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Freitag, 18. Februar 2022

Was ist ein Hyper-Stockholmsyndrom? Ist die Finlandisierung ganz Europas vermeidlich?

Als das schwedische Fernsehen in den Siebzigerjahren einen Film ausstrahlte, der auf Alexander Solschenizyns Novelle Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch beruhte, schaltete Finnland die Sender auf den Ålandsinseln ab. Die finnische Zensurbehörde hatte den Film, der aus sowjetischen Straflagern berichtete, als sowjetfeindlich verboten.

Solschenizyns dokumentarischem Roman Der Archipel Gulag erging es ähnlich. Präsident Urho Kekkonen und Ministerpräsident Kalevi Sorsa verhinderten seine Veröffentlichung, und auch der finnische Verlag des Nobelpreisträgers beugte sich dem Druck. Esa Adrian aber, der finnische Übersetzer, beschloss, das Verdikt zu umgehen, und schickte seine Übersetzung nach Schweden, wo der Verlag Wahlström & Widstrand deren ersten Teil publizierte. Das Buch in Finnland zu verbreiten war schwierig, es wurde aus Bibliotheken und Buchhandlungen entfernt. Manche sicherten sich ein Exemplar – für künftige Generationen und als ein Beispiel für antisowjetische Propaganda. 

Einige Jahre später kam meine estnische Mutter durch Heirat nach Finnland, und ich wurde in einem Land geboren, das einerseits seine Selbstständigkeit bewahrt hatte, in dem andererseits jedoch die Finnlandisierung Auswirkungen auf alles hatte. Der in Westdeutschland entstandene Begriff bedeutet die Unterwerfung unter den Willen eines starken Nachbarlandes, und Finnland befand sich fester im eisernen Griff der Sowjetunion als irgendein anderes westliches Land. Das prägte nicht nur die Außenpolitik, sondern auch die Landesverteidigung, die Wirtschaft, die Medien, Kunst und Wissenschaft. Es war nicht erwünscht, dass die Forschung sich mit der katastrophalen Wirtschaftslage in der Sowjetunion befasste, und Themen, die als antisowjetisch galten, musste man meiden, wenn man auf eine erfolgreiche Karriere hoffte. Als die finnische Zollverwaltung bemerkte, dass der sowjetische Thunfisch dreimal mehr Quecksilber enthielt als zugelassen, wurde der Referent, der ein Verkaufsverbot empfohlen hatte, kritisiert, er habe den Wert wohl "zu theoretisch" interpretiert. Und die finnische Seebehörde änderte ihre Vorschriften, als Teboil, eine Gesellschaft im Besitz der Sowjetunion, Jollen zum Verkauf anbot, die die Sicherheitsprüfungen nicht bestanden hatten.  

In meinen Schulbüchern wurde mir weisgemacht, Estland habe sich freiwillig der fröhlichen Sowjetfamilie angeschlossen. Hintergrund war der Vertrag zwischen der Sowjetunion und Finnland von 1948 über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand, und die finnische Unterrichtsverwaltung, die die Schulbücher kontrollierte, hielt sich daran.

Während die Probleme der Vereinigten Staaten im Erdkundebuch Raum fanden, wurden im Zusammenhang mit der Sowjetunion keine negativen Adjektive verwendet. Dort war alles großartig und imposant und unser Handel mit seinen Clearing-Verträgen "ein einziges Ostwunder". Tatsächlich ging ein Viertel des finnischen Exports stetig nach Westen, während dem Nachbarn im Osten faktisch ein kostenloser Kredit gewährt wurde. 

Das entschiedenste Lob erhielt die Sowjetunion aus dem Kulturbereich. Die "Taistojaner", eine linksradikale Bewegung, die die Sowjetunion vorbehaltlos idealisierte, erlangten eine beherrschende Position. Schauspieler, die nicht in den roten Chor einstimmten, bekamen keine Rollen mehr. Und zu Ehren von Lenins 100. Geburtstag wurden in Finnland tausend Veranstaltungen organisiert.

