Stationen

Samstag, 15. Dezember 2018

Es ist, wie es ist

Dan Diner ist ein brillanter Denker. Instabilität muss aber nicht automatisch gefährlich sein. Sie kann kreativ wirken. Mehr Kreativität und weniger Konformität durch Stabilität täte Deutschland gut. Geistiger Mehltau hat sich über Land und Leute gelegt. Es gibt intellektuell nichts Langweiligeres als die Berechenbarkeit von Gedanken. Die hat hierzulande einen kaum zu ertragenden Geistesmief geschaffen. Einer der wenigen, die deutsche Fenster aufstoßen und das deutsche Haus geistig lüften, ist Dan Diner.
Welche Folgen für die jüdische Gemeinschaft könnte der aktuelle Bedeutungsverlust der großen Volksparteien mit sich bringen?
Nicht die Parteien sind das Problem, sondern die Veränderungen in der Gesellschaft. Parteien sind meistens nur das Sprachrohr von Teilen der Gesellschaft, lateinisch »pars«. Daher das Wort Partei. Um von ihrer Teilgesellschaft gewählt zu werden, tritt die jeweilige Partei an und versucht, weitere Teile zu gewinnen. Unausgesprochen fragen Sie nach der AfD. Ja, in der AfD gibt es Antisemiten, aber auch solche, die keine sind, und sogar Juden. Man vergesse nicht, dass ein Drittel der französischen Juden 2017 Le Pen gewählt hat. Wer falsche Diagnosen erstellt, ist unfähig zur Therapie. Wer, wie auch ich, die Neue Rechte in ganz Europa bekämpft, sollte von der richtigen Diagnose ausgehen. Eine immer größere deutsche Teilgesellschaft wird die uns mehrheitlich leider nicht wohlgesonnene muslimische. Schon aufgrund ihrer im Vergleich zu uns Juden großen Zahl werden außer der AfD die übrigen Parteien Muslime umwerben. Ob das »gut für die Juden ist«, darf bezweifelt werden. Ich erwarte mittelfristig ohnehin die Gründung einer muslimischen Partei. Diese wird sich später spalten, in je einen gemäßigten und einen extremistischen Teil.
Die deutsch‐israelischen Beziehungen sind in den Bereichen Wirtschaft, Forschung und Wissenschaft oder Sicherheit enger denn je. Trotzdem scheint auf politischer Ebene eine gewisse Entfremdung stattzufinden. Ist das richtig?
Seit den frühen 80er‐Jahren ist das so. Nichts Neues unter der Sonne – um endlich eine jüdische Quelle zu zitieren. Hier reagiert die Politik auf die Gesellschaft und steuert auch hier nicht. Sie wird gesteuert.
In Ihrem aktuellen Buch »Friedenskanzler – Willy Brandt zwischen Krieg und Terror« thematisieren Sie dessen nicht ganz unproblematisches Verhältnis zu Israel und den Juden. Inwieweit strahlt das Erbe Brandts auf die heutige SPD noch aus?
Schon vor Brandt waren die SPD‐Veteranen, wie auch die späteren SPDler, keine Antisemiten, aber es missfiel ihnen, dass die meisten Juden liberale Parteien wählten. Und den Zionismus mochten sie eh nicht. Auch Brandt nicht. Seine größte Fähigkeit bestand darin, dass er das Gras in der deutschen Gesellschaft wachsen hörte – besonders bei den damals Jungen, den 68ern, die ab 1969 scharenweise in die SPD strömten. Die waren, freundlich formuliert, weder Juden‐ noch Israelfreunde. Ganz in deren Sinne verkündete Brandt intern schon am Anfang der SPD‐FDP‐Koalition, dass er eine Israelpolitik »ohne Komplexe« betreiben werde. Gesagt, getan. Ende 1970 hatten er und seine Regierung unendlich viel jüdisches und israelisches Porzellan zerschlagen. Der Kniefall am Warschauer Ghetto‐Mahnmal lässt viele vergessen, dass Brandt damals absichtlich keinen Juden mit nach Warschau nahm. Als Israels Existenz im Jom‐Kippur‐Krieg Spitz auf Knopf stand, verbot er den USA, für Israel lebenswichtige US‐Waffen aus der BRD nach Israel zu liefern. Der Beispiele sind im Buch viele. Freunde handeln anders. Das strahlt bis heute aus.

In meinem Willy‐Brandt‐Buch dokumentiere ich rund 100 Jahre SPD‐Politik gegenüber Juden und Israel und räume mit der Legende einer traditionellen, ungebrochenen Juden‐ und Israelfreundschaft der SPD auf. Es gab freilich ganz echte Juden‐ und Israelfreunde in der SPD. Johannes Rau, Annemarie Renger, Hans Koschnick, Georg Leber, Walter Hesselbach zum Beispiel, nicht aber, siehe die Belege in meinem Buch, Willy Brandt oder Helmut Schmidt – und sicher nicht Gerhard Schröder.
Das Interview mit dem Historiker führte Ralf Balke.

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