„Alles in unserer Welt ist heute austauschbar“*
Ute Cohen interviewt Alain Finkielkraut
WELT:
Monsieur Finkielkraut, Sie zeichnen ein düsteres Bild von einem
dekadenten Frankreich, einem dekadenten Europa. Der Islamismus verwüstet
den Westen, das Bildungsniveau sinkt. Wie sind wir so weit gekommen?
Alain
Finkielkraut: Ich würde eher von einem im Niedergang begriffenen Europa
sprechen als von Dekadenz. Dekadenz ist anders konnotiert, etwa mit
einem ausschweifenden Lebensstil**. Wir befinden uns im Zeitalter des
Nihilismus. Das haben zahlreiche große Philosophen bereits vor mir
festgestellt, etwa Alexis de Tocqueville. Sein Buch „Über die Demokratie
in Amerika“ (von 1835; d. Red.) ist eines der bedeutendsten Werke der
modernen politischen Philosophie.
Die
moderne Demokratie ist nicht nur ein System, sondern auch eine
Bewegung, geleitet von der Idee der Gleichheit unter Mitmenschen. Keine
einzige Hierarchie widersteht ihr. Das lässt sich am Begriff der Kultur
zeigen: Die soziologische Bedeutung verdrängt die humanistische. Kultur
ist nicht mehr der Schatz des menschlichen Gedächtnisses, sondern
umfasst ohne Unterschied alle gesellschaftlichen Aktivitäten. Auch die
Unterscheidung zwischen Bürger und Fremdem trübt sich ein. Hinzu kommt,
dass wir in einer post-hitlerischen Gesellschaft leben und der
Antirassismus unser Kompass ist. Dieser Antirassismus aber verkommt zum
Alibi des Nihilismus.
WELT:
Einer starken Gesellschaft kann ein äußerer Feind kaum etwas anhaben.
Mit dieser Aussage beziehen Sie sich auf den antiken Geschichtsschreiber
Polybios, der die These aufstellte: Keine Zivilisation falle einem
Angriff von außen zum Opfer, wenn sie nicht schon durch ein inneres Übel
geschwächt sei. Was ist das innere Übel der westlichen Gesellschaft?
Finkielkraut:
Der Nihilismus. Ich muss mich aber auch auf einen heiklen, wenngleich
unvermeidlichen Denker beziehen: Heidegger. Technik ist für ihn die Art
und Weise, wie die Welt sich uns enthüllt. Alles in unserer Welt ist
heute produzierbar, formbar und letztlich austauschbar. Besonders zeigt
sich das beim Gendern und bei der Trans-Thematik. Menschen, die ihr
Geschlecht wechseln möchten, werden zu Idolen, da mit ihnen sogar die
Geschlechterdifferenz, die letzte Zone der Unverfügbarkeit,
verschwindet. Alles wird zum Objekt einer Wahl. Alles ist formbar und
manipulierbar.
WELT:
Gleichzeitig scheint die Selbstzerstörung des Westens im Sinne einer
„Unterwerfung“ in vollem Gange. Der Islam ist zur zweitgrößten Religion
in Frankreich geworden, in vielen Städten sogar zur größten. Erweist
sich der Humanismus, der eine Stärke des Westens war, heute als seine
Schwäche?
Finkielkraut:
Ja, vom umfassenden Begriff des Humanismus in der Renaissance verbleibt
derzeit nur der humanitäre Aspekt. Man eilt in einer totalen Verblendung
allen zu Hilfe, den Mittellosen und Benachteiligten, an erster Stelle
den Migranten. Die kalkulierende Vernunft und die humanitäre
Leidenschaft gehen von einer gemeinsamen Überzeugung aus: der
Austauschbarkeit der Individuen. Individuen aber sind nicht
austauschbar. Ein Volk hat auch ein kulturelles Erbe. Will man das nicht
wahrhaben, erzeugt man gewaltvolle Zustände. In Frankreich spricht man
von „verlorenen Gebieten“. Diese Gebiete wurden vom Islam erobert. Milan
Kundera sprach schon vor Jahrzehnten von einem „gekidnappten Okzident“.
WELT:
Literatur und Recht bewahren uns normalerweise vor ideologischem
Denken. Derzeit, schreiben Sie, erlebten wir jedoch eine
Kulturrevolution. Was genau meinen Sie?
Finkielkraut:
Die literarische Perspektive der Dinge hat immer weniger Platz in
unserer Gesellschaft. Es gibt Schriftsteller und Bücher, aber sie prägen
uns nicht mehr. Man sieht das am Feminismus: In der
#MeToo-Kampagne
wirkten Frauen, als hätten sie alle die gleiche Erfahrung gemacht. Die
Unterschiede verschwanden und wurden nicht mehr respektiert, als müsste
sich die Welt auf die Konfrontation zweier Blöcke reduzieren: Herrscher
und Beherrschte. Virginia Woolf hatte zu Recht beklagt, dass sich Frauen
nicht in „Ein Zimmer für sich allein“ zurückziehen konnten. Heute
verwandelt sich dieses Zimmer in einen großen gemeinsamen Schlafsaal der
Schwesternschaft. Literatur gründet im Individuum. Die
post-literarische Zeit aber löst das Individuelle im Allgemeinen auf.