Aus estnischem Blickwinkel ist das alles schwer zu verstehen, denn das unter sowjetischer Besatzung lebende kleine Volk hatte keine andere Möglichkeit, als den Gesetzen der Diktatur zu folgen. Finnland dagegen war eine unabhängige westliche Demokratie, in der die Bürger ihre Entscheidungsträger in freien Wahlen bestimmten. Und für die Finnlandisierung bedurfte es nicht einmal irgendwelcher Gesetze: Jede Aktion, die sich gegen den Geist der sowjetischen Freundschaft richtete, scheiterte auch ohne amtliche Zensur oder Strafen. Der Konsens war robust, die Reinwaschung der UdSSR Landessitte. Für die Esten hingegen sah die Realität anders aus: Deportationen, Straflager, Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung.

Die Finnen hingegen scherte es nicht, dass durch die Stalinschen Verfolgungen genauso viele ihrer Landsleute ums Leben kamen wie im russisch-finnischen Winterkrieg 1939/1940.  

2020 gab das finnische Wirtschaftsforum EVA eine Untersuchung der Werte und Einstellungen der Finnen in Auftrag, deren Ergebnisse überraschten: Die älteren Generationen waren Russland gegenüber grundsätzlich positiver eingestellt als die jüngeren. Die Grenze verlief bei etwa 45 Jahren. Die Älteren sind in der Zeit der intensiven Finnlandisierung aufgewachsen. Wie kann es sein, dass gerade sie positiver über Russland denken als die Jüngeren? 

Die Finnlandisierung prägte das historische Gedächtnis, die nationale Identität und den Sprachgebrauch. Mit der Sprache ändert sich die Denkweise der Sprechenden. Finnland war das Testlabor für viele psychologische Operationen der Sowjetunion und aus Sicht des östlichen Nachbarn eine Erfolgsgeschichte. Unser Staat, der wie eine nordische Demokratie wirkte, schien ein Beweis dafür zu sein, dass die Sowjetunion zu einem friedlichen Zusammenleben mit seinen Grenznachbarn fähig war. Das hübsche Schaufenster namens Finnland konnte Außenstehende dazu verleiten, zu glauben, diese Praxis sei eine passable Alternative. Wir durften amerikanische TV-Serien sehen, die mit außergewöhnlichem Eifer konsumiert wurden, und reisten frei in westliche Länder. Wir wurden gleichzeitig verwestlicht und finnlandisiert, was gerne verklärt wird: Ja, das finnische Volk wusste wirklich, was in der Sowjetunion geschah. Allerdings reiste stets nur ein kleiner Teil der Bevölkerung über die Grenze nach Osten. Die Finnen bekamen dort nur das zu sehen, was propagandistisch als zweckdienlich galt. Und so wuchsen diese Finnen im festen Glauben an die Sowjetliturgie auf. *

Als 2014 in der Ukraine die Macht durch die Revolution – eine Revolution des Selbstwertgefühls – wechselte, führte das im Osten des Landes zu einem von Russland angezettelten Krieg. Nachdem in letzter Zeit die russischen Aggressionen stark zugenommen haben, wurde mir klar, dass sich die Ukraine offenbar finnlandisieren sollte – obwohl das ihrer Integration in den Westen schaden würde und das Land zurück in die Vergangenheit triebe. Dann wäre die Vielstimmigkeit der ukrainischen Medien dahin, und den Krieg Russlands im Donbass würde man gemäß der russischen Propaganda öffentlich nur als Bürgerkrieg bezeichnen dürfen. Mir überdies die Umweltsituation des Landes vorzustellen, würde ich gar nicht wagen.

Finnland trat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von dem Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zurück. Viel schwieriger aber war es, sich von den eingeübten Praktiken zu lösen. Das Unterbewusstsein lernt schnell**, historisch unpassende Formulierungen zu vermeiden, und die einmal erlernte Sprache ändert sich nicht ohne eine bewusste Entscheidung dazu. 

Im Baltikum hat man diesen Sprachwechsel 1990 vollzogen. Hier durfte man die sowjetische Besatzung endlich beim Namen nennen. In Finnland verlief dieser Prozess langsamer. Nachdem Russland die Krim schon besetzt hatte, wurde unser Verteidigungsminister Carl Haglund öffentlich dafür gescholten, dass er zusammen mit seinen nordischen Kollegen einen Text unterschrieben hatte, in dem Russland als militärischer Aggressor bezeichnet wurde. Die Vorsitzenden der finnischen SDP und der Zentrumspartei kritisierten, dass man das nicht tun dürfe. Der betreffende Text sei unklug.  

