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Sonntag, 2. Dezember 2018

1. Advent



Erster Advent, oder, wie es heute heißt: mit einer Kerze 200 Mikrogramm Stickstoffoxid pro Kubikmeter auf relativ kleinem Raum erzeugen. Bekanntlich handelt es sich bei dem Einkerzenkranz nur um des schrecklichen Anfang, aber auch 200 Mikrogramm sind schon das Fünffache des Grenzwertes für den Straßenverkehr, bei dessen geringfügiger Überschreitung in Deutschland ohne Zögern eine halbe Innenstadt oder eine Ruhrgebietsautobahn für ältere Diesel gesperrt wird.Und zwar ohne nennenswerte Aufregung bei den praktisch enteigneten Besitzern älterer Diesel, die ein wenig murren und sich abends im Fernseher die Protestbilder aus Paris erklären lassen*. Das Faszinierende, ja geradezu Unheimliche daran ist, dass jeder –wirklich jeder – mittlerweile über die Absurdität des 40-Milligramm-Grenzwertes hinreichend unterrichtet ist. Beziehungsweise über die Gefährlichkeit von Adventkränzen.

Aber ohne die Fähigkeit, mitzumachen und mitzuziehen, und zwar auch und gerade bei dem offensichtlichsten Blödsinn, ohne diese fast singuläre Tugend dieses Landes bliebe schließlich jede große gesellschaftsverändernde Maßnahme in der Etappe stecken.
Übrigens: Wenn zu Zeiten der DDR die Insassen des Staates eine herausragend groteske Entscheidung ihrer Führung mit dem Spruch bedachten: „die Genossen werden sich schon etwas dabei gedacht haben“, dann war das damals ganz überwiegend ironisch gemeint und entspricht ganz und gar nicht der eigentlich nur in Westdeutschland gebräuchlichen Redensart: „Das kam aber im heute-journal.“
*Dass die gewalttätigen Ausschreitungen während der Gelbwesten-Demonstration in Paris durch die so genannten Casseurs vom Staat organisiert worden wären, um die Bewegung zu diskreditieren – gegen diese Erzählung führt Manfred Haferburg aus der Achse des Guten solide Gründe an. Der in Paris lebende Autor beschreibt, wie sich die Casseurs von ganz allein zeigen, wenn es Aussicht auf Randale gibt. Und außerdem, dass die meisten Franzosen das Phänomen ganz gut einordnen können, anders als die meisten deutschen TV-Anstalten.
In der Schweiz liegt der Grenzwert für Stickstoffoxid an Arbeitsplätzen bei 6000 Mikrogramm pro Kubikmeter (Deutschland 950). In der eben vergangenen Woche wurde eine zuerst in “The Lancet” veröffentlichte Studie über die Lebenserwartung der Europäer bekannt. Danach stehen Schweizer alpenhoch an der Spitze (Frauen über 85 Jahre, Männer 82, 1). Auf dem letzten Platz unter allen Westeuropäern rangieren die Deutschen mit 83,1 und 78, 2 Jahren.

Einen linearen und monokausalen Grund wollen wir nicht behaupten, wir sind ja nicht die Deutsche Umwelthilfe und heißen nicht Jürgen Resch, bei dem die Deutschen jährlich in Divisionsstärke an Stickstoffoxid sterben, allerdings nur rein rechnerisch. Aber dass das Mutterland der Feinstaubzonen, der abgeschalteten Atomkraftwerke und der Gen-Angst bei der Lebenserwartung, um mit Angela Merkel zu sprechen, noch Herausforderungen zu bewältigen hat: dieser Umstand gehört schon in die große und wachsende Rubrik nicht von direkt falschen, aber grob unhilfreichen Statistiken.

