – schon seinen Feldzug vor. Gelernt ist eben gelernt: Die „Maskirovka“ gehört zu den Paradedisziplinen der Moskauer Desinformationskunst, auf die man im Westen so oft hereinfiel.

Wie lange wird die heilsame Wirkung des Putin-Schocks währen?

Besonders in Deutschland galt in Politik und Wirtschaft die Devise: Was jucken uns die Lügen und die Propaganda, wenn das Gas fließt und der Rubel rollt. In keiner Partei hatte man damit so wenig Schwierigkeiten wie in der SPD. Schröder, der selbst am Tag von Putins Überfall meinte, von Fehlern auf beiden Seiten sprechen zu müssen, ist nicht der einzige Sozialdemokrat gewesen, der sich zu Putins nützlichem Idioten machte. Aber er ist gewiss derjenige, der dafür am meisten Geld bekommt.

Jetzt herrscht freilich sogar in den Reihen der SPD Heulen, Zähneklappern und, noch verhalten, Selbstanklage wegen der Naivität der vergangenen Jahre. Die ganze deutsche Linke muss jetzt vieles von dem aufessen, was sie bisher im Brustton der Überzeugung von sich gegeben hat. Die kürzeste Kehrtwende in Sachen Was-kümmert-mich-mein-Geschwätz-von-gestern legte Gregor Gysi hin: „Alles, was ich immer gesagt habe, ist an dem Tag gestorben, an dem ein völkerrechtswidriger Krieg beginnt.“ Nicht einmal mehr auf die Nibelungentreue der AfD kann Putin sich jetzt noch verlassen.

Doch wie lange wird die heilsame Wirkung des Putin-Schocks währen? Wie lange hält der Burgfrieden, wenn die Energiepreise explodieren, die Wirtschaft leidet und der Streit darum losgeht, auf wessen Kosten die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit gehen soll, für die jetzt plötzlich fast alle sind? Die Republik, die schon mit dem Kampf gegen die Pandemie und die Klimaerwärmung ausgelastet schien, geht politisch und wirtschaftlich schwierigen Zeiten entgegen, von denen niemand weiß, wie lange sie dauern werden.

Deutschland ist, wie Baerbock sagte, „in einer anderen Welt aufgewacht“. Man muss es noch deutlicher sagen: Deutschland ist, aufgeschreckt von Putins Kanonendonner, aufgewacht im Zweiten Kalten Krieg, auf den es weder mental noch militärisch vorbereitet war, obwohl er nicht erst in dieser Woche begonnen hat. Putin wird, solange er an der Macht ist, diesen Krieg mit allem führen, was ihm geeignet dazu erscheint, den Westen zu schwächen und zu spalten: mit der Gaswaffe, mit Cyberangriffen, mit subversiven Aktionen aller Art. Er hat in seinen Reden und Aufsätzen für jeden erkennbar dargelegt, dass er sich in einem epochalen Kampf gegen den Westen und dessen Modell der liberalen Demokratie wähnt. Seit Hitlers „Mein Kampf“ hat kein Kriegstreiber mehr sein Weltbild so offen und unmissverständlich dargelegt wie Putin.

Die Ampelkoalition wird nicht nur in der Energiepolitik ihre Prämissen und Prioritäten ändern müssen. Ein Paradigmenwechsel ist auch in der Außen- und Sicherheitspolitik unvermeidlich. Denn selbst der Überfall auf die Ukraine ist noch nicht das Schlimmste, mit dem man bei Putin rechnen muss. Er drohte dem Westen unverhohlen mit einem Atomschlag für den Fall, dass die NATO auf die Idee käme, der Ukraine militärisch zur Hilfe zu kommen. Das hatte das westliche Bündnis schon lange zuvor kategorisch ausgeschlossen. Die rote Linie ist für die NATO die Ostgrenze des Bündnisgebiets. Doch wer wollte bei einem Mann wie Putin, der einer völlig anderen Rationalität folgt, jetzt noch die Hand dafür ins Feuer legen, dass er die Entschlossenheit und Geschlossenheit der NATO-Staaten nicht auch noch im Baltikum prüfen will?