Wir wissen nicht, ob Finnland Mitglied der Nato wäre, wenn Russland uns nicht dauernd zu verstehen geben würde, wie unangenehm ihm diese unsere Mitgliedschaft wäre. Finnland ist so konditioniert, dass es auf Russlands Geknurr immer defensiv reagieren wird. Das ist gefährlich. 2011 bemerkte der Forscher Seppo Knuuttila vom Finnischen Umweltzentrum eine gewaltige Phosphorit-Immission in der Ostsee, als deren Quelle sich der Abfallberg einer Phosphorit-Fabrik erwies. Die Fabrik gehört der größten Düngemittelfabrik Russlands, der EuroChem. Das Unternehmen selbst reagierte kaum auf die Veröffentlichung der Katastrophe. Die finnische Umweltbehörde aber stellte die Kompetenz des Forschers infrage, es wurde behauptet, er beschädige die Beziehungen zwischen Russland und Finnland. Die Belange der Natur waren zweitrangig.

Für die Finnen ist es nicht leicht zu erkennen, welche der mit dem Osten verbundenen politischen Beschlüsse auf einer tatsächlichen Bedrohung und auf Zwang basieren, welche auf Selbstzensur und welche auf Selbsttäuschung. 

Die finnischen Medien aber haben sich in der Berichterstattung über die Ukraine verbessert und ihren Sprachgebrauch der Realität angepasst. Der Dank dafür und für unsere Pressefreiheit gebührt der Europäischen Union, denn die Mitgliedschaft und der Europäische Menschenrechtsvertrag machten eine Reform der Kommunikationsgesetze erforderlich und die Stärkung der Meinungsfreiheit. Die jüngeren Finnen sind unter freien Medien aufgewachsen und haben Schulen besucht, deren Lehrbücher der Wahrheit entsprechen. Deshalb sind sie Russland gegenüber anders eingestellt als die ältere Generation.

Da die Finnlandisierung vom Standpunkt der Sowjetunion aus eine Erfolgsgeschichte war, liegt es nahe, dass Russland ihre Lehren wiederholen will. Aus russischer Sicht wäre eine Finnlandisierung ganz Europas ideal, nicht nur der Ukraine. Dieses Bestreben manifestiert sich in zahllosen russischen Versuchen, außerhalb seiner Landesgrenzen Einfluss zu nehmen. Die Methoden sind bekannt: Eine Manipulation der Gemüter und der Sprache, der abwechselnde Einsatz von Zuckerbrot und Peitsche, die Androhung von Gewalt. 

Da in Europa der russischen Einflussnahme oft nicht mit Entschiedenheit begegnet wird, gibt es allen Grund, darüber nachzudenken, wie ein finnlandisiertes Europa oder ein finnlandisierter Norden eigentlich aussehen würde. Das Szenario macht wenig Mut: Die Grundwerte der EU wären nur mehr ein Witz, und die Entscheidungsträger profitierten davon, sich für Moskaus Interessen einspannen zu lassen. Wir würden immer noch Westautos fahren und reisen, wohin wir wollen, an unserem Lebensstandard gäbe es nichts auszusetzen. Die Freiheit des Wortes aber hätten wir nicht mehr, und unsere Medien würden die Presseverlautbarungen Russlands publizieren. Einige Generationen später würden unsere Nachkommen bei dem Gedanken lachen, Russland verletze die Menschenrechte, und diejenigen, die es beklagten, würden als Störenfriede abgestempelt werden, die unter Verfolgungswahn leiden. An den Oppositionsführer Alexej Nawalny würde man sich erinnern als einen Terroristen vom Schlage Osama bin Ladens. Und die Ukraine? Sie wäre ein selbstverständlicher Teil Russlands, ebenso wie das übrige Osteuropa, die Balten wären wahrscheinlich selbst schuld an irgendeinem neuen Krieg, auch wenn vermeintliche "Rassisten" oder "Faschisten" sich noch so sehr bemühten, die Verantwortung dafür Russland in die Schuhe zu schieben. Und die Ostsee wäre eine Kloake, was niemand laut sagen würde. Was wäre dann von Europa anderes übrig als die Hülle?