Wer behauptet, bei der Deutschen Umwelthilfe handle es sich um einen windigen und zeitweise auch von Toyota mitfinanzierten Abmahnverein, der mithilfe völlig abstruser Grenzwerte die deutsche Autoindustrie gerade erfolgreich zerschießt, so einer gehört höchstwahrscheinlich zur Kategorie der Verschwörungstheoretiker.
So wie auch der stellvertretende Vorsitzende der Unionsbundestagsfraktion Arnold Vaatz, der in der vergangenen Woche nicht nur nicht für den UN-Migrationspakt stimmte, sondern auch noch öffentlich erklärte, bei dem abermaligen und verschärften Rauswurf des Berliner Stasi-Gedenkstättenleiters Hubertus Knabe durch den Berliner Linkspartei-Kultursenator Klaus Lederer handle es sich um eine politische Intrige. „Im Bundestag gilt Vaatz als Verschwörungstheoretiker“, informierte der Tagesspiegel seine Leser, ohne näher ins Detail zu gehen. Beim Tagesspiegel gilt es als Journalismus, anonyme Stimmen etwas über Leute behaupten zu lassen, die der Redakteur schlecht aussehen lassen will, ohne etwas Brauchbares gegen sie zu finden. In dem von Vaatz angesprochenen Fall des gefeuerten Hubertus Knabe gibt es nun tatsächlich Details mit der Anmutung eines Films über eine Verschwörung, wobei es allerdings ein bisschen zu knüppeldick kommt, um noch als glaubwürdig durchzugehen. Da schrieben mehrere Frauen der Stasi-Gedenkstätte an den Senator und schilderten Belästigungsvorwürfe gegen Knabes Stellvertreter. Der informierte nicht etwa Knabe, den zuständigen Direktor, sondern traf sich mit den Frauen und nutzte die Zeit, um eine Mehrheit für die Abberufung Knabes im Stiftungsrat zu organisieren. Dann ging in Lederers Behörde ausgerechnet eine Akte verloren, die Knabe von dem Vorwurf entlastet, nichts zur Aufklärung der anonymen Belästigungsvorwürfe getan zuhaben, von denen er später auf Umwegen doch erfuhr. Und Anfang vergangener Woche, nachdem das Landgericht Berlin die sofortige Weiterbeschäftigung Knabes als Direktor verfügt hatte, hebelte der Linkspartei-Senator diesen Beschluss mit Hilfe einer anderen Kammer und offenbar wohlgesonnenen Richtern wieder aus. Wie gesagt, es klingt ein bisschen überdreht, mit anderen Worten, wie ein dystopisches ARD-Fernsehspiel über einen rechten Politiker, der 2020 einen linken Kritiker kaltstellen lässt. Da es aber im richtigen Leben stattfindet, könnte man sogar von einer Verschwörungspraxis sprechen.
Um zu Vaatz zurückzukommen: Wer das tut – genau wie jemand, der den UN-Migrationspakt kritisiert – muss damit rechnen, ein Verschwörungstheoretiker genannt zu werden.

Im englischen Sprachraum gibt es dafür den Begriff Gaslighting, abgeleitet von Patrick Hamiltons später verfilmtem Bühnenstück Gaslight von 1938: Dort versucht ein Mann, seine Ehefrau davon zu überzeugen, sie sei wahnsinnig, um sie in eine Anstalt abzuschieben. Er entwendet eine Brosche und redet ihr ein, sie habe das Schmuckstück verloren. Plötzlich fehlt ein Bild in der Wohnung; er sagt, dort habe nie eins gehangen. Das Gaslicht in der Wohnung dimmt sich scheinbar selbst auf Funzelstärke herunter und leuchtet dann wieder hell. Der Mann behauptet, er könne nichts Auffälliges erkennen, seine Frau bilde sich das Lichtflackern ein. Nach einer Weile glaubt sie tatsächlich, sie sei auf dem Weg, verrückt zu werden. Gaslighting bedeutet also, jemandem seine Wahrnehmung auszureden und ihn davon zu überzeugen, mit ihm stimme etwas nicht.
Im Bühnenstück beziehungsweise im Film klärt sich am Ende alles auf.
So läuft es im Drama immer. Anderenfalls könnte man das Stück ja keinem Publikum zumuten.

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