WELT:
Antirassistische Aktivisten und der politische Islam können auf
Neofeministinnen und die Linke setzen, die Ihrer Ansicht nach jedes Maß
und jeden Maßstab verloren haben.
Finkielkraut:
Es ist absurd, dass inzwischen von einem einzigen Patriarchat die Rede
ist: Ob Iran oder Deutschland, das wird alles in einen Topf geworfen.
Die aktuelle Kritik am Patriarchat ist ein einziger Witz! Was
Neofeministinnen heute Patriarchat nennen, ist die Zivilisation selbst.
Man sollte sich wieder daran erinnern, dass Privatleben einen Eigenwert
besitzt und dass Privates und Politisches nicht vermischt werden dürfen.
Das Private ist nicht politisch.
WELT:
Zeitgenössische Literatur erschöpft sich oft in einer soziologischen
Anklage und Klage, so zum Beispiel bei Édouard Louis. Wird die Literatur
so zugrunde gehen, frei nach T.S. Eliot, nicht mit einem Knall, sondern
einem Wimmern?
Finkielkraut:
Glücklicherweise beschränkt sich Literatur nicht auf Édouard Louis. Er
sagte, wenn man nicht gegen den Rassismus anschreibe, brauche man
überhaupt nicht zu schreiben. Schreibt man aber für oder gegen etwas,
dann hat man das Feld der Literatur bereits verlassen. Ich dachte, die
Zeit der politischen Schriftsteller wäre vorüber. Stattdessen kommt sie
mit noch größerer Wucht zurück. Damals schrieben die Schriftsteller für
die „gute Sache“ und standen damit nicht selten im Dienst totalitärer
Regimes. Heute geht es ganz allgemein um Unterdrücker und Unterdrückte,
wobei die Begriffe speziell definiert werden. Dennoch glaube ich nicht,
dass die Literatur erlöschen wird. Ein Meisterwerk kommt einem Wunder
gleich. Es wird immer gute Bücher geben, aber werden sie auch rezipiert
werden?
WELT: Die
Realität scheint durch Trugbilder und Scheinwelten ersetzt worden zu
sein. Sie nennen dieses Phänomen nach Flauberts berühmter Romanfigur
Madame Bovary: „Bovarysmus“. Was genau meinen Sie damit?
Finkielkraut:
Wir verbringen unser Leben damit, uns Geschichten zu erzählen. Die
Literatur erzählt uns Geschichten, damit wir selbst uns keine
Geschichten mehr erzählen müssen. Literatur befreit uns von
Wahnvorstellungen. Madame Bovary verlor sich beim Lesen in einer
Traumwelt. Auch heute verlieren sich viele in Wunschvorstellungen. Die
Frage ist aber, welchen Büchern wir Priorität geben. Je mehr sich die
Literatur von uns entfernt, desto stärker werden unsere Trugbilder.
WELT: Parallel zu diesen Scheinwelten konstatieren Sie einen Wahnsinn der Vernunft. Sehen Sie die Aufklärung in Gefahr?
Finkielkraut:
Ich weiß nicht, ob ich nur auf die Aufklärung ziele. Wir sind die Erben
eines dreifachen Nachlasses: des Humanismus, der Aufklärung und der
Romantik. Wir müssen alle drei behüten und dafür sorgen, dass kein
Bereich die Oberhand über den anderen bekommt. Habermas ist der Ansicht,
dass die Romantik direkt zum „Dritten Reich“ führte. Nein, das ist ein
Kurzschluss! Wir leben in sinnlichen Heimaten. Unsere Heimat existiert
auch körperlich. Heimat bedeutet auch Fleisch und Blut.
WELT:
Glauben Sie an Emmanuel Macrons Realitätssinn, an seine Fähigkeit,
sowohl das islamistische Problem als auch die Verschlechterung der
materiellen Lage der Franzosen in den Griff zu bekommen?
Finkielkraut:
Ich bin mir nicht sicher, ob er das wirklich will. Er ist sich des
demografischen Wandels bewusst, aber er will nicht zu weit gehen. Er
will diejenigen, die um die nationale Identität besorgt sind,
zufriedenstellen, aber auch diejenigen, die jegliche Form von Identität
zurückweisen. Macrons Problem ist, dass er stets zwischen beiden Gruppen
navigiert. Frankreich aber verdient eine Regierung, die zwei zentrale
Probleme tatkräftig anpackt: die Migration und den Zusammenbruch des
öffentlichen Bildungssystems.
WELT:
Nicht wenige öffentliche Personen trauen sich nicht mehr, ihre Meinung
zu äußern, weil sie Angst vor Mobbing haben. Sie hingegen wirken
kämpferisch. Wie schaffen Sie es, aufrechtzubleiben?
Finkielkraut:
Ich frage mich immer: Was hätte ich während der Résistance, während des
Widerstands im Zweiten Weltkrieg getan? Hätte ich meine Angst
überwunden? Ich weiß es nicht. Heutzutage gehe ich doch kein besonders
hohes Risiko ein mit meiner Haltung. Ich bin alt. Was soll mir
passieren? Mir liegt vor allem eines am Herzen: Ich möchte die Menschen,
die mir am meisten bedeuten, nicht enttäuschen.
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