Damit es so weit nicht kommt, ist es wichtig, die Dinge jetzt klar zu benennen.

Die USA haben vor ein paar Tagen Erkenntnisse ihrer Geheimdienste über einen möglichen Angriff Russlands veröffentlicht. Das hat den Vorteil, dass Russlands Rolle als potenzieller Aggressor niemandem außerhalb Russlands verborgen bleibt. 2014 dagegen rätselten die internationalen Medien lange herum, als wen oder was sie die auf der Halbinsel Krim einmarschierten Soldaten bezeichnen sollten. Als Aggressoren, Angreifer, Besatzer? Diese Verwirrung lag in russischem Interesse, denn der Begriff Angriffskrieg ist eindeutig negativ konnotiert. Wer immer die Wahrheit benennt, dient der Ukraine, denn nach internationalem Recht haben die Staaten ein Recht auf Selbstverteidigung, und genau dieses Recht versucht Russland bei anderen in Abrede zu stellen. Als der Ukrainekrieg 2014 begann, gelang es Russland sehr lange, auch im Ausland ein Narrativ nach seinem Geschmack zu erzeugen, und es schien, als wären die internationalen Medien außerstande, Russland in dem damals aufflammenden Konflikt als reguläre Kriegspartei zu bezeichnen. Jetzt ist die Situation völlig anders. 

Die Sache der Ukraine ist die Sache der ganzen Welt: Wie erfolgreich Putin in seiner aggressiven Außenpolitik ist, wird wegweisend für andere autoritäre Regime sein. Durch Unterstützung der Ukraine unterstützen wir die Demokratie und ihre Werte auch anderswo.  

Ganz unabhängig davon, ob die Kriegshandlungen in der Ukraine nun in größerem Umfang weitergehen oder zurückgefahren werden: Russland hat viel erreicht. In den Augen Außenstehender wirkt die Ukraine noch instabiler als zuvor und ist deshalb für Investoren so uninteressant wie nie, ganz zu schweigen vom Tourismus. Die bilateralen Begegnungen mit den Führern der Welt wecken bisweilen Erinnerungen an den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939. Auch wenn solche Verträge nicht geschlossen werden: Schon eine Anspielung darauf genügt, um Misstrauen zwischen den Ländern Europas zu säen.

Sofi Oksanen wird in Deutschland bei Kiepenheuer & Witsch verlegt. Gerade ist dort ihr siebter Roman "Hundepark" erschienen

 *"Ja, das finnische Volk wusste wirklich, was in der Sowjetunion geschah. Allerdings reiste stets nur ein kleiner Teil der Bevölkerung über die Grenze nach Osten. Die Finnen bekamen dort nur das zu sehen, was propagandistisch als zweckdienlich galt. Und so wuchsen diese Finnen im festen Glauben an die Sowjetliturgie auf." Dieser Passus ist widersprüchlich. Er taucht genau an der Stelle auf, wo die gute Oksanen die Dynamik des finnischen Hyper-Stockholmsyndroms hätte unter die Lupe nehmen müssen, um den heute 20-jährigen zu erklären, wie es dazu kommen kann, dass ein ganzes Volk in einen Dauertrancezustand gerät, der zu geistiger Umnachtung führt. Daran anschließend hätte ich erwartet, dass sie hervorgehoben hätte, dass der geniale Taktiker, der Putin nun einmal ist, parallel zu seiner Außenpolitik dafür gesorgt hat, dass kritische Geschichtsschreibung in Russland nicht nur ohne Reichweite bleiben wird, sondern schlicht verboten ist, weil er verhindern möchte, dass Russland durch moralische Läuterung und Selbstkasteiung so geschwächt wird wie Deutschland. Und dass auf Grund dessen ganz Europa inzwischen im Begriff ist, finnlandisiert zu werden (Italien kehrt nach der Ära Berlusconi quasi zur Finlandisierung zurück, da sich Gestalten wie Speranza und Cuperlo - die für das dickflüssige kollektive Unbewusste der Ex-,Post- und Nochkommunisten repräsentativer (bzw. noch repräsentativer) sind als Enrico Letta - immer mehr durchsetzen). Das Traurigste daran ist, dass ich mir angesichts der Reaktionen auf Beatrix von Storchs Rede gestern diese Finlandisierung fast wünsche.

