Wer als Kunde der Deutschen Bahn im Bordrestaurant ein Essen verzehrt,
bekommt grundsätzlich die Chance, bei der Nahrungsaufnahme auch etwas
Gutes zu tun. In der Speisekarte findet sich jedenfalls der Hinweis: „Mit jedem bestellten Gericht gehen 10 Cent an den Bergwaldprojekt e. V.“.Bei
der vorletzten Fahrt des Wochenrückblickschreibers erledigte sich
allerdings die Frage, wo denn die begünstigten Bergwälder liegen, denn
wegen des populären Bahn-Features heute reduziertes Speiseangebot gab es kein einziges 10-Cent-Zuschlagsgericht.
Bei der Bahn handelt es sich grundsätzlich um ein gutes Unternehmen.
In der ersten Klasse – aber nur dort – fährt der Reisende mit Ökostrom.
(Fragen Sie mich nicht a) nach den Details und b) danach, womit der
Reisende im klassenlosen Bordrestaurant durch die Gegend spediert wird).
Denn das ist glasklar ein Adiaphoron, theologisch eine sittliche oder kultische Angelegenheit, die in Bezug auf Heil oder Rechtgläubigkeit unerheblich
ist. Ganz im Gegensatz zu einem Imagefilm, den die Bahn vor einiger
Zeit in Auftrag gab; dort ist ein milchbrötchenhafter biodeutscher
Medizinstudent zu sehen, der angeblich für die morgen stattfindende
Prüfung lernt, sich aber in seinem Selbstgespräch so anhört, als würde
er zum ersten Mal in ein Medizinlehrbuch schauen, worauf ihm eine
patente bekopftuchte Muslima auf die Sprünge hilft, die schon weiß, wo Gott den nucleus accumbens gelassen hat.
In
der vergangenen Woche wurde bekannt, dass die Pünktlichkeitsquote der
Bahn im November auf 70 Prozent gefallen ist (was bedeutet, dass 70
Prozent der Züge nur unerheblich später ankommen). Von der ICE-Flotte
sind 20 Prozent der Züge komplett funktionstüchtig, es gibt sie damit
nur unwesentlich häufiger als alleinreisende verschleierte
Medizinstudentinnen. Ebenso viele Züge, ein Fünftel, stehen kaputt in
Depots. Mit anderen Worten, die Bahn nähert sich der Bundeswehr an.
Daher das Feature reduziertes Waggonangebot. Immer öfter fehlen Wagen, manchmal auch der halbe ICE.
Als
mittelfunktionstüchtig gelten ICEs, bei denen es beispielsweise Schäden
in der Bordküche gibt. Im Sommer sagte mir ein Bistroangestellter, die
Kühlung in der Küche funktioniere nicht, daher das sehr reduzierte
Speiseangebot. Er winkte mich in den eigentlich nur für Personal
zugänglichen Bereich; dort stand tatsächlich ein Eimerchen, das aus der
Deckenverschalung tropfendes Wasser auffing. Kürzlich fuhr ein ICE, in
dem ich leider von Berlin nach München musste, eine
120-Minuten-Umleitung. Auf der Nebenstrecke merkt der Reisende erst, wie
es dort um die Gleise steht – der Zug ächzte und schlingerte wie ein
Kahn im Sturm – und wie sich ein Mobilfunknetz jenseits der großen
Trassen auf dem Telefondisplay in Gestalt huschender kleiner
Signalbalken zwischen den Funkwüsten bemerkbar macht. Deshalb kostete es
extra viel Zeit, per Google ein, zwei muslimische Twitterer zu suchen,
die sich über den Anschlag in Straßburg ungefähr so intensiv aufregten
wie andere kürzlich über die Blutwurst auf dem Büffet der deutschen
Islamkonferenz, die dort provozierend neben zwölf anderen Häppchensorten
herumlagen.
Weitere Bahnfeatures sind drei in einer Reihe
gesperrte WCs, der so genannte Blasenhattrick; der gewitzte Vielfahrer
bricht beizeiten auf, denn vor der nächsten funktionierenden Toilette
staut sich schon eine Wartegemeinschaft, die höchst albern von einem
Bein aufs andere hampelt, als ob das was nützen würde. Nach zehn
Sekunden hampelt man mit. Jetzt bloß nicht an die tropfende Decke in der
Küche resp. Regenwald denken. Quatsch, es war ja Bergwald.