Stalin übertreffen: Wladimir Putin will als eine der großen Figuren in die russische Geschichte eingehen. SPUTNIK POOL

Putin ist nicht der Mann, der zum Rückzug bläst, wenn er in Schwierigkeiten gerät – in die er sich mit dem Feldzug in der Ukraine gebracht hat und weiter bringen wird, was er auch im eigenen Land zu spüren bekommen könnte. Im Zweifel sucht er sein Heil in der Eskalation. Sein Regime ist zur Sicherung seiner Herrschaft ohnehin darauf angewiesen, einen äußeren Feind vorweisen zu können – in Russlands Kampf um „Leben und Tod, um unsere historische Zukunft als Volk“.

Weder die Flötentöne der Friedensdiplomatie noch die Androhung von wirtschaftlichen Sanktionen haben Putin davon abhalten können, bei der Verfolgung seiner historischen Mission in der Ukraine einzufallen. Den Verschwörungstheoretiker im Kreml beeindruckt man nur mit militärischer Macht und der Entschlossenheit, sie im Ernstfall auch einzusetzen.

Deutschland muss sich mit der nuklearen Frage befassen

Die Europäer müssen daher nun mit aller Kraft die militärische Abschreckung stärken. Sie müssen in ihre konventionellen Streitkräfte investieren, in Quantität und Qualität. Das gilt in besonderer Weise für die Bundeswehr, wie es der so verzweifelt wie zornig klingende Offenbarungseid des Heeresinspekteurs unterstrichen hat. Die Bundeswehr ist nach Jahren der Schrumpfung und der einseitigen Ausrichtung auf strapaziöse Auslandseinsätze nur bedingt abwehrbereit.

Putins Kreuzzug gegen den Westen zwingt Deutschland aber auch, sich mit einer Frage zu befassen, die es, auch hier unter Verweis auf die eigene Vergangenheit, als für alle Zeiten beantwortet betrachtete: die nukleare. Die Erfahrung mit Donald Trump zeigte den Europäern jedoch, dass es keine Ewigkeitsgarantie für den atomaren Schutzschirm Amerikas gibt. Frankreichs Abschreckungsarsenal ist zu schwach, um Russland davon abhalten zu können, seinen Willen mit der Androhung von Nuklearschlägen durchzusetzen. Mit dieser Drohkulisse sicherte der Kreml schon die Eroberung der Krim ab und nun auch den Angriff auf die restliche Ukraine. Wenn die Europäer sich nicht dem – von Peking aufmerksam verfolgten – Versuch Moskaus beugen wollen, um Russland herum eine Zone reduzierter Souveränität zu schaffen, dann muss Europa zu einer Atommacht werden, die diesen Namen verdient. Ohne Deutschlands Beteiligung wird das nicht möglich sein.

Dagegen wird sich freilich ein Proteststurm erheben, der sogar noch die Empörung über Putins Einmarsch übertreffen könnte. Die ersten Abwehrstellungen werden schon bezogen. Rolf Mützenich, der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag, begründete seine anhaltenden Zweifel an der nuklearen Abschreckung damit, dass sie schließlich auch im Fall der Ukraine nicht gewirkt habe. Dem muss man widersprechen. Sie hat sehr gut funktioniert, allerdings zu Putins Gunsten.  Köhler

"Putin ist nicht der Mann, der zum Rückzug bläst, wenn er in Schwierigkeiten gerät". "Im Zweifel sucht er sein Heil in der Eskalation." Ich hätte ja nicht einmal gedacht, dass er in Schwierigkeiten geraten könnte!! Dass die Ukrainer ihm welche bereiten könnten. Und dass er offenbar viel schwächer ist, als ich dachte, - siehe Luttwaks Analyse - beruhigt mich nicht, im Gegenteil. Mit der Eskalation wird er schließlich nicht warten, bis Deutschland aufrüstet. Mit einem starken Putin könnte man verhandeln (jemand wie Trump könnte es), mit einem Putin, der in einer Sackgasse gelandet ist, nicht. Im Moment sieht es aus, als sei die Finlandisierung noch das geringste unserer Probleme. Luttwak ist erstaunlich optimistisch. Für mich ist jetzt alles unvorhersehbar.


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