**Auch diese Überlegung ist nicht schlüssig. Der bewusste Sprachgebrauch ändert sich sehr schnell, wenn eine Sprachpolizei oder sozialer Druck ihm Vorgaben aufzwingen, aber gerade das Unterbewusstsein ändert sich dabei eher langsam, was je nach dem ein Geschenk des Himmels sein kann (wenn man GenderGaga nicht mitmachen will) oder der Hölle (wenn man nicht von den Tiefenwirkungen der Finlandisierung loskommt).

 

 

Andreas Kappeler: Putin ist in der Sowjetunion groß geworden. Er sieht die UdSSR als Modell an, zu dem er zurückkehren will. In der Sowjetunion gab es die Doktrin der Völkerfreundschaft. Die Dominanz der Russen über die anderen Völker war dabei aber nie in Frage gestellt. Die Ukrainer waren zwar als Nation anerkannt. Sie hatten eine eigene Republik, wenn auch mit wenigen Kompetenzen. Dazu kommt die sprachliche, kulturelle und historische Nähe zwischen Ukrainern und Russen. Die meisten Ukrainer waren in der späten Sowjetunion stark russisch assimiliert. Die ukrainische Sprache war marginalisiert. Sie wurde vor allem unter Bauern und einigen Intellektuellen noch gesprochen und in Galizien, im nationalbewussten Westen des Landes. Putin begegnete vor allem diesen assimilierten Ukrainern, die auch im Staat und in der Partei eine große Rolle spielten. Aus russischer Sicht waren das Brüder, mit denen man immer gut ausgekommen ist.

Das änderte sich dann aber mit dem Zerfall der UdSSR 1991.

Plötzlich gab es eine unabhängige Ukraine. Und damit haben sich die russische Öffentlichkeit, die russische Politik und auch Wladimir Putin nie abgefunden. Die Abspaltung anderer Republiken war auch nicht leicht hinzunehmen, die Trennung von den Ukrainern, den kleineren Brüdern, schmerzte viele Russen aber besonders - bis heute. Putin ist da nicht alleine.

Weil Sie von der UdSSR als Modell für Putin gesprochen haben: Glauben Sie, dass Russlands Staatschef eine Art Sowjetunion wiedererrichten will? Es wird ja immer davon gesprochen.

Es gibt dieses berühmte Zitat Putins, in dem er den Untergang der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat. Das weist darauf hin, dass er das Ziel hat, das Imperium - in welchen Grenzen auch immer - wiederzuerrichten. Putin will Russland wieder zu einer Weltmacht wie zu sowjetischen Zeiten machen, eine Macht, die den USA und China ebenbürtig ist. Das ist das zentrale Ziel seiner Außenpolitik. Die Bedeutung dieses postimperialen Traumas für Russland hat der Westen lange unterschätzt. Ex-US-Präsident Barack Obama hat ja einmal gesagt, Russland sei bloß eine Regionalmacht. Das hat nicht nur Putin, sondern viele Russen gekränkt. Heute strebt man danach, wieder gefürchtet zu werden. Und das ist ihm mit dem gewaltigen Truppenaufmarsch jetzt gelungen.

Nun ist Russland trotz des Zusammenbruchs der Sowjetunion immer noch ein riesiger Staat. Ist es nicht ohnehin ein Imperium, auch heute noch?

Der ehemalige US-Geostratege Zbigniew Brzezinski hat zwar einmal geschrieben, ohne die Ukraine sei Russland kein Imperium mehr. Ich glaube aber, dass er sich da geirrt hat - wenn man nur an Sibirien und dessen wirtschaftliche und geopolitische Bedeutung denkt, die für Russland wichtiger ist als die Ukraine. Dennoch will Putin natürlich verhindern, dass sich Kiew ganz in die Arme des Westens begibt.

Hat Putin das nicht selbst befördert mit seiner Politik gegenüber der Ukraine?

