Die Würdigungen zu Helmut Schmidts 100. Geburtstag sind durchweg
respektvoll. Respektvoll, aber selektiv, und zwar so selektiv, daß mehr
ausgeblendet wird, als bei solcher Gelegenheit üblich. Vor kommt Helmut
Schmidt „der Macher“, der Manager, der Retter Hamburgs bei der Sturmflut
von 1962, der Kanzler, vielleicht auch „Schmidt Schnauze“, der
Kettenraucher und Arbeitswütige, der Hanseat, der Kämpfer gegen den
Terrorismus.
Es fehlt eigentlich immer der tragisch Gescheiterte, „der große Mann
mit kleiner Wirkung“, wie der Historiker Golo Mann schon zu Schmidts
Lebzeiten urteilte, einer, der für andere Gelegenheiten vorgesehen war,
die sich aber nicht boten.
Das hatte ganz wesentlich damit zu tun, daß die Bundesrepublik nach
dem Ende der Ära Adenauer in eine Führungskrise geriet, die weder die
Nachfolger aus den Reihen der Union, noch Willy Brandt, der erste
sozialdemokratische Bundeskanzler, lösen konnten. Brandt, der
Fraktionschef Herbert Wehner und Schmidt bildeten eine „Troika“ an der
Spitze der SPD, aber die Spannungen zwischen ihnen waren offensichtlich
und verschärften sich noch nach dem überraschenden Sturz Brandts.
Schmidt folgte ihm im Amt, aber Brandt opponierte heimlich oder offen
gegen ihn und ließ sich willig zur Stimme der innerparteilichen wie der
neuen außerparlamentarischen Opposition der Bürgerinitiativen und
Basisbewegungen machen. Gegen dieses Bündnis konnte sich Schmidt zuletzt
nicht behaupten.
Schmidts Rücktritt 1982 war ganz wesentlich darauf zurückzuführen,
daß die SPD-Linke ihm die Unterstützung der amerikanischen Nachrüstung
nicht verzeihen wollte. Dabei hat Schmidt mit einer für ihn
ungewöhnlichen Geduld immer wieder erklärt, warum er die Aufstellung von
Mittelstreckenraketen als notwendig erachtete. Hörigkeit gegenüber
Washington war das nicht.
Für ihn als Realisten ging es vielmehr um das empfindliche
militärische Gleichgewicht in Europa, das erhalten und nicht durch
irgendwelche Schwärmereien fürs „Frieden schaffen ohne Waffen“ gefährdet
werden sollte. Daß er sich damit nicht nur gegen die tonangebenden
Kreise, sondern auch gegen eine einflußreiche Strömung in der eigenen
Partei stellte, irritierte ihn kaum.
Schmidt war von seinem ganzen Wesen ein Einzelgänger, wegen seines
Fleißes und seiner Kompetenz widerwillig geschätzt, aber kühl und
jemand, von dem behauptet wurde, daß er mit dem Genossen-Du stets
Schwierigkeiten hatte. Eine Feststellung, die im Zusammenhang gesehen
werden muß, mit dem Grund, den er für seinen Entschluß zum Eintritt in
die SPD genannt hat.
Gesprächsweise äußerte er einmal, daß es im wesentlichen das
„Erlebnis der Kameradschaft im Kriege“ war und daß er dann, als junger
Wehrmachtsoffizier in britischer Gefangenschaft begriffen habe, daß der
Kameradschaft und dem Sozialismus „letztlich ähnliche“ Vorstellungen und
Werte zugrunde lägen.
Mit dieser Haltung hat Schmidt in seiner Partei früh Anstoß erregt,
die immer noch auf Marx, Planwirtschaft und Pazifismus eingeschworen
war. Als er 1958 freiwillig an einer Reserveübung der Bundeswehr
teilnahm, kostete ihn das seinen Sitz im Fraktionsvorstand, und auch
eine Stellungnahme zur Erhebung vom 20. Juli 1944 im Folgejahr sorgte
für erhebliche Irritation: Darin erklärte Schmidt, daß er wie die
meisten Deutschen den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes nicht
von Anfang an habe erkennen können.
Als der schließlich durchschaubar geworden sei, hätten das Attentat
auf Hitler und der anschließende Staatsstreichversuch zu einem weiteren
Dilemma geführt, da sie „das Leben vieler Soldaten an der Front
zusätzlich gefährdeten, während andererseits die von uns für sittlich
geboten erachtete ‘Pflichterfüllung’ zur Verteidigung unseres Landes
gleichzeitig und zwangsläufig der Fortdauer des Hitler-Systems zugute
kam. Anders ausgedrückt: Wir hofften auf das Ende der Nazi-Herrschaft
und konnten doch die bedingungslose Niederlage unseres Volkes keineswegs
wünschen!“
Schmidt sprach damit etwas aus, was viele ehemalige Soldaten und
überhaupt die Angehörigen der Kriegsgeneration so sahen, aber nicht die
Doktrinäre in den Reihen der SPD. In der Partei gehörte er nie ganz
dazu, verfügte über keine Hausmacht, trotz der Unterstützung durch die
„Seeheimer“ und obwohl es viele Mitglieder und Wähler gab, die
seinetwegen und nur seinetwegen der Partei in den siebziger Jahren die
Treue hielten. Sie zog an, was die linken Intellektuellen und die Schwärmer abstieß:
ein auch aus dem Protestantismus gespeister Wirklichkeitssinn, der
Schmidt dazu führte, daß er im „Sozialismus“ nie eine Utopie oder ein
Wolkenkuckucksheim sah, sondern eine gerechte, auf Ausgleich der
Gegensätze beruhende Ordnung der Nation. Er stand damit in einer
Überlieferung, die von Ferdinand Lassalle über Friedrich Ebert, Gustav
Noske, Hermann Heller, Carlo Mierendorff und Julius Leber bis zu Kurt
Schumacher reichte. Nichts, wovon seine Partei irgendetwas wissen will. KW
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