Dan Diner ist ein brillanter Denker. Instabilität muss aber nicht
automatisch gefährlich sein. Sie kann kreativ wirken. Mehr Kreativität
und weniger Konformität durch Stabilität täte Deutschland gut. Geistiger
Mehltau hat sich über Land und Leute gelegt. Es gibt intellektuell
nichts Langweiligeres als die Berechenbarkeit von Gedanken. Die hat
hierzulande einen kaum zu ertragenden Geistesmief geschaffen. Einer der
wenigen, die deutsche Fenster aufstoßen und das deutsche Haus geistig
lüften, ist Dan Diner.
Welche Folgen für die jüdische Gemeinschaft könnte der aktuelle Bedeutungsverlust der großen Volksparteien mit sich bringen?
Nicht die Parteien sind das Problem, sondern die Veränderungen in der
Gesellschaft. Parteien sind meistens nur das Sprachrohr von Teilen der
Gesellschaft, lateinisch »pars«. Daher das Wort Partei. Um von ihrer
Teilgesellschaft gewählt zu werden, tritt die jeweilige Partei an und
versucht, weitere Teile zu gewinnen. Unausgesprochen fragen Sie nach der
AfD. Ja, in der AfD gibt es Antisemiten, aber auch solche, die keine
sind, und sogar Juden. Man vergesse nicht, dass ein Drittel der
französischen Juden 2017 Le Pen gewählt hat. Wer falsche Diagnosen
erstellt, ist unfähig zur Therapie. Wer, wie auch ich, die Neue Rechte
in ganz Europa bekämpft, sollte von der richtigen Diagnose ausgehen.
Eine immer größere deutsche Teilgesellschaft wird die uns mehrheitlich
leider nicht wohlgesonnene muslimische. Schon aufgrund ihrer im
Vergleich zu uns Juden großen Zahl werden außer der AfD die übrigen
Parteien Muslime umwerben. Ob das »gut für die Juden ist«, darf
bezweifelt werden. Ich erwarte mittelfristig ohnehin die Gründung einer
muslimischen Partei. Diese wird sich später spalten, in je einen
gemäßigten und einen extremistischen Teil.
Die deutsch‐israelischen Beziehungen sind in den Bereichen
Wirtschaft, Forschung und Wissenschaft oder Sicherheit enger denn je.
Trotzdem scheint auf politischer Ebene eine gewisse Entfremdung
stattzufinden. Ist das richtig?
Seit den frühen 80er‐Jahren ist das so. Nichts Neues unter der Sonne –
um endlich eine jüdische Quelle zu zitieren. Hier reagiert die Politik
auf die Gesellschaft und steuert auch hier nicht. Sie wird gesteuert.
In Ihrem aktuellen Buch »Friedenskanzler – Willy Brandt
zwischen Krieg und Terror« thematisieren Sie dessen nicht ganz
unproblematisches Verhältnis zu Israel und den Juden. Inwieweit strahlt
das Erbe Brandts auf die heutige SPD noch aus?
Schon vor Brandt waren die SPD‐Veteranen, wie auch die späteren
SPDler, keine Antisemiten, aber es missfiel ihnen, dass die meisten
Juden liberale Parteien wählten. Und den Zionismus mochten sie eh nicht.
Auch Brandt nicht. Seine größte Fähigkeit bestand darin, dass er das
Gras in der deutschen Gesellschaft wachsen hörte – besonders bei den
damals Jungen, den 68ern, die ab 1969 scharenweise in die SPD strömten.
Die waren, freundlich formuliert, weder Juden‐ noch Israelfreunde. Ganz
in deren Sinne verkündete Brandt intern schon am Anfang der
SPD‐FDP‐Koalition, dass er eine Israelpolitik »ohne Komplexe« betreiben
werde. Gesagt, getan. Ende 1970 hatten er und seine Regierung unendlich
viel jüdisches und israelisches Porzellan zerschlagen. Der Kniefall am
Warschauer Ghetto‐Mahnmal lässt viele vergessen, dass Brandt damals
absichtlich keinen Juden mit nach Warschau nahm. Als Israels Existenz im
Jom‐Kippur‐Krieg Spitz auf Knopf stand, verbot er den USA, für Israel
lebenswichtige US‐Waffen aus der BRD nach Israel zu liefern. Der
Beispiele sind im Buch viele. Freunde handeln anders. Das strahlt bis
heute aus.
In meinem
Willy‐Brandt‐Buch dokumentiere ich rund 100 Jahre SPD‐Politik gegenüber
Juden und Israel und räume mit der Legende einer traditionellen,
ungebrochenen Juden‐ und Israelfreundschaft der SPD auf. Es gab freilich
ganz echte Juden‐ und Israelfreunde in der SPD. Johannes Rau, Annemarie
Renger, Hans Koschnick, Georg Leber, Walter Hesselbach zum Beispiel,
nicht aber, siehe die Belege in meinem Buch, Willy Brandt oder Helmut
Schmidt – und sicher nicht Gerhard Schröder.
Das Interview mit dem Historiker führte Ralf Balke.
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