Ja, seine Politik hat zur Abwendung der Ukraine von Russland entscheidend beigetragen. Putin sieht die Sache allerdings anders: Demnach hat der Westen unermüdlich die Ukraine unterstützt in ihrer Loslösung von Russland. Putin schreibt ja auch in seinem Aufsatz von der heutigen Ukraine als westlichem Projekt.

Von einem "Anti-Russland"...

Genau. Er wirft dem Westen vor, die Ukraine als Aufmarschgebiet gegen Russland zu missbrauchen.

Ist da nicht auch was dran?

Es stimmt schon, dass der Westen die Ukraine in ihren Bestrebungen zu Demokratie und Loslösung von Russland unterstützt hat. Man vergisst dabei aber gelegentlich, dass dieser Prozess nicht vom Westen initiiert wurde. Es war die Ukraine, die sich immer wieder um Westanbindung, um Beitrittsperspektiven zu EU und Nato bemüht hat. Der Westen hat ihr dabei ständig die kalte Schulter gezeigt und nie eine verbindliche Zusage gemacht. Auch das viel diskutierte Assoziierungsabkommen mit der EU, das im Herbst 2013 von der ukrainischen Regierung nicht unterzeichnet wurde, was den Euromaidan ausgelöst hat, war eine bescheidene Konzession. Es war die Ukraine, die sich für den Westen entschieden hat, nicht umgekehrt. Der Grund dafür war, dass für Kiew das westliche Modell ganz einfach attraktiver war. 

Warum fürchtet Putin eigentlich einen Nato-Beitritt der Ukraine? Schließlich kreisen, seit die baltischen Staaten Nato-Mitglieder sind, die Aufklärungsflugzeuge der westlichen Allianz schon lange unweit von Putins Heimatstadt St. Petersburg, und Russland hat das hingenommen. Ist es das besondere Verhältnis zwischen Russen und Ukrainern, das da eine Rolle spielt?

Dass Putin die historische Einheit der Russen und Ukrainer in einem langen Geschichtsartikel zu beweisen sucht, zeigt, wie wichtig ihm dieses Thema auch persönlich ist. Er glaubt offenbar an die brüderliche Gemeinschaft zwischen Russen und Ukrainern. Ich habe selbst in einem Buch mit dem Titel "Ungleiche Brüder" diese Metapher vom großen Bruder und der kleinen Schwester benutzt. Das Gemeinsame ist da, man ist Mitglied einer Familie, aber es gibt doch ein klares hierarchisches Verhältnis: Der große Bruder ist der kleinen Schwester übergeordnet. Und solange sie ihm gehorcht, liebt er sie. Auch Wladimir Putin bewundert und lobt immer wieder öffentlich die ukrainische Sprache und Kultur und betont, wie nahe er ihr steht. Aber wenn die kleine Schwester nicht mehr pariert und sich sogar aus der Familie verabschieden will, da schlägt der große Bruder zurück. Leider ist es bei Familienstreitigkeiten üblich, dass sie heftiger sind als gewöhnliche Auseinandersetzungen.

Sowohl Russland als auch die Ukraine reklamieren das gemeinsame Erbe der mittelalterlichen Kiewer Rus für sich. Wie geeint war die Rus damals aber wirklich? Gab es diese mythische Einheit der Rus überhaupt oder überwogen die Unterschiede zwischen ihren Zentren? Schließlich handelte es sich ja um ein sehr großes Reich.

Das ist schwer zu beantworten. Es gibt keine Quellen, die über das Bewusstsein der Leute in der Rus Aufschluss geben. Aber es ist doch so, dass im alten Kiewer Reich eine Fürstenkoalition regiert hat, die tatsächlich das ganze ostslawische Gebiet, das dann orthodox wurde, umfasste. Insofern gab es schon viele Gemeinsamkeiten. Was aber noch interessant ist: In Putins Aufsatz taucht immer wieder das Bild der Wiedervereinigung auf. Dass die Ukrainer sich in der Geschichte immer danach gesehnt haben, sich mit dem großen russischen Bruder wiederzuvereinigen, von dem sie durch die Fremdherrschaft der Polen getrennt worden waren. Das ist ein ganz zentrales Element des russischen Bildes von der Ukraine, das auch heute noch seine Wirkung entfaltet. Putin geht offenbar davon aus, dass ein großer Teil der Ukrainer wieder in den Schoß Russlands will.