Der
Verkehrsstaatssekretär Enak Ferlemann sagte in der vergangenen Woche, so
könne es nicht weitergehen. Er forderte eine Organisationsreform der
Bahn AG. Wahrscheinlich wird sie einfach mit der Bundeswehr
zusammengelegt.
Man sollte mit Gleichnissen vorsichtig sein – aber
ein bisschen spricht ein staatliches Beförderungsunternehmen doch für
ein Land. Der Rückblickschreiber war vor einiger Zeit mit der Schweizer
beziehungsweise der tschechischen Bahn unterwegs. Die Züge fuhren
einigermaßen pünktlich, die WCs funktionierten, auf der umfangreichen
Speisekarte war alles zu haben, so weit, so populistisch. Sie machen es
sich, um mit der Kanzlerin zu sprechen, zu einfach. Virtue signalling funktioniert vielmehr als unique selling point einer Firma und eines Landes, jedenfalls dann, wenn sonst ziemlich viel kaputt ist.
In der verzischten Woche lehnte eine Waldorfschule in der
teilfunktionierenden Stadt Berlin die Aufnahme des Kindes eines
AfD-Politikers mit der Begründung ab, es könnte anderenfalls Konflikte
geben. Im November hatte die Deutsche Bank das Konto des AfD-Politikers
Nicolaus Fest gekündigt. Die Golden Bar im Münchner Haus der Kunst zeigte Haltung
und weigerte sich, die stellvertretende
AfD-Landtagsfraktionsvorsitzende Katrin Ebner-Steiner zu bedienen, die
dort dreist essen wollte. Vor ein paar Tagen rief der FDP-Politiker
Hans-Ulrich Rülke im Stuttgarter Landtag in Richtung AfD und
insbesondere des Abgeordneten Stefan Räpple: „Die geistigen Vorläufer von Leuten wie Herrn Räpple sind im Stechschritt durch das Brandenburger Tor marschiert.”
Bei
der Debatte, in der er das feststellte, ging es übrigens um die so
genannte Kindergartenbroschüre von Anetta Kahanes
Amadeu-Antonio-Stiftung, versehen mit einem Vorwort der
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, die Erzieherinnen unter
anderem dazu anleiten soll, an der Haartracht von Mädchen (Zöpfe) die
politische Gesinnung der Eltern abzulesen.
Die letzten, die Unter den Linden in Berlin mit Stechschritt marschierten, waren allerdings nicht die Nazis und auch nicht Monty Python, sondern die Soldaten der NVA-Wachkompanie, die zum großen Wachaufzug
unter den Linden mit Schellenbaum und Stiefeltritt paradierten –
während Anetta Kahane sich irgendwo in der Nähe mit ihrem
Stasi-Führungsoffizier traf – um mit Tschingdirassabum die Opfer von
Faschismus und Militarismus zu ehren. Es hieß seinerzeit bei dem
Wachaufzug tatsächlich: „Zur Ehrung der Opfer des Faschismus und Militarismus – präsentiert das Gwehr.“
Militarismusopfer
mit Stechschritt zu gedenken, das ist ungefähr so, wie im Kampf für
Vielfalt und Humanismus bestimmten Kindern den Privatschulbesuch zu
verweigern oder bestimmte Leute im Restaurant nicht zu bedienen.
Insofern – nicht nur, was die Qualität der Deutschen Reichsbahn angeht –
war die DDR weit voraus.
Aber zurück zu dem Stuttgarter FDP-Mann:
Die Figur des geistigen Vorläufers ist ausbaubar. Am besten in Form
eines Geistesahnenpasses. Die meisten würden dort wahrscheinlich unter geistige Urgroßeltern eintragen: Hans und Sophie Scholl. Natürlich nicht jeder, sondern nur diejenigen, deren Lebensführung dazu berechtigt.
Es
heißt zwar immer, Tugend benötige keine Belohnung, sie habe ihren Lohn
in sich selbst. Aber es braucht auch Pragmatismus, auch und gerade in
einem guten Land.
Ich finde, wer den Doppelschollpass trägt, der sollte in der Schlange vor der funktionierenden Bordtoilette des ICE Anne Frank eins vorrücken dürfen. Wendt
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