Ist der Umstand, dass auch heute noch viele Ukrainer Russisch sprechen, eigentlich nur ein Ergebnis der Russifizierungspolitik aus Zaren- und Sowjetzeiten? Oder gab es dieses sprachliche Band auch früher schon? Sie haben einmal erwähnt, dass man im 17. Jahrhundert Übersetzer benötigte, als Kiewer Abgesandte in Moskau waren.

Durch die Einflüsse der polnisch-litauischen Adelsrepublik haben sich die Ukrainer lange nach Westen orientiert und auch sprachlich eine eigenständige Entwicklung genommen. Im 17. Jahrhundert gab es eine ausgebildete ukrainische Schriftsprache mit einer Literatur und Kultur, die von westlichen Geistesströmungen wie dem Humanismus und der Reformation beeinflusst wurde, die es in Russland nur in Ansätzen gab. Die spätere Eingliederung der ukrainischen Gebiete ins russische Imperium trug dann aber zu einer ständigen Russifizierung bei. In der Sowjetunion hat die Ukrainisierungspolitik in den 1920er Jahren diese Entwicklung nur kurzzeitig gebremst. Dabei sollte man die Russifizierung nicht ausschließlich als Politik des Zwanges bewerten. Viele Ukrainer haben daran auch mitgewirkt, indem sie sich in den Dienst des Imperiums gestellt haben. Sie lieferten Anstöße für die Modernisierung und Verwestlichung Russlands, noch bevor sich Russland selbst im 18. und 19. Jahrhundert verwestlichte. Es kam zu einer Assimilation durch Aufstieg, die durch die gemeinsame religiöse Zugehörigkeit zur Orthodoxie erleichtert wurde und die ukrainischen Eliten auch sprachlich russifizierte. Als Ergebnis dieses Prozesses war zu Beginn des 19. Jahrhunderts Ukrainisch als Literatursprache faktisch ausgestorben. Erst durch die damals einsetzende Nationalbewegung wurde es wiederbelebt.

Die Ukraine wird immer wieder beschrieben als zwischen dem nationalbewussten Westen und dem russophilen Osten und Süden geteiltes Land. Selbst heute noch schneiden prorussische Politiker im Osten und Süden gut ab. Was denken die Menschen dort über die aktuellen Gefahren?

Wie Umfragen zeigen, ist eine weit überwiegende Mehrheit der Ukrainer loyal zu ihrem Staat - trotz der forcierten Ukrainisierungspolitik Kiews, die nicht überall gut ankommt. Man kann diese Politik zwar verstehen: Um sich gegen das übermächtige Russisch durchzusetzen, muss das Ukrainische besonders gefördert werden. Eine solche Politik stieß auf den Widerstand vieler russischsprachiger Ukrainer vor allem im Süden und Osten des Landes. Putin spricht diese Menschen ganz bewusst an und spielt sie gegen den ukrainischen Staat aus - nicht ohne Erfolg. Das ist gefährlich.   Andreas Kappler

 

Die Rolle des Westens ist wohl doch etwas schmutziger, als Andreas Kappeler sich das wünscht, wenn  Swassjan recht hat. Mag ja sein, dass die westlichen Regierungschefs der Ukraine die kalte Schulter zeigten und dass wie 1914 vor allem geschlafwandelt wurde... Aber ich kann mich erinnern, dass noch bevor Joschka Fischer wie besoffen die EU-Erweiterung vorantrieb, die NATO bereits über Osterweiterung phantasierte (und ich das damals auch als begrüßenswert ansah, da die NATO 1. die einzige Organisation zu sein schien, die nicht die Orientierung verloren hatte und 2. man sogar darüber spekulierte, die Russen ins Boot zu holen!!). Dass Swassjan ein Anthroposoph ist, spricht zunächst gegen ihn. Aber selbst unter Anthroposophen gibt es merkwürdigerweise sehr intelligente Männer. Wie das ja auch bei Stefan Mickisch der Fall war.

 

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